Seit knapp 2 Wochen verfolge ich die Vorbereitung und Durchführung der Krönung in den Niederlanden. Als meine Liebste einige der Berichte las, die ich in meinem Hauptblog geschrieben habe, meinte sie, ich würde Klatsch und Tratsch schreiben, und musste lachen. Ein anderer Bekannter meinte, ich sei einer der wenigen Royalisten hierzulande, vermutlich auch, weil ich eine 27stündige Sondersendung im niederländischen Radio verfolgen werde.
Aber das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Für Deutschland bin ich kein Royalist, ich will ganz sicher nicht unsern alten Kaiser Wilhelm wieder haben. Aber mich faszinieren historische Ereignisse, nach denen vieles nicht mehr so ist wie zuvor. Das hat schon in meinem persönlichen Umfeld angefangen. Ich war acht Jahre alt, als meine über alles geliebte Schwester eines Morgens nach einem langen Fest am Vorabend weg ging, und als sie eine gute Stunde später wieder auftauchte, hieß sie nicht mehr Bertrams. Nie wieder. Das hat mich geschockt und fasziniert zugleich. Also habe ich angefangen, nach solchen Ereignissen zu suchen, die alles verändern.
Da waren diese Tage im Oktober desselben Jahres. Ich erinnere mich an eine Tagesschau, die ich manchmal in den Ferien zuhause sah, wenn ich mit meinem Vater in unserem Wohnzimmer saß. „Über die Notrutsche wird die Leiche des Flugkapitäns Jürgen Schumann heruntergelassen“, hieß es da. Ich weiß noch heute, welcher Sprecher das sagte, und ich weiß noch, dass ich dachte, dass dieser Mann nie wieder aufstehen und mit seiner Familie leben würde. Wieder so ein Ereignis, nach dem sich vieles verändert hatte. Ein paar Tage später gab es noch mehr Tote: Hanns-Martin Schleyer, Andreas Bader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Mit einigen dieser Namen war ich aufgewachsen, und ich wusste, dass es böse Menschen gewesen waren. Irgendwie zumindest. Es war der Zeitpunkt, zu dem ich begann, mich für Politik und Weltgeschehen zu interessieren, und für Geschichte. Auf Schallplatten und Kassetten hörte ich Aufnahmen von historischen Momenten: Die Bekanntgabe der deutschen Kapitulation im zweiten Weltkrieg, die Verkündung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, die Landung von Apollo XI. auf dem Mond. Momente, die so kurz waren und doch alles veränderten. Der berühmte Satz von Neil Armstrong über den kleinen Schritt für einen Menschen und den großen Schritt für die Menschheit stand und steht für mich bis heute als das beste Symbol für einen historischen Augenblick. „Von heute an“, so lässt der Schauspieler Tom Hanks den Astronauten James Lovell am Abend der ersten Mondlandung im Film Apollo XIII. sagen, „leben wir in einer Welt, in der der Mensch den Mond betreten hat. – Und es ist kein Wunder, wir haben uns einfach dazu entschlossen.“
Mich ergriff die Faszination für die Momente der Weltgeschichte. Natürlich auch für die Ereignisse, die länger in Anspruch nahmen, aber die Zäsuren und die besonderen Dinge haben mich immer beeindruckt. Der Entschluss des jungen Martin Luther zum Beispiel, dass er Mönch werde, wenn er nur aus einem heftigen Gewitter im Wald entkäme, war so ein Wendepunkt der Weltgeschichte. Luther hat eine Zeitenwende mit verursacht, er hat Kaiser und Papst das Fürchten gelehrt, und das wegen eines Gewitters und seiner Angst. Ich habe immer wieder nach solchen Momentaufnahmen des Weltgeschehens gesucht, und ich habe sie gefunden, aber ich habe auch die Ereignisse nicht ausgelassen, die etwas länger brauchten, um sich zu entwickeln: der Start des ersten Space-Shuttles, der Falklandkrieg, symbolisiert durch die Rede von Margaret Thatcher vor dem Unterhaus, in der sie mitteilte, dass die Falklands britisches Territorium blieben, der Augenblick, in dem Helmut Kohl mit sieben Stimmen Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt wurde und das Land für einen Moment stillstand, die erste Äußerung eines grünen Abgeordneten im Bundestag, mit der eine neue Epoche deutschen Parlamentarismus begann, die Abstimmung über die Nachrüstung mit der beeindruckenden kurzen Rede von Petra Kelly, die Mitteilung, dass Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPDSU gewählt worden war und damit eine neue Seite der Weltgeschichte aufschlug, die Ansprache von Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des kriegsendes, der Start und die gleich darauf stattfindende Explosion der Raumfähre Challenger, die ich am Radio live verfolgte, weil ich damals alle Starts und Landungen verfolgte.
