Adventskalender 2 – Winter am See

Den folgenden Text habe ich vor einem Jahr geschrieben, er gehörte zu einem persönlichen Adventskalender, aber in diesem Jahr veröffentliche ich ihn auch einfach als harmlose kleine Geschichte auf diesem Blog.

Es war ein grauer und stiller Tag kurz vor Weihnachten 1982. Die Luft war trocken, Schnee gab es hier in der Nähe des Wassers selten. Ich stand an einer kleinen Bucht des Sees, der nur wenige Meter von unserem Ferienhaus in Holland entfernt lag. Die Bucht zog sich wie ein dünner Finger weit ins Land hinein. Sie war nur rund 15 Meter breit. Ich stand auf der einen Seite, Helmut, mein Freund, auf der anderen Seite mir gegenüber. In der Stille klangen unsere Zurufe laut. Zwischen uns war die Oberfläche des Sees zugefroren, und das schon seit einigen Tagen. Helmut hatte einen Hammer dabei, den er mir über die glatte Eisfläche zuwerfen wollte, und ich sollte ihn dann wieder ihm zuwerfen. Auf dem Eis, so rechneten wir uns aus, würde er zum anderen Ufer hinüberschlittern. Ich war ganz aufgeregt, würde sich doch nun eine Frage beantworten, die ich mir schon seit einigen Jahren stellte: Wie klingt ein Objekt, das man aufs Wasser wirft? Macht es klirr und titscher-titscher-titscher-dirr, wie es in dem Wintergedicht von Christian Morgenstern heißt? Sicher: Unser Hammer war kein Kieselstein, aber dafür konnte man ihn dann besser hören.

Ich wartete gespannt. Schließlich schleuderte Helmut den Hammer, und er kam auf dem Eis auf und rutschte bis vor meine Füße. Das Geräusch klang in meinen Ohren wie ein, ich kann es nicht anders sagen, wie ein zu Stein gewordenes Gluckern. Kein Klirr, nur ansatzweise ein titscher, aber deutlich ein dirr, langgezogen und gut vernehmlich. Ich nahm den Hammer auf und warf ihn sozusagen von unten herauf auf die spiegelnde Eisfläche. Und nun geschah, was geschehen musste. Der Hammer kam zu früh auf dem Eis auf, hatte nicht genug Schwung und wurde abgebremst. Mitten auf der Eisfläche, ganz weit, ganz weit auf dem See draußen, blieb er liegen. Da war guter Rat teuer. Helmut machte sich auf den Weg zu mir um die Bucht herum, und wir beratschlagten, was wir jetzt machen sollten. Schließlich entschlossen wir uns, auf eigenen Sohlen hinauszugehen, um den Hammer wieder zu holen. War das Eis dick genug, war es alt genug?

Es war für mich das erste mal, dass ich hinaus ging auf das Eis. Ich war überrascht, dass es nicht im eigentlichen Sinne glatt war, man konnte relativ gut darauf laufen, wenn man Schuhe mit gutem Profil trug. Wir mussten eine Strecke von ungefähr 10 Metern zurücklegen, um den Hammer zu ergreifen. Wir hatten vielleicht 5 oder 6 Meter hinter uns gebracht, da hörten wir ein vereinzeltes leises Klicken oder Knacken. Ich erschrak, aber Helmut meinte, noch sei das Eis fest. Doch schon im nächsten Moment, wir waren nur einen Schritt weiter gegangen, vernahmen wir ein leises, aber lang anhaltendes Ächtzen, als sagte jemand leise: öööääähhh! Es war, als würde der See schicklich aufstoßen wollen. Um uns herum bildeten sich kleine Risse im Eis, und Helmut beobachtete dies einen Augenblick fasziniert und erzählte mir, was er sah: Irgendwo war das Eis gesprungen, und es bildeten sich immer mehr Verästelungen, und schließlich standen unsere Schuhsolen in Wasser. Das war der Moment, in dem wir uns aus unserer Starre lösten und langsam aber zielsicher den Rückweg antraten. Plötzlich, als wir fast am Ufer waren, knackte es hinter uns. Und als Helmut sich umwandte, nachdem wir sicher und weitgehend trockenen Fußes wieder auf festem Boden standen, sagte er: „Der Hammer ist im See versunken.“

Das war in meinem ersten Jahr in Holland, und wir haben viele Dezember dort verbracht. Unvergesslich wird mir die einzige Mitternachtsmesse meines Lebens sein, die ich mit meiner Mutter 1988 in der Kantine unseres Campingplatzes erleben durfte. Viele Leute waren gekommen, die ihre Ferien hier verbrachten, es herrschte eine anheimelnde, fast familiäre Atmosphäre. Auf der Bühne, auf der es sonst musikalische Darbietungen gab, war der Stall aufgebaut. Ein Ehepaar mit Baby verkörperte die heilige Familie, und während der ganzen Messe meldete sich hin und wieder eins der zwei Schafe, der Esel oder das Pferd, denn ich glaube, einen Ochsen hatten sie nicht mit in die Kantine gebracht. Die Tiere waren freundlich und zutraulich, man hatte ihnen genügend Gras und Stroh gegeben, und meine Mutter erzählte, dass sie sich offensichtlich wohl fühlten. Wie die Hirten oder andere Nachbarn oder Anwohner von Bethlehem fühlten wir uns, wie Menschen, die an einem tief friedlichen und erhabenen Augenblick teilhaben durften. Wenn jetzt aus dem Himmel ein Engel gestiegen wäre, um uns die Weihnachtsbotschaft zu verkünden, es hätte mich nicht sonderlich überrascht. Diese Kraft haben wir gebraucht, als mein Vater 2 Wochen später unerwartet starb.

Kalt und Grau war auch dieser letzte Dezembertag am See. Der erste Advent vor 5 Jahren. So kalt, dass die Eichhörnchen sich ihren Vorrat im Rohr des alten Staubsaugers angelegt hatten. Oder waren es Mäuse? So grau, dass man das Gefühl hatte, durch Watte zu gehen, durch Watte zu sprechen, in Watte zu leben. Und doch: Irgendwo tief in unseren Herzen wussten wir, dass wir nicht für immer weggehen würden. Dort am See war ein Ort, wo man die Weihnachtstage noch in echter Stille und Gelassenheit verbringen konnte. Und ich hoffe, eines Tages werden wir das auch noch einmal tun.

Nachtrag: Es ging schneller als gedacht. In diesem Jahr werden wir Weihnachten dort in den Niederlanden verbringen, wo ein Teil meiner Heimat ist.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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