Gestern war der 30. Januar. Die Machtergreifung der Nazis jährte sich zum 80. mal. In meiner Familie war das dritte Reich immer Thema: Meine Eltern wurden 1929 und 1930 geboren, und sie haben oft und gern mit mir über diese Zeit debattiert. So habe ich angefangen, mich früh mit dem Nationalsozialismus zu befassen. Meine Mutter gehörte zu den Menschen, die zwar die Verbrechen der Nazis sah, für sich und ihre Generation aber reklamierte, dass sie eine behütete und sichere Kindheit gehabt habe, im Gegensatz zu nachfolgenden Generationen. Ich wollte das nicht hören, ich habe mich früh, von Radio und Fernsehen vermutlich stark beeinflusst, aber durchaus auch aufgrund von Erzählungen meiner Mutter selbst, zum klaren Antifaschisten entwickelt, der alle Aspekte der Nazizeit als schlicht verbrecherisch betrachtete. Schon mit 10 Jahren hatte ich ein sehr starkes Interesse an dieser Zeit, sammelte Originaltöne, hörte Erzählungen und versuchte auch in der Schule, mehr zu erfahren.
In den letzten Jahren hat mich die Frage beschäftigt, wie es zum 2. Weltkrieg kam, warum die Westmächte so lange versuchten, Hitler zu befrieden, anstatt einmal auf den Tisch zu hauen. Und immer wieder beschäftigte mich die Frage, warum in Deutschland die Opposition gegen den Wahnsinn der Nazis nicht ausreichte, um das Regime hinwegzufegen. Als ich vor knapp 10 Jahren im Internet die diplomatischen Dokumente der Briten und Franzosen über das letzte Jahr vor dem Krieg fand, allerdings in englisch, habe ich mich darauf gestürzt, ebenso wie auf die Protokolle des nürnberger Prozesses, die es damals ebenfalls nur in englisch gab. Während ich die Diplomatenpapiere ganz gelesen habe, kann ich das mit den 23 dicken Bänden der Nürnbergprotokolle nicht tun. Die Depeschen der britischen und der französischen Botschaften in Berlin, Prag, Wien und Warschau und die Antworten der Außenminister ggeben aber einen interessanten Einblick in die Mechanismen, die 1939 zum Krieg führten.
Und jetzt habe ich ein Buch entdeckt, ebenfalls in englisch als Hörbuch, das mir eine detaillierte Zusammenfassung der Ereignisse liefert und noch viel mehr Quellen anfügen kann. Der Autor ist der amerikanische Journalist und Historiker William L. Shirer. Er arbeitete von 1934 bis 1941 als Journalist in Berlin und hat viele historische Momente des dritten Reichs selbst miterlebt. Anders als viele Deutsche Bürger und viele ausländische Staatsmänner hat er früh klar die Politik der Nazis als aggressiv erkannt, einfach weil er Hitlers Buch „Mein Kampf“ ernst genommen hat. Außerdem hat er viele Entwicklungen recht früh vorausgesehen und in seinen Tagebüchern festgehalten, die ebenfalls als Buch erschienen sind.
Das Buch, das ich aber derzeit lese, heißt: „Aufstieg und Fall des dritten Reiches“. Shirer hat es 1960 geschrieben, und viele Historiker betrachten es bis heute als das umfangreichste, chronologisch erzählte und mit vielen Hintergründen und Quellen unterfütterte Kompendium der Geschichte des Nazistaates. Ich habe selten so viel über diese Zeit gelernt wie in den letzten Wochen, in denen ich diesen dicken Wälzer lese. Neben den offiziellen britischen und amerikanischen Dokumenten hat Shirer viele Tagebücher, Zeugenaussagen, die in Nürnberg nicht zugelassen wurden, und die Papiere des deutschen Auswärtigen Amtes hinzu ziehen können. So habe ich z. B. folgendes erfahren: Im September 1938 waren einige Generäle bereit, gegen Hitler zu putschen, falls er Deutschland in einen europäischen Krieg wegen der Tschechoslowakei und dem Sudetenland stürzen würde. Diese Generäle behaupteten später, Chamberlain und seine Politik, die zum münchner Abkommen führte, sei der Grund dafür, dass der Putsch abgesagt worden sei. Im Mai 1939 saßen dieselben doch angeblich kritischen Generäle bei Hitler und hörten seinen unumstößlichen Entschluss, Krieg gegen Polen, und notfalls gegen England und Frankreich zusätzlich zugleich zu führen. Niemand wagte es, wie man am Protokoll sehen kann, auch nur eine Frage zu stellen.
Oder: Am 7. März 1936 marschierte Hitler ins demilitarisierte Rheinland ein, mit ganz wenigen Verbänden. Shirer sah im Reichstag den Armeeoberbefehlshaber von Blomberg. Er sei „weiß wie die Wand“ gewesen, schrieb Shirer in sein Tagebuch. Später erfuhr man, warum. Hätte Frankreich auch nur ein paar seiner Truppen in Marsch gesetzt, die deutschen Soldaten hätten den Schwanz einziehen und sich zurückziehen müssen. Es gab entsprechende Befehle. Angesichts der Tatsache, dass Diktatoren eigentlich immer Erfolgserlebnisse brauchen, um zu überleben, hätte dies das Ende des dritten Reiches sein können. Ebenso ein entschiedenes Auftreten in München. Auch den westlichen Regierungen musste klar sein, dass die deutsche militärische Stärke zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht ausgereicht hätte.
