Mein atheistisches Manifest revisited – ein erfolgreiches Blogposting

Morgen ist es so weit, dann wird mein hauptblog 8 Jahre alt. In dieser Zeit habe ich knapp 580 Artikel geschrieben, und ich habe mich in den letzten Wochen gefragt, wie es weiter gehen soll mit diesem Blog. Dabei bin ich auch auf das Posting gestoßen, das bis heute mein wohl beliebtestes Posting ist: mei n atheistisches Manifest.

Damals schrieb ich, warum ich trotz meiner christlichen Erziehung aufhörte, ein Christ zu sein. Ich wiederhole hier noch mal ein paar Auszüge. Ich schrieb es nach einem Konzert mit einem hervorragenden Gospelchor und dem beeindruckenden Gospelsänger Jan Vering:

„Jan Vering hatte vor vielen Jahren eine musikalische Gospeldefinition verfasst: Diese alten, schwarzen Lieder, voll von Elend, Pein und Tod, voller Hoffnung und voll Sehnsucht nach dem Leben, nach Glück, nach Gott. Oder so ähnlich jedenfalls. Beeindruckend, nicht wahr? Aber ich konnte nicht anders, als plötzlich zu denken: Oh ja. Diese Lieder haben es den schwarzen Sklaven ermöglicht, ihr Schicksal mit Würde zu tragen. Und weil Ihnen im Himmel das Paradies versprochen wurde, haben sie sich nicht aufgelehnt, sondern die Sehnsucht nach diesem Jenseits kultiviert. So ertrugen sie ihren Alltag und blieben Sklaven. Ich habe vor ein paar Tagen mal eine Aussage gelesen, die mich sehr nachdenklich gemacht hat: Religion ist es, die den Reichen ihren Reichtum und den Mächtigen ihre Macht erhält. … Gott hat, was gar nicht nötig gewesen wäre für einen barmherzigen, verzeihenden Gott, seinen einzigen leibhaftigen Sohn ausgeschickt, damit er für uns stirbt. Jetzt sind wir dran. Diesen Druck, so glaube ich ganz fest, spüren viele Christen irgendwo in sich. Ich zumindest habe ihn gespürt. Es sorgt für die Falschheit unserer Liebe, die Druck ist, Notwendigkeit, um sich einen Platz im Paradies zurückzuerobern. … Wenn ich religiöse Menschen getroffen habe, die viel für andere Menschen tun, dann tun sie das für Gott, denn: Was ihr dem Geringsten unter den Menschen tut, das habt ihr mir getan. Sie sind oft im Umgang mit den Menschen, denen sie etwas Gutes tun, beflissen, professionell freundlich und mehr oder weniger missionarisch. Und irgendwie steht immer die Hoffnung im Hintergrund, dass man sich doch zum wahren Glauben bekehren möge. Damit hört ihre Handlung auf, selbstlos zu sein. Sie brauchen für ihre Liebe zu den Menschen immer einen Vermittler, diesen Gott, der ja schließlich für alle Menschen da ist, und der es nicht gern sieht, wenn man sie hängen lässt. Wer seinen Glauben ernst nimmt, weil er ihm oder ihr Kraft gibt, der ist menschenfreundlich seinem oder ihrem Gott zuliebe. Aber kommt es von Herzen? (Es scheint ein bisschen wie das Sammeln von Güte- oder Treuepunkten.) … Die Menschen haben Gott erschaffen, und nicht umgekehrt, hat Ayaan Hirsi Ali einmal gesagt. Und für eine andere Person, die ich kenne, ist Gott eine personifizierte Hilfskonstruktion. … Als Kind habe ich an den guten, beschützenden Gott geglaubt. Durch die tragischen Ereignisse in der Familie wurde mir dieser Glaube nach und nach genommen. Und ich habe irgendwann begriffen, dass wir nur dieses Leben, nur diese Zeit haben, um sie zu genießen und aus ihr das Beste zu machen. … Die Religion ist so oft ein Instrument von Macht und Druck, dass ich keinen Sinn darin sehe, einer solchen Religion anzugehören. Das heißt nicht, dass ich mich nicht an viele der 10 Gebote halten kann, dass ich kein Mitmensch sein kann, eher im Gegenteil. Das Konzert und die religiöse Inbrunst haben mir gezeigt, dass Religion sehr oft verlogenes Handeln und sinnloses Nachgeplapper ist, und dass wir sehr oft nicht für unser diesseitiges Leben sorgen. Das aber ist das Leben, das wir leben und das wir in die Hand nehmen müssen, anstatt uns die ganze Zeit über damit zu befassen, ob wir dasselbe glauben wie unser Nachbar.“