Dass ich bei der Pressekonferenz von Günter Schabowski am 9. November 1989 nicht vor dem Fernseher saß, hat mich im Nachhinein geärgert, ich durfte nur noch zuhören, wie der deutsche Bundestag die Nationalhymne sang, und wie das Schauspiel am nächsten Tag vor dem schöneberger Rathaus wiederholt wurde. Mein ganz großes Weltereignis, bei dem ich sogar anwesend sein wollte, war die Wiedervereinigung Deutschlands, ich war mit meinem Leistungskurs Gemeinschaftskunde in Berlin an diesem Tag, wir wollten die Vereinigung live vor dem Reichstag erleben. In meinem Hauptblog habe ich einmal geschrieben, wie das war, und ich gebe hier einen Auszug wieder. Es war auf seine Art ebenfalls ein geschichtlicher Moment.
„Wir waren 4: Hans, unser Gemeinschaftskundelehrer, Beate, eine weitere Begleitperson, mein Freund Thorsten und ich selbst. Abseits von der Straße unter den Linden führte uns Hans auf sogenannten Schleichwegen in Richtung Staatsgrenze. Diese Schleichwege hatte er auf dem Stadtplan entdeckt, sie sahen aus wie ein Trümmerfeld, überall lagen irgendwelche Sachen herum. Wir kamen langsamer voran, als wir dachten, und gegen zwanzig vor 12 hatten wir noch nicht das Brandenburger Tor erreicht, befanden uns aber wieder auf der Hauptstraße. Und es wurde immer voller. Menschenmassen, teils betrunken, in jedem Falle aber ziemlich enthemmt, feierten und rempelten sich gegenseitig an, es war praktisch kein Durchkommen mehr. Eingeklemmt und eingezwängt hörten wir nichts außer das Gejohle der Menschen um uns herum. Und immer weiter wurden wir auf das brandenburger Tor zugetrieben. Kurz bevor wir es erreichten sahen unsere Begleiter, wie die riesige DDR-Fahne an Luftballons in die Luft entschwebte, und ein Jubel und Johlen brach los, Menschen bahnten sich rücksichtslos ihren Weg. Erstmals rief unser Kursleiter bittend, man möge nicht so drängeln und Rücksicht nehmen. Es waren Millionen auf der Straße. Immer wichtiger wurde es, aus der Menschenmenge hinaus zu kommen, der Wunsch, die Flaggenhissung zu sehen, geriet immer mehr in den Hintergrund.
Und dann wurden wir in das Nadelör des brandenburger Tores gedrängt. Zwei Menschenströme durchdrangen sich hier, von beiden Seiten kommend. Wir wurden an die Wand gedrängt, ich schlug mit dem Kopf gegen den Stein, beinahe wären wir auseinandergerissen worden. Als Vollblinder wäre ich allein verloren gewesen. Vermutlich wäre ich zerquetscht worden. Und während wir in der Enge des Durchganges darum kämpften, zusammen zu bleiben, johlte die Menge plötzlich unbeschreiblich auf, Flaschen und Feuerwerkskörper flogen, einer traf unsere Begleiterin Beate am Kopf. Vermutlich war dies der Moment, in dem Deutschland tatsächlich wiedervereinigt wurde. Ich konnte es nicht nachprüfen, denn um auf die Uhr zu schauen, hätte ich meinen Arm bewegen müssen, der zwischen Leibern eingeklemmt war. Wir wollten nur noch weg! Als wir endlich auf der anderen Seite ankamen, beruhigte sich die Menge etwas, denn alle blieben gebannt stehen, um das Feuerwerk zu verfolgen. Zwar konnten wir uns auch jetzt nicht weiter durch die Menge schieben, dafür stand sie zu dicht, aber für einen Moment konnten wir durchatmen und stehen bleiben. Hans zitterte, er musste Angst gehabt haben. Hätte er gewusst, dass es noch schlimmer kommen würde, …
