Diese erste Einschätzung nach dem ausführlichen Studium der Pressemitteilung des Gerichts habe ich für ohrfunk.de geschrieben und dort veröffentlicht. Sie kommt zu einem eher negativen Ergebnis für Betroffene.
Nun ist es also raus: die Hartz-IV-Regelsätze sind verfassungswidrig. Sie müssen neu bestimmt werden. Über 7 Millionen Betroffene haben auf das Urteil gewartet, und die Medien überschlagen sich geradezu. Wenn der Rauch sich gelegt hat, bleibt eine große Enttäuschung übrig. Das Urteil ist ein bitterer Schlag ins Gesicht derjenigen, die wegen der verfehlten Sozial- und Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte an der Armutsgrenze leben müssen. Im Grunde genommen nämlich sind die Hartz-IV-Regelsätze nicht zu niedrig, man muss es nur besser begründen. Von jetzt an leben wir in einem Land, das eine gemessen an seinem Reichtum himmelschreiende Armut hinnimmt. Wir leben in einem Land, in dem sich Sozialverbände durch eine formelle Verfassungswidrigkeit der Regelsätze Sand in die Augen streuen lassen, und wir leben in einem Land, in dem auch künftig die Tafeln für Erwachsene wie Kinder zum Alltag gehören werden.
In den letzten Wochen war Aufbruchsstimmung zu verspüren, es schien, als warteten alle mit Spannung darauf, dass die Politik eine Ohrfeige durch das Gericht erhielt. So ähnlich titelten auch die ersten Zeitungen unmittelbar nach der Veröffentlichung des Urteils durch das höchste deutsche Gericht. Aber es ist nur eine Ohrfeige in abstraktem Sinn.
Der Gesetzgeber muss hilfsbedürftigen Menschen ohne wenn und aber die materiellen Mittel zur Verfügung stellen, die neben der Achtung seiner Würde für das physische Existenzminimum und ein Mindestmaß an Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben notwendig sind. Dieses Recht muss durch den Gesetzgeber konkretisiert und ständig angepasst werden, wobei die grundsätzlichen Lebensbedingungen zu berücksichtigen sind. Sollte Deutschland also jemals ein Billiglohnland werden, können auch die Regelleistungen absinken. Aus der Verfassung lassen sich keine konkreten Ansprüche auf eine bestimmte Leistungshöhe herleiten, aber der Gesetzgeber muss realitätsnah die notwendigen Aufwendungen für ein Existenzminimum berechnen und konkret gewährleisten. Dazu muss er ein Berechnungsverfahren anwenden, das sich am tatsächlichen Bedarf orientiert und in jeder Hinsicht nachvollziehbar und überprüfbar ist. Das ist bei den jetzigen Berechnungsverfahren nicht der Fall, sagte das bundesverfassungsgericht. Bis Ende des Jahres müssen Bundesregierung und Bundestag ein neues Berechnungsverfahren nach den Grundsätzen des Urteils ausarbeiten und in kraft setzen.
So weit, so gut. Ein positives Ergebnis ist, dass zum menschenwürdigen Leben eben nicht nur das nackte physische Überleben, sondern auch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher, kultureller und politischer Teilhabe gehört, wie auch immer der Gesetzgeber dies definieren wird. Schlimm sind die konkreten Aussagen, die das Gericht getroffen hat. Dass sich eine bestimmte Regelsatzhöhe nicht direkt aus dem Grundgesetz ergibt, kann ich noch nachvollziehen, und dass sich das Bundesverfassungsgericht selbst Zurückhaltung bei der Bewertung der Entscheidungen von Regierung und Bundestag auferlegt, verstehe ich auch. Politik sollte von Parlament und Regierung gemacht werden, nicht vom Gericht. Darum hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass es selbst nur eingreifen würde, wenn die Regelsätze nach Hartz IV „evident unzureichend“ wären. Nun hatte das Gericht die Chance, genau dies festzustellen, also materiell eine Entscheidung zu treffen, dass die jetzigen Regelsätze für ein menschenwürdiges Leben, wie das Gericht es fordert, nicht ausreichen. Stattdessen steht deutlich in dem Urteil, dass das Gericht die Höhe der Hartz-IV-Regelsätze in keinem Fall für evident unzureichend hält, nur für nicht gut begründet und berechnet. Die heutigen Regelsätze sichern, so das Gericht, das physische Existenzminimum hinreichend ab, und bei der sozialen Seite des existenzminimums hat der Gesetzgeber einen großen Spielraum, und es bleibt ihm überlassen, wieviel er in dieser Hinsicht auszahlt. Das Bedarfsgemeinschaften und Ehepartner weniger Regelleistung bekommen, ist für das Bundesverfassungsgericht auch in Ordnung, da gemeinsames Wirtschaften billiger sei. Sogar die geringe Regelleistung für Kinder ist nach dem Urteil vollkommen ausreichend, vor allem im Hinblick auf Ernährung und Bekleidung. Wenigstens stellt das Gericht aber fest, dass die speziellen Anforderungen von Kindern in der Schule und im Wachstum nicht berücksichtigt worden sind, und dass dies nachgeholt werden muss. Geht es nach unserer Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, dann bedeutet das aber nicht zwangsläufig höhere Geldleistungen, sondern kann sich auch in Sachleistungen wie einem warmen Essen an der Schule ausdrücken. Das Bundesverfassungsgericht ist nach eigener Aussage nicht befugt, selbst gestaltend auf die Höhe der Regelleistungen Einfluss zu nehmen, solange diese nicht evident unzureichend sind. Das ist hier nicht der Fall. Somit werden wir uns darauf einstellen müssen, dass die Bundesregierung frech eine neue Bewertungsgrundlage festlegt, die – oh Wunder – zum selben Ergebnis kommt wie bislang. Und bis das wieder jemand bis vors Bundesverfassungsgericht durchgeklagt hat, vergehen Jahre. Wer in unserer Gesellschaft die Leistungsträger sind, um die man sich kümmern muss, und wer die, die man schon per Gesetz unter den Generalverdacht des Missbrauchs staatlicher Leistungen stellt, ist bei dieser und den Vorgängerregierungen ja hinreichend bekannt. Da eine Erhöhung der Regelleistungen zur Erreichung des menschenwürdigen Daseins ja nicht zwingend erforderlich ist, wird es diese Erhöhung auch nicht geben, denn das würde den Bundeshaushalt belasten. Mehr Geld für Bedürftige auszugeben, dafür ist sich unsere Regierung allerdings zu schade. Stattdessen sind Steuergeschenke an Hoteliers und andere Großunternehmer zu leisten, die ebenfalls ein Loch in den Haushalt reißen. Ein Loch, das allein in diesem Jahr nach Expertenschätzungen 50 Milliarden Euro betragen wird. Auf dieses Geld verzichtet der deutsche Staat ohne Not. Im besten Fall tut er das im naiven Glauben, das Geld werde wieder in die Wirtschaft investiert, um Arbeitsplätze zu schaffen. Ich glaube allerdings, man täte der Intelligenz unserer Politiker unrecht, wenn man dies ernsthaft annehmen würde.
© 2010 Jens Bertrams