Rund 20 Kommentare habe ich erhalten. Ich habe Kontakt mit zwei Priestern bekommen, die mir eine andere Sichtweise von Gott vermitteln wollten, mich aber gleich anmailten und keinen Kommentar hinterließen. Ich habe interessante Predigten gehört und nachdenkliche Texte gelesen. Ich habe mit Jan Vering selbst gesprochen und freue mich darauf, ihn einmal persönlich kennenzulernen, das steht noch aus. Viele Kommentatoren attestieren mir Schmerz und Frust, wollen mich trösten und mich durch Bibellesen oder Gehorsam und intensive Gottessuche erlösen. Sie glauben, ich sehe das Leben finster, bemühe mich nicht recht und muss intensiver suchen, manche haben aber auch Verständnis für meine Entscheidung. Ich finde es aber interessant, dass sich so viele um mein Seelenheil sorgen, mich bekehren und mir bei Gott ein besseres Leben angedeihen lassen wollen. Dass sich bei diesem Thema viel mehr Engagement bei der Leserschaft zeigt als bei allen anderen Themen, auch schrecklichen Themen, über die ich berichtet habe, beweist, was hinter den Gedanken meines Manifestes stand: Dass nämlich die Christen sich für Gott engagieren, für die Religion, für die Mission und Bekehrung, dass aber viele andere, diesseitige Themen nicht so starken Anklang finden. Einige Kommentatoren wiesen mich auf die unbestreitbaren Verdienste von Christen wie Martin Luther King hin. Ich musste ihnen antworten, dass es natürlich große und kleine Ausnahmechristen gibt, bekannte wie unbekannte Menschen, die aus ihrem Glauben eine gern errfüllte Verpflichtung zur
Mitmenschlichkeit ableiten, dass das aber oft im täglichen Umgang mit ganz normal erzogenen Christen nicht so ist, und mit denen haben wir es nun mal meistens zu tun. Und es gibt eben auch die Vielzahl von Menschen, die sich mit Schuld belasten und sich Karfreitags auf den Philippinen geißeln oder als Priester oder Nonnen ihre Pflichten gegenüber Schutzbefohlenen verletzen. Die Kirche ist eine zutiefst menschliche Institution und tut oft so, als habe sie die Wahrheit gepachtet.