Während des Feuerwerks waren wir auf dem Gelände des Tiergartens gelandet, zumindest sagte man uns das. Ein paar lange Kerls aus Hamburg standen dicht bei uns, besonnene Leute, die sich während der Böller und Jubelrufe kurz mit uns unterhielten. Dann war das Feuerwerk vorbei, und sofort wollten die Menschen den Ort des Geschehens verlassen und drängten auf die Polizeigatter los, die das Gelände, auf dem wir standen, abriegelten. Eine kleine Panik brach aus, als sich die Gatter nicht sofort öffneten, Menschenmassen stürmten weg vom Brandenburger Tor. Wir stolperten mit ihnen, Umhängetaschen wurden kaputt gerissen, wir hätten uns beinahe wieder verloren. Da bauten sich die riesigen hamburger Kerls um uns auf und riefen in die Menge: „Vorsicht, langsam“. Für einen Augenblick entstand um uns eine Zone relativer Ruhe, und wie ein Bollwerk schoben uns die Hamburger ruhig und besonnen, von ihren eigenen Körpern geschützt, durch die tobende Menge. Das ging so lange gut, bis am Rande des Platzes die Polizeigatter fielen und die Menschen das bemerkten. Von da an gab es kein Halten mehr, alle mussten Laufen, so sehr drängte die endlich befreite, panische Masse. Im Fernsehen, so erzählte man mir, habe man nichts von dieser Panik gesehen, aber in diesen Augenblicken fürchtete ich um mein Leben. Alle rannten, auch die Hamburger, die wir binnen Sekunden aus den Augen verloren. „Schneller“, trieb mich Hans in Panik an, aber ich konnte nicht noch schneller laufen, dachte ich. Und dann blieb ich für einen winzigen Augenblick in den niedergelegten Gattern hängen. Diese knappe Sekunde werde ich nie vergessen. Es war ein Moment, in dem ich vor Panik aufschrie und gleichzeitig mit meinem Leben abschloss. Ich war mir fast sicher, keine Chance mehr zu haben. Hans hielt mich fest, mein Arm wurde fast ausgekugelt, von hinten erhielt ich einen Stoß, und irgendwie löste sich mein Schuh aus den Gattern. Mit affenartiger Geschwindigkeit ergossen wir uns in das große, freie Gelände des Tiergartens, wo wir uns so verteilten, dass es uns möglich war, wieder Luft zu holen. Wir waren gerettet. Ein völlig fertiger Lehrer, der mit seinen Nerven am Ende war und Angst um unser Überleben gehabt hatte, und eine Begleiterin mit einer leichten Wunde an der Stirn, das war die Ausbeute dieser Nacht. und in dem ganzen Kampf um unsere Sicherheit war die Geschichte an uns vorbeigestreift, hatten wir die Worte des
Bundespräsidenten und die Nationalhymne verpasst, verging die Flaggenhissung vor dem Reichstag ohne unsere Anwesenheit. Hauptsache, es war alles noch mal gut gegangen, dachten wir uns, als wir uns durch die Straßen des nun wiedervereinigten Deutschlands schleppten.“
Ich weiß das alles noch so genau, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon immer versuchte, historische Momente auf Tonträger zu bannen, und einen Kassettenrekorder mit mir führte. Ich werde diesen Tag nie vergessen.
Meine Vorliebe für historische Momente ist nicht geringer geworden. Und übermorgen habe ich erstmals die Möglichkeit, eine Königskrönung zu verfolgen und mitzuerleben, wie das abläuft, ohne es bereits bearbeitet auf irgendwelchen historischen Aufnahmen hören zu müssen. Mich beeindruckt manchmal, wie viel sich nach einem solchen historischen Moment ändert. Die Wahl von Michail Gorbatschow, die versehentliche Rede Günter Schabowskis, all dies sind gute Beispiele für solche Veränderungen. Natürlich haben solche Momente und Ereignisse ihre Vorgeschichte, sie kommen nicht aus dem Nichts, aber sie sind Manifestationspunkte der Geschichte, und ich bin froh, wenn ich sagen darf, ich bin dabei gewesen, auf die eine oder andere Weise.
Wow! Nun kenne ich diese Geschichte schon eine ganze Weile, aber sie reißt mich auch in dieser Form wieder mit, so farbig ist sie geschrieben! Was Du über Deine Faszination von „Momenten, die alles veränderten“ schreibst, stimmt mich nachdenklich. Die meisten Menschen lieben die Veränderung, weil sie damit etwas positives verbinden, oder sie hassen sie, weil „früher alles besser war“. So neutral und doch so kraftvoll wie in diesem Artikel habe ich Veränderung noch nirgendwo beschrieben gesehen. Beeindruckend. Und Deine Begeisterung für Geschichte ist wie so oft echt ansteckend.