In Gottes Namen: Geht! – Ein Wutausbruch zur Europawahl

Den folgenden Text hab ich für den Ohrfunk geschrieben.

Guten Tag, liebe Politiker*innen!

Seid ihr heute nach der Europawahl mal wieder in einem völlig neuen Europa aufgewacht? Oder habt ihr euch auf die Schultern geklopft und stolz verkündet, dass ihr weniger verloren habt als die Anderen, dass ihr euch doch gut behauptet habt? Oder habt ihr pflichtschuldig mit den Zähnen geknirscht und versprochen, dass ihr aus den Fehlern der Vergangenheit lernen werdet, dass ihr demütig sein und die Entscheidung der Wähler*innen akzeptieren werdet, dass ihr euch noch mehr anstrengen werdet, klare, gerechte, kluge Politik zu machen? Ihr seht: Ich weiß genau, was ihr gesagt habt, obwohl ich die Nachrichten nicht gehört habe. Ihr sagt ohnehin immer dasselbe: Verloren hat niemand, höchstens ein Bisschen, und eine Kurskorrektur wird’s schon richten, man muss dem Volk nur mehr auf’s Maul schauen, seine Sorgen ernst nehmen, seine Wünsche respektieren.

Nein! Nein! Nein!

Ihr, liebe Politiker*innen, sollt dem Volk nicht auf’s Maul schauen. Denn was das Volk in seiner Wut und Verzweiflung, in seinem Dünkel und seinem Hass fordert, ist nicht einmal gut für es selbst, und das können die Rechten auch besser. Sie können Versprechungen machen, die sie nachher nicht halten. Sicher: Ihr tut das auch, aber mit weniger Glaubwürdigkeit! Ihr, liebe demokratische Politiker*innen, zumindest haltet ihr euch dafür, ihr müsst dem Volk auf den Bauch, das Herz und den Kopf schauen: Ist der Bauch gut gefüllt? Ist das Herz zufrieden und fühlt es sich wohl? Ist genug Wissen im Kopf? Das, verdammt noch mal, sind die Fragen, die ihr euch stellen müsst. Unmenschlich sein, um sich schlagen, Hass ausstreuen, das können die Faschisten besser, dafür braucht das Volk euch nicht.

Aber was rede ich: Ihr wollt ja gar nicht. Ihr wollt gar keine Verantwortung übernehmen, ihr machtgeilen Karrierist*innen, ihr gewissenlosen Manager und feigen Profiteure. Ihr habt das Land zu einem gemacht, in dem ein Krankenhaus eine Geldanlage und kein Teil der Daseinsvorsorge mehr ist. Ihr habt die Jugend entbildet, damit sie nur noch Roboten geht! Ihr habt das Geld den Managern in den Rachen geworfen, weil sie euch glauben lassen, sie wären näher an den Bedürfnissen des Volkes, und weil sie euch versprochen haben, euch die Verantwortung abzunehmen, auf dass ihr nie wieder schwierige Entscheidungen werdet fällen müssen. Ihr widert mich an!

Dass die meisten Menschen euch nicht mehr vertrauen, dass sie euch fortjagen wollen, kann ich gut verstehen, sehr gut sogar. Eure Persönlichkeiten sind austauschbar und nichtssagend, von Berater*innen gestylt und geformt, die sich damit noch eine goldene Nase verdienen. Persönlichkeit ist ebenso verpönt wie bei Radiomoderator*innen, damit nur ja keine Ecken entstehen und jemand abschaltet oder etwas Anderes wählt. Natürlich seid ihr klug genug um zu wissen, dass ihr und eure Vorgänger in den letzten 40 Jahren den Karren in den Dreck gefahren habt, seit Verantwortung durch Smartness und der New Deal durch den Neoliberalismus ersetzt wurden. Ihr wisst genau, was zu tun wäre: Reiche besteuern, gerecht besteuern, Arme entlasten, dann die Wirtschaft klimafreundlich umbauen, die Menschen bilden, die Staatsschulden ignorieren, weil sie ohnehin keine echte Größe sind, ihr habt sie nur dazu erklärt, um Banken eine weitere Einnahmequelle zu ermöglichen. Gemeinsam müsstet ihr euch gegen Hunger und Krieg in aller Welt engagieren, denn wenn ihr die Länder im Süden nicht mehr ausbeutet, kommen auch weniger Flüchtlinge her. Und wenn man heute hier von einem Knochenjob wieder leben könnte, wären auch die Rechten schwächer. Ihr wisst das alles, doch es ist euch egal. Ihr schachert so lange weiter, bis die Rechten da sind und euch die Verantwortung endlich abnehmen. Und dann? Nach mir die Sintflut. Ihr und die Reichen, ihr wisst längst, dass es den Klimawandel gibt. Ihr habt euch in der Arktis Luxusvillen und Privatstädte gebaut, genau wie in Brasilien und anderen Ländern, in denen ihr Menschen ausbeuten könnt.

Heuchler! Ihr wiegt nachdenklich die Häupter, legt eure Stirn in Sorgenfalten und denkt: Ich kann ohnehin nichts mehr ändern. Hoffentlich bleibt der Kessel noch ein paar Jahre ruhig. Keine Angst: Bevor es in Deutschland zu einer progressiven Revolution kommt, friert die Hölle zu.

Die Demokratie hätte uns die Chancen geboten, Kompromisse auszuhandeln, über langfristige Strategien zu debattieren und eine Einigung zu erzielen. Man hätte sich nur irgendwann trauen müssen, damit anzufangen, man hätte Mut zeigen müssen, Mut und Verantwortungsbewusstsein. Aber ihr wart feige und wolltet Macht und Geld, und ihr wolltet die Wirtschaft nicht stören, die Wirtschaftsbosse nicht aufregen. Keiner von euch hatte Mut. Und die Frau, die es versucht hat, auf ihre unbeholfene Weise, unsere Außenministerin Annalena Bärbock, wurde wegen mangelnder Professionalität in Grund und Boden verspottet.

„Was reg ich mich auf“, sagt der Kabarrettist Hagen Rether oft. Und er hat recht. Es ist doch alles klar. Und Oliver Cromwell sagte vor langer Zeit zum langen Parlament: „Ihr habt wahrlich lange genug hier gesessen. In Gottes Namen, geht!“

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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