Anderthalb Jahre vor meinem Manifest schrieb ich einen anderen Blogpost über ein Lied, das mich damals sehr beeindruckt hat: From a Distance. Damals, offiziell immer noch Christ, schrieb ich: „Aus der Ferne betrachtet ist die Welt blau und grün, und die schneebedeckten Berge sind weiß. Aus der Ferne betrachtet leben wir in Harmonie. Aus der Ferne betrachtet sind wir alle Instrumente einer gemeinsamen Band. … Aus der Ferne betrachtet haben wir genug von allem, und niemand hat Mangel (z. B. Hunger). Es gibt keine Gewehre und Bomben und keine Krankheiten, und es gibt keine hungrigen Mäuler zu stopfen. Gott betrachtet uns aus der Ferne. Für mich sagt dieses Lied viel freundlicher, was Karat in ihrem blauen Planeten viel ungeschminkter sagen: Uns hilft kein Gott, unsre Welt zu erhalten. Wir sind selbst dafür verantwortlich. Aus seiner Ferne betrachtet nämlich gibt es bei uns keine Probleme, so wie er es für seine Kinder einst plante. Aus der Ferne betrachtet ist diese Erde das Paradies, das er uns schenkte. Nur wenn man näher heran geht, kann man sehen, was wir Menschen daraus gemacht haben. Gott tut das nicht. Gott betrachtet uns aus der Ferne, und es ist sein gutes Recht. Wir sind es, die das, was wir haben, richtig verteilen müssen, damit es stimmt, dass wir keine Kriege, Hungersnöte und Krankheiten haben auf dieser gesegneten Welt. Gott mag uns betrachten, aber wir dürfen nicht vergessen, dass er es aus der Ferne tut. Wir sind es, die hier leben und unsere Verantwortung zu tragen haben. Diese Verantwortung für uns und unsere Mitmenschen kann uns niemand nehmen. Gott ists zufrieden, denn er hat ein großartiges Werk getan.“

Es war der Versuch, Gottes Passivität zu erklären und dennoch weiter an ihn glauben zu können. Aber wenn da ein passiver Gott ist, warum sollte man an ihn glauben? Sicher: Der Glaube hilft manchem Menschen. Meine Mutter erzählte mal von einer Frau, die nach der Nachricht, dass ihre Tochter von einem Zug überfahren worden war, mit folgendem Satz reagierte: „Dann wird sie jetzt die schönste Braut Gottes sein.“ Glück statt Trauer. Aber wenn das der Trost ist, den dieser passive Gott spendet, dann ist es nicht mein Gott.

Einer der Kommentatoren meines atheistischen Manifestes ließ mir ein Gedicht zukommen, das mir gefällt, drum veröffentliche ich es hier noch einmal mit bestem Dank:

Religionsunterricht
von
Wolf Biermann

Der Liebe Gott, mein liebes Kind
Liebt alle Menschenkinder
Die schwarzen, die weißen, die gelben und roten
Die guten die bösen nicht minder

Gott schuf unsere Welt? Ja, das ist wahr
Gott schuf auch die Vögel und Affen
Wer aber schuf Gott? Du, das ist klar:
Den hat ja der Mensch erschaffen

Wir sind seine Schöpfer. Und ER ist gewiss
Viel menschlicher als seine Macher
Gott ist ein gestrenger Lehrmeister und
Ein freundlicher Widersacher

Gott ist unser edleres Ebenbild
So hausen wir hier auf Erden
Wir eifern dem eigenen Kunstwerk nach
So wollen wir Menschen werden

(entstanden für eine Lehrerin im Schwarzwald, die die Genesis einmal anders erzählen wollte)

Wie man an diesem Posting sieht, ist das Thema mir bis heute nicht fremd. Man lernt viel dabei, wenn man sich, aus einer gewissen Distanz, mit Religion befasst. Zur Adventszeit rückt einem dieser Gott aber oft näher. Vor zwei Jahren schrieb ich in einen akustischen Adventskalender: „Entschuldige, du Gott: Macht es dir etwas aus, dass ich nicht zu dir bete? Macht es dir etwas aus, dass ich dich nicht für eine bewusst handelnde Persönlichkeit halte? Macht es dir etwas aus, dass du für mich jetzt und hier die Verkörperung der Zeit bist, in der wir uns die Zeit nehmen, in uns zu gehen? Bist du bestürzt darüber, dass ich nicht mit dir spreche, weil ich an dich glaube, sondern nur, weil es hin und wieder schön ist, ein Gegenüber zu haben, das einfach zuhört? Sind vielleicht deine Wunder nur die Befreiung von innerem Ballast, den wir angehäuft haben, und den wir bei dir, du Gott, abladen können?
Entschuldige, du Gott: Ich gehe nicht in die Kirche. Bist du darüber enttäuscht oder zornig? Und wenn ich in die Kirche ginge, dann käme ich nur wegen der Musik.“

