Wenn alle sich erinnern, dann will ich nicht abseits stehen. Es sind die Erinnerungen an eine Zeit, in der ich mich als jungen Linken bezeichnet hätte. Und aus meiner Sicht klingt die Geschichte vom Ende des kalten Krieges vielleicht ganz anders, als aus dem Mund der Helden von damals.
Seit ich politisch denken konnte, und das reichte weit in meine frühe Kindheit zurück, war ich ein Anhänger Helmut Schmidts gewesen. Als ich mit 8 Jahren begann, mich für Politik zu interessieren, im Herbst 1977 während des deutschen Herbstes war das gewesen, war er Bundeskanzler. Und Bundespräsident war Walter Scheel. So kam es, dass mich meine Mutter einmal fragte, welche Partei ich gut fände. Im Brustton der Überzeugung sagte ich: „Die FDP.“ Mir gefiel die Stimme Scheels, und darum nannte ich ganz selbstverständlich seine Partei. Ich war mit der sozialliberalen Koalition aufgewachsen, war wenige Monate vor ihrem Amtsantritt geboren worden, und als sich 1982 die Wende abzeichnete, war das für mich eine gewaltige Umwälzung. Die FDP betrachtete ich als Verräter an der gemeinsamen Sache, von ihrem Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher war ich zutiefst enttäuscht. Der gestürzte Helmut Schmidt war mein Vorbild, und ich hielt auch noch zu ihm, als er trotz Millionenprotesten den NATO-Doppelbeschluss verteidigte.
Aber dann geschah etwas, was mich langsam aber sicher nach links drängte. Am 11. März 1985 wurde Michail Gorbatschow neuer sowjetischer Generalsekretär. Und schnell wurde klar, dass er die Gesellschaft umbauen und ein besseres Verhältnis zu den Staaten des Westens herstellen wollte. Der konservative US-Präsident Ronald Reagan zeigte ihm lange die kalte Schulter. Das konnte ich nun gar nicht verstehen: Da bot sich die Chance zum friedlichen Ende des Wettrüstens, des kalten Krieges und der Angst vor einem Atomschlag, und die USA wehrten sich mit aller Macht dagegen, die ausgestreckte Hand der sowjetischen Führung anzunehmen. Mit Spannung und sehr großer Sympathie beobachtete ich die Entwicklung in der Sowjetunion, und ich hielt die US-Regierung nach und nach für vollkommen reaktionär. Als im März 1988 bei der letzten Sendung des rechtsgerichteten ZDF-Magazins Helmut Schmidt und Rainer Barzel einträchtig über vergangene Zeiten plauderten, schrieb ich für meinen Freundeskreis einen Artikel, in dem ich Schmidt unter Anderem wegen des NATO-Doppelbeschlusses und seiner antisozialistischen Haltung in der Nikaragua-Krise stark kritisierte. Stattdessen war Michail Gorbatschow so etwas wie mein neues Idol auf der politischen Bühne geworden. Der Krieg in Afghanistan wurde beendet, und in Polen zeigte sich deutliche Entspannung durch die Wiederzulassung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc. Ich bewunderte Gorbatschows Mut und hoffte, das alles würde nicht nach hinten losgehen, denn es zeigten sich die ersten Nationalitätenkonflikte in der Sowjetunion. Und in der DDR zog sich die alte Garde der SED-Führung überhaupt nichts von dem an, was im Lande des „großen Bruders“ Sowjetunion vor sich ging. Natürlich wurden die Menschen unzufrieden, natürlich stieg der Druck auf die DDR-Führung, aber Erich Honecker hatte im Januar 1989 noch einmal deutlich gesagt, dass die „berliner Mauer“ und die innerdeutsche Grenze in hundert Jahren noch stehen würden.
Als es nach den natürlich gefälschten Kommunalwahlen in der DDR am 6. Mai 1989 zu Protesten kam, erst ganz leise, dann immer lauter, horchte ich auf. Sollte jetzt die Politik der „Offenheit“ und der „Umgestaltung“, die Gorbatschow seit 3 Jahren propagierte, auch in der DDR Einzug halten? Es sah eigentlich nicht danach aus. Ab August flüchteten immer mehr Menschen in die bundesdeutschen Botschaften in Ost-Berlin, Prag, Warschau und Budapest. Ich fand es geradezu umwälzend, dass Ungarn ab dem 10. September 1989 die Grenze nach Österreich öffnete, und ich hoffte sehr, dass auch die Menschen in der DDR davon profitieren konnten.
