Gestern, am 25.09.2009, habe ich den folgenden Wahlaufruf im Ohrfunk veröffentlicht. Ursprünglich hatte ich den Text, der jetzt „Stopp Schwarz-Gelb“ heißt, als Wahlaufruf benutzen wollen, stellte aber dann doch fest, dass er vielleicht doch nicht ganz so geeignet war, wie die Debatte in diesem Blog zeigt.
Liebe Hörerinnen und Hörer!
Kennen Sie das auch? Kurz vor der Wahl sagen Ihnen viele Politiker, dass es jetzt genau auf Ihre Stimme ankommt. Sie sind der Souverän, Sie haben die Macht, oder genauer, von Ihnen geht alle Staatsgewalt aus. Und wissen Sie was? Diese Politiker haben recht. Man mag es kaum glauben, weil sie auch sonst viele Dinge sagen, die zumindest sehr zweifelhaft sind, aber in diesem Falle haben sie einfach recht. Natürlich haben Sie die Macht nicht allein, sondern Sie teilen sie sich mit rund 62 Millionen anderen Menschen. Deshalb mögen Sie glauben, dass Ihre einzelne Stimme bei einer Wahl nichts bewirkt, wenn nicht alle Anderen auch wählen gehen. Das Dumme ist nur, dass viele Andere genau so denken, und deshalb erfüllt sich Ihre Voraussage. Wenn aber den Menschen etwas unter den Nägeln brennt, dann werden sie auch motiviert und gehen wählen. Die Amerikaner haben letztes Jahr einen historischen Wechsel geschafft, und obwohl Barack Obama es auch heute noch schwer hat, seine Politik durchzusetzen, wurde bereits viel erreicht. Viele Amerikaner wachen mit einem ganz anderen Gefühl auf, sie wissen, dass sie etwas bewegen können. Sie haben auf die Krise reagiert, sie haben angefangen, etwas zu verändern. Und obwohl sie immer noch einen langen Atem brauchen, geht vieles doch leichter, wenn man das Gefühl hat, nicht allein zu sein und Teil einer großen Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen. Und vor 20 Jahren war es Zivilcourage in ganz Ost- und Mitteleuropa, die für wichtige Veränderungen gesorgt hat, der Mut einzelner Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben. Es reicht nicht aus, unzufrieden zu sein und zu jammern, wie es hier in Deutschland so oft geschieht, man sollte und man kann etwas tun. Wenn man nicht wählt, wird sich nichts ändern. Aber jeder Einzelne von uns hat die Wahl. Wir müssen nicht mit den Parteien leben, die uns nicht gefallen, es gibt genug Alternativen. Es gibt Parteien, die nicht geradewegs in den Überwachungsstaat marschieren oder die soziale Sicherheit der Bürger den Gesetzen des Marktes opfern wollen.
Wenn ich mich mit meiner Familie über Politik unterhalte, schlägt mir eine Welle des Frusts entgegen. Ein Frust, der nicht mal Desinteresse ist, aber aus tiefster Perspektivlosigkeit geboren wurde. Da ist die Frührentnerin, die dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung steht. Da ist der junge Mann, der mehrere Ausbildungen abgebrochen hat und jetzt Zeitungen austrägt und weiß, dass er mit seinen Schulnoten keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hat. Seine Schwester hatte zwar relativ gute Noten, schaffte aber im ersten Anlauf ihre Wunschausbildung nicht und kommt jetzt nicht mehr in Lohn und Brot. Sie alle glauben, dass es keinen Sinn hat, wählen zu gehen. Aber nach jeder Wahl regen sie sich darüber auf, dass ihre Situation nicht besser wird. Und wenn sie dann wählen, dann die rechten Parteien, weil sie den Regierenden einen Denkzettel verpassen wollen. Dabei ist es durchaus möglich, Parteien zu finden, die sich ihrer Sorgen annehmen, und zwar unter den demokratischen Parteien. Sie mögen klein sein, aber sie haben Idealismus. Und jede Stimme, die sie erhalten, selbst wenn sie nicht in den Bundestag einziehen, ermöglicht es ihnen, durch die staatliche Parteienfinanzierung den nächsten Wahlkampf vorzubereiten und ihre Projekte zu finanzieren.
Jeder von uns kann freier atmen, wir können, wie Stefan Heym es einmal im Bezug auf die DDR sagte, die Fenster aufreißen und frischen Wind durch unser Land wehen lassen, wenn wir uns nicht immer von den Politikern abschrecken lassen würden. Sie erklären uns alle vier Jahre auf dieselbe, gebetsmühlenartige Weise, wie mächtig wir sind, nur um uns dann während der Wahlperiode vom Gegenteil zu überzeugen. Dabei haben sie recht, viele von uns haben nur den Glauben daran verloren. Aber das können Sie ändern! Gehen Sie in den Ortsverein Ihrer Partei, oder besuchen Sie mehrere Parteien und entscheiden Sie sich, welche für Sie etwas taugt! Gehen Sie auf die Straße, wenn Sie zeigen wollen, dass Sie mit der Politik unzufrieden sind, setzen Sie sich nicht in die Ecke und lassen alles über sich ergehen. Sie sind es, der die Macht hat, etwas zu bewegen. Sicher, dafür müssen Sie mit anderen Menschen zusammenarbeiten, gemeinsam etwas organisieren. Aber wenn Sie das tun, wird es Ihnen Auftrieb geben. Mischen Sie sich ein, nicht nur vor der Wahl, sondern zu jeder Zeit, zu allen aktuellen politischen Fragen. Je mehr Leute sich einmischen, desto weniger können die Politiker das tun, was so viele Menschen an ihnen verurteilen, nämlich über unsere Köpfe hinweg regieren. Je mehr Wissen Sie über politische Vorgänge haben, desto weniger kann man Sie täuschen. Und es gibt auch Parteien, die wirklich auf den mündigen Bürger wert legen. Wählen Sie eine solche Partei, die sich auch für eine verbesserte Bildung einsetzt, und Ihre Kinder sind bereits wieder viel politischer. Barack Obama hat uns gezeigt, dass Veränderung durch den Willen des Volkes möglich ist. Folgen wir seinem Beispiel. Daher bitte ich Sie, gehen Sie am Sonntag zur Bundestagswahl und gestalten Sie aktiv die Politik in Deutschland mit.
© 2009, ohrfunk.de
Autor: Jens Bertrams
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