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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12 Antworten zu Mein atheistisches Manifest revisited – ein erfolgreiches Blogposting

  1. Pingback: Aus meinem Privatblog: Mein atheistisches Manifest revisited – ein erfolgreiches Blogposting | Kleinigkeiten - Kirche, Atheismus - Mein Wa(h)renhaus

  2. Das NestDasNest sagt:

    Ein interessanter Artikel. Ich habe mit religiösen Menschen durchaus schon Erfahrungen gemacht, die Deinen ähneln und kann Deine Sichtweise daher zum Teil nachvollziehen. Allerdings habe ich auch schon wesentlich bessere gemacht.

    Ein anderer Punkt hat sich mir allerdings viel mehr eingeprägt, weshalb ich jetzt mal kurz auf ihn eingehe: Du schreibst, religiöse Menschen täten alles, was sie tun, ja „nur“ für ihren Gott und das sei ja nun nicht wirklich selbstlos. Da werfe ich einfach mal 2 Fragen auf: Aus welchen Motivationen tun andere, nicht religiöse Menschen gute Taten? Was fällt mir denn da ein: Eine gute Mutter sein, seinen politischen Idealen treu sein wollen, von Freunden, Kollegen, anderen Menschen überhaupt geachtet und geschätzt werden, damit man Teil eines harmonischen Umfeldes sein kann. Manche Menschen wollen ebenso wie religiöse Menschen, daß man sie gut in Erinnerung hält, nicht Gott, sondern andere Menschen. Sie wollen, daß von ihnen ein Denkmal bleibt, getreu dem Motto: „Man lebt so lange, wie sich jemand an einen erinnert.“ Sind diese Motive selbstlos? Gibt es selbstlosen Einsatz überhaupt? Aber damit bin ich auch schon bei meiner zweiten für mich wichtigen Frage: *muß* es selbstlosen Einsatz geben? Warum ist es wichtig, daß man sich beim Tun guter Taten um Himmels Willen nicht besser oder „auf der richtigen Seite“ fühlt, solange man nicht ständig missioniert? Wir werden immer lieber helfen, Zuwendung zeigen und so weiter, wenn wir auch etwas dafür zurück erhalten. Und ich kann daran nichts schlimmes finden. Es mag außerordentliche Herausforderungen geben in Situationen, die wir hoffentlich nicht allzuoft erleben, wo man wirklich selbstlos handelt, wo man vielleicht sogar sein Leben für jemanden gibt. Aber für den Alltag reichen mir persönlich gute Gedanken, freundliche Worte und hilfreiche Taten von Menschen, denen es dabei auch selbst gut geht und die etwas stärkendes oder bereicherndes für sich daraus mitnehmen. Wenn irgendeine Motivation, ganz gleich ob Religion, politische Einstellung oder radikale Erziehung, zum Selbstläufer wird – erst dann entsteht ein Problem, finde ich. Aber das kann eben auf alles mögliche zutreffen. Dein „Entschuldige, Du Gott“ rührt mich übrigens immer noch zu Tränen.

  3. Hallo Nest: Nicht dass du mich missverstehst. Natürlich erwarte ich nicht von jedem Selbstlosigkeit. Nur die Christen behaupten, selbstlos zu sein, und es ist eine Heuchelei, denn sie sind es nicht. Sie wollen missionieren. Ihre Freundlichkeit dient den Zwecken eines Anderen, nicht ihren eigenen guten Gefühlen. Das ist der Unterschied. Die Menschen, die nicht wegen ihres Gottes hilfreich und freundlich sind, denen geht es gut, wenn sie etwas gutes tun. Die Anderen, vereinfacht gesagt, haben bei Gott Punkte gesammelt und ihm möglicherweise ein neues Schäflein zugeführt. Vielleicht ist es verklausuliert auch etwas für die Menschen selbst, aber bei unseren christlichen Erziehern im Internat beispielsweise bezweifle ich es irgendwie. Wie gesagt, das sind nur Tendenzen, aberr für mich ist das der Unterschied.

