Der Schmierfink, so möchte ich behaupten, ist der Journalist in der Karikatur. Vor ein paar Wochen habe ich ihn erlebt, in der „Welt“ und am Telefon.
Vor nicht ganz einem Monat, am 8. Oktober, fand in Erfurt eine große Demonstration statt. Angereist waren rund 5000 blinde und sehbehinderte Menschen mit ihren Freunden und Sympathisanten, um in Thüringen das einkommens- und vermögensunabhängige Landesblindengeld zu sichern. Die Landesregierung unter Dieter Althaus möchte nämlich den niedersächsischen Kollegen folgen und diesen Nachteilsausgleich abschaffen. Dabei übersieht sie, dass das Blindengeld zum Erwerb teurer Hilfsmittel oder Assistenz unbedingt erforderlich ist, sollen blinde Menschen künftig mehr und mehr am Leben der Gesellschaft teilnehmen. Die Demonstration verlief in guter Stimmung, und abgesehen von ein paar wenigen Parolen, die mir nicht gefielen, fand ich sie auch dem Anlass angemessen besonnen. Das Medienecho war leider sehr gering, und die Organisatoren werden sich darüber mit Sicherheit noch Gedanken machen müssen.
Ich weiß und wusste, dass wir in einem Klima des Sozialneids und der sozialen Kälte leben, mehr und mehr. Es ist ja auch kaum verwunderlich. Was aber dann am 15. Oktober in der renomierten Tageszeitung Die Welt stand, hat mich doch zunächst erstaunt, dann erschüttert, schließlich verärgert. Der politische Chefkorrespondent des Blattes, Herr Konrad Adam, verfasste eine Kolumne unter dem Titel: „Die Blinden mit dem scharfen Blick“. Darin erklärte er, er habe mit eigenen Augen gesehen, dass die Mehrzahl der Demonstranten auf der Kundgebung in Erfurt gar nicht blind gewesen sei. Die Sozialverbände, so erklärte er weiter, schickten immer die Schwächsten vor, um Vorteile für alle zu kassieren; Sie hätten ihren Namen nicht mehr verdient. Das Blindengeld, für das auf der Kundgebung demonstriert worden sei, und zwar mit den üblichen Mitteln des gewerkschaftlich organisierten Arbeitskampfes, sei so alt wie die Sektsteuer und ebenso zählebig. In der Zeit leerer Kassen müsse jeder seinen Anspruch auf Sozialleistungen begründen, und der Staat dürfe sich nicht wundern, wenn auch in Notzeiten von den Sozialverbänden immer mehr gefordert werde, denn der Staat habe ja immer freigiebig verschenkt. Eine Sehbehinderung sei mit Einschränkungen verbunden, aber kein Grund für das einkommens- und vermögensunabhängige Blindengeld. Das Wort Sozialschmarotzer ging mir als erstes durch den Kopf. Die Behauptung, wir würden unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Leistungen für uns einfordern, die uns gar nicht zustünden, war kaum erträglich. Dass Herr Adam sich mit der Lebens-, Hilfsmittel- und Assistenzsituation blinder und sehbehinderter Menschen gar nicht näher befasst hat, wie er später zugab, ist ein weiterer Hammer in dieser Angelegenheit. Er schrieb also herabwürdigend und hetzend von etwas, wovon er gar nichts verstand. Aber erschreckend war die systematische Disqualifizierung von Sozialleistungen zur Erreichung der Chancengleichheit aller Bürger, die ein grundgesetzliches Gebot ist. Dass ein Redakteur so etwas ungestraft und fast unkritisiert schreiben darf, hat mich sehr nachdenklich gemacht. Es zeigt, wie in einer Zeit der Krise auf dem Arbeitsmarkt und im Staatshaushalt, und in einer Zeit des gesellschaftlichen Aufruhrs und Umbruchs, der Sozialstaat sturmreif geschossen wird, von Journalisten wie von Vertretern der Arbeitgeberverbände durch ihre „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“. Dass diese Menschen dabei überaus kurzfristig denken, scheint ihnen gar nicht aufzugehen. Ohne Sozialsystem gibt es keine Binnennachfrage, oder nur wenig.
Was einen Journalisten wie Konrad Adam dazu trieb, einen solchen Artikel zu schreiben, war eine Frage, die ich mir fast sofort stellte, nachdem ich die Kolumne gelesen hatte. Ich sah mir die Internetseite der „Welt“ an, fand die Kontaktmöglichkeiten und fragte Herrn Adam, ob er zu einem Interview mit mir für Milina-Radio bereit sei. Er war einverstanden, und so führte ich mit ihm ein telefonisches Interview. Er bestätigte, dass er eine Pauschalleistung für Blinde ablehne, sie müssten ihren Bedarf begründen. Das scheint logisch zu klingen, ist es aber nicht. Die Blindheit ist die Bedarfsbegründung an sich, und die lässt sich nicht wegdiskutieren. Abgesehen davon muss ein blinder Mensch seinen Anspruch sehr wohl begründen, denn er muss ja einen Antrag stellen, und der wird überprüft. Konrad Adam erklärte, dass er nur bereit wäre, für seine Frau und seine Kinder Unterhalt zu zahlen. Alle anderen, die auf seine und anderer Leute Kosten leben wollten, müssten eine Begründung vorlegen, die das rechtfertige. Wieder der Vorwurf des Schmarotzertums. Natürlich will niemand von uns durch das Blindengeld auf Kosten anderer Menschen leben, denn zum Lebensunterhalt ist das Blindengeld gar nicht da. Hilfsmittel, Bücher, Taxifahrten und Assistenz sind teuer genug. Da braucht man nicht auf den Lebensunterhalt abzustellen.
Sicher lässt sich sachlich über die Höhe des Blindengeldes diskutieren. Die Verbände haben hier Gesprächsbereitschaft angekündigt. Auch Blinde Menschen sind bereit, ihren Teil beizutragen, um die Situation in unserem Lande besser zu machen. Es darf aber nicht so weit gehen, dass uns die Grundlage für eine Teilhabe an der Gesellschaft entzogen wird! Herr Adam, der mir im Telefoninterview zugab, dass er sich nicht näher mit der Situation blinder Menschen befasst hat, schürt mit dieser Kolumne Emotionen gegen behinderte, vor allem blinde Menschen. Und das tut er ohne Not und ganz bewusst. Deshalb muss man seinen Worten scharf entgegentreten. Dass er dabei auch noch ethische Grundsätze seiner Berufszunft verletzte, steht auf einem anderen Blatt und müssen Andere dazu nutzen, dagegen etwas zu unternehmen!
Copyright © 2005, Jens Bertrams.
Ich wurde zufällig durch kobinet auf diesen schlimmen Hetzartikel aufmerksam. Es ist für mich nach wie vor undenkbar, dass dieser Artikel gedruckt wurde!
Und nun stellt Euch mal vor, dass wir Hamburger auf diese Lokalpresse angewiesen sind. Sonst haben wir nur die Hamburger Schlaftablette, und Boulevard BILD und Boulevard MoPo. Ich persönlich habe zwar meinen Spaß an Boulevard, aber der Mensch braucht doch auch eine Lokalzeitung !
Viele
Grüße
Christian
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