Was mich stark bewegt in diesem Buch sind die Schilderungen der Deutschen und ihres Verhältnisses zu Hitler. Gut: Hitler gab ihnen Nationalstolz, tilgte die von vielen so empfundene Schande von Versailles. Aber er nahm ihnen auch persönliche Freiheiten und Menschenrechte, schränkte die Kapitalfreiheit ebenso ein wie die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes, die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen und auch die allgemeinen Löhne. Und während die Deutschen keine Lust auf Krieg hatten, wie Shirer bei einer Militärparade 1938 eindrucksvoll beschreibt, die von den wenigen Umstehenden nicht mit Begeisterung, sondern mit Abwehr betrachtet wurde, was Hitler sehr ärgerte, fügten sie sich doch in die Naziherrschaft und gehorchten der Autorität des Führers. Bis hin zu einem Mann wie Franz von Papen, der 1934 beinahe von der SS ermordet wurde und dem Regime doch bis fast zum Schluss treu blieb. Wie ist das zu erklären? Shirer führt dies auf den preußischen und protestantischen Geist in Deutschland zurück, auf die Autoritätshörigkeit, die durch die autoritäre Natur der deutschen Staaten entstanden sei. Die einzige nennenswerte deutsche Revolution, meint er, sei der Bauernaufstand gewesen, den Luther so kräftig verurteilt habe. Und Luther habe einen enormen Einfluss auf das Seelenleben der Deutschen gehabt. Man muss nicht seiner Meinung sein, aber auch heute sind die Deutschen viel autoritätshöriger als ihre Nachbarn. Ich halte es zumindest für bedenkenswert, wenn auch für schmerzlich.
Ich habe noch nicht die Hälfte des Buches gelesen, bin aber total fasziniert, weil William Shirer es versteht, ein fundiertes Buch zu schreiben, das wissenschaftlichen Betrachtungen stand hält, es aber gleichzeitig so zu schreiben, dass jedermann es lesen und verstehen kann. Er nimmt sich Zeit für komplizierte Zusammenhänge und verdichtet sie trotzdem so hinreichend, dass man das Gesamtbild überschauen kann, zumindest immer einen Strang der Ereignisse.
Außerdem ist dieses Buch hervorragend geeignet, um heutige Nazipropaganda zu entkräften. Auf viele sogenannte Ungereimtheiten der Verschwörungstheoretiker finden sich klare schriftliche Antworten oder persönliche Erlebnisse. So lenkt Shirer beispielsweise den Blick darauf, dass die Mobilmachung in Polen im März 1939, die von heutigen Verschwörungstheoretikern als Bedrohung Deutschlands gesehen wird, erfolgte, nachdem Hitler die Tschechoslowakei erst eingekreist, dann beseitigt hatte. Einen Tag vor der Mobilmachung hatte er das Memelland vereinnahmt, und somit war Polen jetzt in derselben Situation wie die Tschechoslowakei vorher. Und in Warschau hatte man genau beobachtet, wie Hitler sich nach und nach und möglichst Kampflos der Staaten entledigte, die er haben wollte: Erst Österreich, dann das Sudetenland, die Tschechoslowakei und das Memelland. Friedensversprechen und Freundschaftsverträge hatte er immer wieder gebrochen, immer wieder hatte er gesagt, er habe keine territorialen Forderungen mehr, nur um wenige Monate später neue zu erheben. Polen wollte einfach nicht das nächste Opfer sein, und auf die Hilfe Russlands wollte es sich auch nicht verlassen, denn Russland hatte ebenfalls Appetit auf das Land.
Natürlich wusste ich bereits viel über die historischen Fakten, aber so mancher Zusammenhang und auch die Vorgänge hinter den Kulissen, z. B. im deutschen auswärtigen Amt, sind mir viel klarer geworden. Wer sich wirklich mit dem Nazistaat auseinandersetzen will, wer seine Geschichte studieren, sein Funktionieren verstehen will, der sollte dieses Buch lesen, langsam und gründlich. Die 1245 Seiten lohnen sich sicher.
William L. Shirer: Aufstieg und Fall des dritten Reiches
Verlag: KOMET
ISBN-13: 9783933366610
ISBN-10: 3933366615
Pingback: Aus meinem Privatblog – Buchtipp: Aufstieg und Fall des 3. Reiches von William L. Shirer - Nationalsozialismus, Geschichte, Faschismus, Buch - Mein Wa(h)renhaus
Hallo Jens,
auch für die Sorgfalt, mit der du diesen Artikel verfasst hast, kann ich dir ein großes Lob aussprechen. Er weckt das Interesse das Buch zu lesen und sich mit dem Thema Nationalsozialismus sorgfältig auseinanderzusetzen.
Alles erdenklich Gute und viel Erfolg mit diesem Blog und der Arbeit für das Radio!
Liebe Grüße
Christiane
Das ist ein sehr gutes Buch. Es benötigt allerdings viel Zeit es zu lesen und zu studieren. Es macht diese unbegreifliche Zeit etwas begreifbarer. Es erklärt ziemlich gut, wie dieses Verbrechen an der Menschheit überhaupt stattfinden konnte. Heute erscheint einem diese Zeit und diese Verbrechen unerklärlich. Man fragt sich immer, wie das geschehen konnte. Dieses Buch liefert Antworten! Es gibt für diese Zeit keine Entschuldigung, aber es zeigt wie dieses verbrecherische System an Macht gewann und das diese Personen die es zu verantworten haben, keines Wegs dumm gewesen sind. Ganz im Gegenteil. Sie haben den Zustand der jungen Demokratie und der Wirtschaft enorm clever für sich genutzt. Ich kann dieses Buch nur empfehlen.