    • Das Nest sagt:

      Ich möchte mich nicht wiederholen, aber meine These bleibt dieselbe: Es gibt durchaus auch viele nicht religiöse Menschen, die Dinge tun, um a) ihrer Mutter oder Familie endlich zu genügen b) einen Orden zu kriegen und vieles mehr. Ich sehe das Problem bei einigen religiösen Menschen auch, möchte mich aber nicht zu Zahlenvergleichen versteigen. In gewisser Weise kann gelegentlich, wenn eine Religionsgemeinschaft nicht völlig fundamental und totalitär ist, auch „Punkte sammeln bei Gott“ ne Menge Eigenverantwortung und Entscheidungsbereitschaft erfordern.

  4. Ich habe ja auch keine Zahlen genannt. Und ich schrieb ja auch, dass es durchaus Christen gibt, die das ernst meinen und die sich über ihre Punkte bei Gott freuen und so. Mir fällt eben nur auf, das meistens, inzwischen habe ich auch wenige andere Beispiele erlebt, die Menschen, die nicht aus religiösen Gründen Gutes tun oder helfen, natürlicher und ungezwungener sind, dass sie oft mehr an ihr Gegenüber denken als an ihren Gott. Das ist wie gesagt eine Tendenz meiner persönlichen Erfahrungen, erhebt aber keinen Anspruch auf die Wahrheit. Und natürlich hast du recht, es kann viele Gründe geben, bei wem auch immer Punkte zu sammeln. Aber gerade eine Erziehung, die Gutes von Menschen verlangt, ist ja oft religiös begründet.