Aber, und damit kommen wir endlich auf den Punkt, mir schwebte nicht das Ende der DDR vor. Ich war ein Kind des geteilten Deutschlands. Irgendwie empfand ich die DDR zwar nicht als Ausland im üblichen Sinne, im Gegensatz zu Österreich beispielsweise, wo man ja auch deutsch sprach, aber ich empfand sie als gesellschaftliche und politische Alternative zur Bundesrepublik. Mein Gedanke war, dass wenn die SED-Führung hinweggefegt werden könnte, und zwar durch die DDR-Bürger selbst, eine Möglichkeit bestünde, ein sozial gerechteres Land mit eigenen Idealen aufzubauen, der BRD in Freundschaft verbunden, und dass es vielleicht gelingen könnte, sich gegenseitig zu befruchten, voneinander zu lernen. Natürlich musste Reisefreiheit her, natürlich musste eine Mehrparteienlandschaft geschaffen werden, aber die politischen Ideale mussten sich doch nicht zwingend wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterordnen? Wenn man selbst für einen Staat kämpfte, der nicht diktatorisch geführt wurde, so dachte ich damals, würde man auch versuchen, ihn so zu erhalten, gespeist von den Erfahrungen von 40 Jahren Diktatur und Entmündigung, aber versehen mit den positiven Idealen von Völkerverständigung, Nachbarschaftshilfe, und ohne die furchtbaren Auswüchse ungezügelten Kapitalismus. Eine Art friedliches, sozialdemokratisches Utopia schwebte mir vor. Natürlich war ich alt genug, um zu wissen, dass es ein Utopia nicht gab. Aber was wäre schlimm daran, wenn die von der SED befreite DDR diesem Ziel näher sein würde als die von Helmut Kohl geführte BRD? Sicher: Vorerst hielt die SED trotz Protesten und Fluchtwelle an ihrer eisernen Führung fest. Ich fand es mutig und wunderbar, wie sich das Neue Forum gründete und trotz angedrohter Repressalien so viel Zulauf erhielt. Genau dieses mutige Engagement war es, das mich hoffen ließ, eine sozialistische Alternative zur BRD könnte sich etablieren.
Und dann dieser Samstagabend, der 30. September 1989. Es war eine positive Meldung für einige tausend DDR-Bürger in Prag und Warschau, denn sie konnten in die Bundesrepublik ausreisen. Wieviel Hoffnung sich mit dieser Ausreise verband, hörte ich bei dem winzigen Ausschnitt der Tagesschau, der seither in allen Medien immer wieder herangezogen wurde, um typische Szenen der Wende zu beschreiben. Hans-Dietrich Genscher und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters auf einem Balkon der prager BRD-Botschaft, tausende DDR-Bürger im Garten, auf der Treppe zum Botschafterbüro und in allen Gebäuden. Riesige Zelte des roten Kreuzes, campierende Menschen, unhaltbare sanitäre und hygienische Zustände. Und dann der Halbsatz: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“ Die Worte „… möglich geworden ist“, gingen im frenetischen Jubel und Beifall der erleichterten Menschen unter. Wer wirklich nachgedacht hätte, der hätte es wissen können. Die meisten Menschen wollten raus aus der DDR, sie wollten dem Staat entkommen, „rüber in den Westen machen“. Es ging darum, Reisen zu dürfen, den Wohlstand des Westens zu teilen. Man konnte es ihnen nicht verübeln, aber dass sie nicht den Wunsch hatten, eine sozialistische Alternative aufzubauen, war klar. Dieser Wunsch lebte in einer Minderheit derer, die zurückblieben, jetzt die Proteste organisierten, aber nach der Wende keine Rolle mehr spielten. Jetzt, ohne Alternative, folgten die Menschen diesen Leuten, sie boten eine politische Plattform an. Aber wenn der Weg in den Westen einmal frei war, wer wollte sich dann noch mit einem anderen Staat, einem anderen Sozialismus befassen?
Aber damals habe ich das nicht erkannt. Ich weiß noch, dass ich froh war für die Menschen, die ausreisen durften. Gleichzeitig habe ich abgelehnt, wie Hans-Dietrich Genscher sich da in Szene setzte. Und ich habe mich gefragt, ob die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge der DDR-Führung die erwünschte Erleichterung verschaffte. Jetzt die Grenzen zumachen, dachte ich, und das Problem wäre erledigt. Angesichts der blutigen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung im Juni 1989 durch die Armee hatte ich nicht die Hoffnung, dass innerer Druck in der DDR eine Umwälzung der Verhältnisse bewirken könnte, ich fürchtete vielmehr ein Blutbad. Denn Chinas Vorgehen war von der DDR-Führung ausdrücklich gelobt worden. Und der 40. Jahrestag der DDR-Gründung stand bevor…
Obwohl die DDR versuchte, den Reiseverkehr mit den anderen sozialistischen Staaten zu unterbinden, schafften es immer wieder Menschen, in die Botschaften der BRD zu gelangen. und seit dem 4. September 1989 gab es in der DDR jeden Montag Demonstrationen für mehr Demokratie und Reisefreiheit. Zwar war die Zulassung des Neuen Forums abgelehnt und dessen Mitglieder als Verfassungsfeindlich bezeichnet worden, doch immer mehr Menschen unterzeichneten trotzdem den Gründungsaufruf. Es waren interessante Zeiten damals.