  5. Leo sagt:

    Auf deinem ‚atheistischen Manifest‘ gäbe es allerhand einzuwenden. Aber das wäre hier zu umfangreich. Deshalb hier nur mein wichtigster Einwand: Dein ‚Atheismus“ bezieht sich, sofern ich dein Manifest verstehe, eigentlich fast ausschließlich auf das Christentum als Religion, und auf dem christlichen Gottesbild.
    Die katholische Kirche kann man in diesem Zusammenhang sowieso abhaken, da sie alles andere als eine reale Repräsentanz der Kernidee des Christentums darstellt und (vielleicht von den ersten Jahren abgesehen) nie dargestellt hat. Spätestens seit Paulus die christliche Leere nach eigener Facon um-interpretiert hat, war es damit sowieso vorbei. Die evangelische Kirchen sind diesbezüglich nur um eine Spur besser. Ein Atheismus, der sich zentral auf christliche Kirche(n) bezieht, wäre deshalb ein sehr dürftiger Atheismus.
    Ein Atheismus, der sich auf das Christentum als Weltbild und auf das darin enthaltene Gottesbild fokussiert, ist kaum nennenswert erwachsener. Denn die christliche, bzw. die gesamte alt- und neu-testamentarische Religion (inkl. Judentum und Islam) ist von einem überaus kindliche Einstellung geprägt. Sie definiert einen Gott(-Vater), der alles regelt, alles steuert, alles reglementiert, für alles verantwortlich ist, und der von seinen Kindern (den Menschen) unbedingten Gehorsam fordert. Das ist die Sichtweise eines Kindes.
    Für Kinder bis ca. 12 ist das gerade noch ok. Bis ca. 15 J. kann das vielleicht noch angehen. Aber Menschen sollten auch in ihren spirituellen Denkmuster irgendeinmal erwachsen werden. Spätestens von einem 25-Jährigen erwarte ich, dass Menschen sich ihrer eigenen Verantwortung im Leben stellen. Inklusive deren Vorstellungen davon, was im Leben erwünscht oder unerwünscht, dem Leben förderlich oder abträglich ist.
    Wer mit 25 immer noch die elterlichen und religiösen Regeln und Vorschriften seiner Kindheit als Orientierung benötigt, hat es versäumt, ethisch und spirituell erwachsen zu werden.
    Wer dann aber im Verlauf seines ethischen und spirituellen Aufwachens, zusammen mit den religiösen Vorschriften seiner Kirche gleich auch gleich die Existenz einer Schöpferinstanz über Bord wirft, handelt letztendlich wie ein pubertierender Knabe, der mit seinem Streben nach Abnabelung von der Enge Bindung mit den Eltern auch gleich die Existenzberechtigung der Eltern-Kind-Beziehung leugnet.
    Es kommt zwar bei gegenüber ihrer Kirche aufsässigen (ehemaligen) Christen immer gut an zu behaupten: “Die Menschen haben Gott erschaffen, und nicht umgekehrt”, wie Ayaan Hirsi Ali sagte. Aber das bedeutet nicht, dass dieser Satz wahr ist. Der Mensch schafft sich ein Gottesbild. Das ist mal sicher. Und falls es irgend eine Schöpfermacht und Schöpferbewusstsein gibt, das für die Entstehung und Harmonie unseres Universums ursächlich ist, wäre mit absoluter Sicherheit kein einziger Mensch auch nur annähernd dazu in der Lage, sich davon eine Vorstellung zu machen, wie diese Schöpferinstanz wohl geartet sein könnte. Also können wir in jeden Fall davon ausgehen, dass die Gottesbilder sämtlicher existierenden Religionen nicht mit der Realität übereinstimmen können. Aber das hat nicht logisch zur Konsequenz, dass es keine Universelle Schöpfermacht, kein Universelles Schöpferbewusstsein gibt.
    Du kannst mit Fug und Recht behaupten, der Gott des Christentum, der biblische Gott gäbe es nicht so, wie er dort beschrieben wird. Aber ob es „Gott“ (Allah, Brahma, Tat, etc.) gibt oder nicht, vermag kein Mensch zu sagen. Und die gegenwärtig vielfach kursierende Fantasie, das Universum, dass wir in seiner heutigen Form kennen, sei lediglich zufällig (so) entstanden, entbehrt jeglicher seriöser wissenschaftlichen Grundlage. Sie gilt nach gegenwärtiger Wahrscheinlichkeitsrechnung als die zwar nicht vollends auszuschließenden, aber wohl überaus unwahrscheinlichste Variante möglicher Entstehungsgeschichten.
    Die Tatsache, dass wir nach wie vor die ursprüngliche Quelle dieses Universums nicht kennen, berechtigt nicht zu der Schlussfolgerung, es gäbe keine Quelle. Eine solche Schlussfolgerung entbehrt jeglicher Logik. Mal von der Existenz aller möglichen weiteren Universen abgesehen, deren Vorhandensein laut Quantenlehre durchaus wahrscheinlich ist.
    Anti-Kirchlich? Von mir aus. Anti-Christlich? Von mir aus. Anti-Religiös? Von mir aus. Atheistisch? Nur dann, wenn man dabei bereit ist, offen und ehrlich zuzugeben, dass sich dieser Atheismus nur auf das Christentum, bzw. nur auf den einem persönlich bekannten Religionen beziehen kann.
    Ein allgemeiner Atheismus, der grundsätzlich die Existenz einer Universellen Schöpfungsinstanz leugnet, ist schlicht anmaßend. Eben so anmaßend wie die einstige christlich-dogmatische Feststellung, die Erde sei das Zentrum des Universums.
    Die Grenzen des eigenen Wissens als definitive Wahrheit zu betrachten, zeugt nicht von einem erwachsenen, selbstkritischen Geist. Sondern lediglich von einer unausgegorenen Einstellung, die lieber die Existenz von etwas leugnet, als in Bescheidenheit anzuerkennen, dass man schlicht keine Ahnung hat.