Hätte mir jemand am 30. September 1989 gesagt, dass ein Jahr später die Wiedervereinigung begangen werden würde, hätte ich ihn für einen Spinner gehalten. Und irgendwie wäre diese Wiedervereinigung auch nicht das gewesen, was ich mir vorstellte. Als es aber dann ein Jahr später so weit war, habe ich sie begrüßt. Doch davon will ich euch in einem anderen Posting erzählen. 🙂
© 2009, Jens Bertrams.
Schön, mal wieder so einen persönlichen Rückblick zu lesen und sich zu erinnern, was da eigentlcih so genau war. auch für mich war es unvorstellbar, daß es die DDR einmal nicht mehr geben würde, und ich hatte die gleichen utopischen vorstellungen wie du. Nur hatte ich die auch 1990 noch und begrüßte die wiedervereinigung nicht wie Du. Auch ich habe glaube ich unterschätzt, wie sehr die Leute raus wollten, raus aus ihrem land, den Wohlstand des Westens genießen. Irgendwie natürlich vielleicht zum Teil die Naivität des Menschen mit mehr Wohlstand. Obwohl das für unsere Familie eigentlich auch nicht galt. Und die ehemaligen DDR-bürgerInnen haben dann zum Teil ja auch schmerzlich mitkriegen müssen, daß hier auch nicht alles gold war, was glänzte… Manchmal denke ich immer noch, daß einige von ihnen zugunsten eines Wohlstandes,den sie dann nicht bekamen, ihre Ideale verkauft oder gefährdet haben, und ich hoffe, daß manche sie sich auch hier im Westen bewahrt haben. Aber was wilssen wir eigentlich schon, auch 20 Jahre später noch, über das alltagsleben von DDR-BürgerINnen? ich meine die meisten noch viel zu wenig. – ich auf jeden Fall. ich freue mich immer, wenn da Gespräche zustande kommen, die den Raum zwischen Utopie, Vorurteil und Kitsch mit etwas mehr Wahrheit auffüllen können.
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Lieber Jens,
ein politischer Witz von Wolfgang Neuß aus den frühen 60er Jahren veranschaulicht wahrscheinlich meine Position zur Wiedervereinigung, bis sie 1989 dann völlig unerwartet doch nochWirklichkeit wurde:
Es gibt dreie Eigenschaften, von denen jeweils zwei die dritte ausschließen. Das sind Intelligenz, Ehrlichkeit und Wiedervereinigungsgläubigkeit: Entweder ist man intelligent und ehrlich. Dann ist man nicht wiedervereinigungsgläubig. Oder man ist intelligent und wiedervereinigungsgläubig. Dann ist man nicht ehrlich. Oder man ist ehrlich und wiedervereinigungsgläubig. Dann ist man nicht intellligent.
Traf das seinerzeit noch wirklich zu, so wurde es in den 70er und frühen 80er Jahren so klar, dass eigentlich niemand mehr an die Wiedervereinigung glaubte. Nur in Sonntagsreden taten manche Politiker noch so, als seieen sie es.
Auch nach der Wende müssen manche furchtbar in Sorge gewesen sein, über das und die, die da auf sie zukamen. Schließlich waren das ja Leute, die ein starres Regime hinweggefegt hatten!
Was mich dann vor allem sehr betrübt hat, war die Art des Anschlusses: Kein Volksentscheid über eine neue gemeinsame Verfassung, wie eigentlich im Grundgesetz vorgesehen, sondern der „Anschluss“. Die Entwürfe des „Runden Tischs“ der DDR für eine neue Verfassung verschwanden einfach im Orcus der Geschichte.
Man sieht daran ziemlich deutlich, dass das Geld die Welt regiert: Hatte die DDR erst einmal die D-Mark, so hatte die D-Mark damit zugleich auch die DDR. Begonnen hatte das bürigens mein beleibter Namensfetter aus Bayern mit seinem Milliarden-Kredit, den er der DDR damals vermittelt hatte.
Übrig geblieben ist bei mir Respekt für die, die sich mutig trotz aller Drohungen auf die Straße gewagt haben, wenngleich es für manche vielleicht der Mut der Verzweiflung gewesen sein mag. Übrig geblieben ist die Freude über die Freiheit der Menschen im Osten, die nun reisen können, und die Freude darüber, dass auch wir vom Westen nun einfacher – ohne die ganzen Schikanen – dorthin reisen können. Geblieben ist aber auch Enttäuschung über eine verpasste Chance: Ein neues Deutschland wäre damals vielleicht möglich gewesen ohne das soziale Unrecht, sondern mit mehr Sozialer Gerechtigkeit.
fj