    • Lieber Leo, hast du mein Manifest eigentlich gelesen? Ich habe nur gesagt, dass *ich* mich vom Christengott meiner Kindheit verabschiede und nicht an einen Gott glaube, darum atheistisch. Und zwar ist damit natürlich der Gott der Religionen gemeint. Dass wir nicht wissen können, ob es eine Schöpferinstanz gibt, ist ja wohl selbstverständlich. Wir wissen so wenig! Aber deine durchaus heftigen Kritiken an meinem Text zeigen mir, dass ich da irgendeine Stelle offenbar berührt habe… Ich lehne den Gottesglauben ab, weil ich der Überzeugung bin, dass Gott durch den Menschen erschaffen wurde, nämlich als Hilfskonstruktion, die Welt zu verstehen und moralische Leitlinien zu erhalten. Das kritisiere ich nicht. Vielleicht war und ist das ganz normal. Ich habe nicht gesagt, der Mensch habe den Schöpfer der Schöpfung erfunden. Darüber weiß ich nicht genug, wer schon, du auch nicht. Aber wir haben Gott erfunden, seine Meinung, seine Regeln, sein Verlangen, all das. Ich bin sicher, dass die Christen den neutestamentarischen Gott, die moslems Allah, die Inder Brama usw. erfunden haben in der Ausprägung, wie diese Gottheiten bekannt sind. Mag sein, dass ich bis zur endgültigen Ablehnung des Kinderglaubens länger gebraucht habe als 25, aber das ist eine individuelle Angelegenheit und unterliegt nicht der Kritik Anderer.

  6. Leo sagt:

    Lieber Jens,
    Leider unterscheidest du in deinem Manifest nicht ausdrücklich zwischen dem ‚Christengott‘ bzw. den Gott anderer Religionen und der Schöpferinstanz. Ich glaube es dir, dass es das ist was du meintest, aber es steht da nicht. Es ist im Text auch nicht als selbstverständlich so gemeint zu erkennen.
    In meinen Augen ist diese Unterscheidung durchaus sehr wichtig. Denn die Nicht-Existenz irgend eines Schöpferbewusstseins und Schöpfungsabsicht, impliziert zwangsläufig die völlige Sinnfreiheit der Existenz der Dinge. Es würde bedeuten, dass das gesamte Universum rein zufällig, und völlig ohne Hintersinn existiert.
    Wenn dem so wäre, ergibt nichts was wir tun irgend einen Sinn, über den Nutzen für unsere eigene Person hinaus. So etwas wie Ethik, gesellschaftliche Verantwortung, Mitmenschlichkeit wäre dann völlig überflüssig. Der einzige Sinn, den ein Mensch dann in seinem Leben noch anerkennen könnte, wäre das pure eigene Ego, den unmittelbaren Eigennutz als einziges Regulativ des eigenen Verhaltens. Da wäre jeder ausschließlich sich selbst gegenüber verantwortlich und es könnte dann auch niemand von einem anderen verlangen, dass er sich anders als rein egozentrisch verhielte. In sofern macht es durchaus einen gewaltigen Unterschied, ob wir, auch wenn wir die Religions-Götter verwerfen, von der Existenz eines ursprüngliches Schöpferbewusstsein ausgehen, oder nicht.
    Was auch der Grund dafür ist, dass ich von Menschen, die in der Öffentlichkeit wirken, in dieser Frage eine klare Unterscheidung einfordere. Es kann nicht jemand in seinen öffentlichen Erklärungen immer wieder ethisches Verhalten und Mitmenschlichkeit anmahnen, und zugleich persönlich von der Sinnlosigkeit der Existenz ausgehen. Das wäre dann wohl ganz besonders zynisch.

    • Ich bin nicht der Meinung, dass ohne Schöpferinstanz das Leben völlig sinnentleert wäre. Da gibt es die Mitmenschen, die nachfolgende Generation, die aus einem selbst entsteht und für die man ein besseres Leben schaffen will. Also wird man gewillt sein, über den eigenen Vorteil hinaus auch den Vorteil jener zu suchen, mit denen man verbunden ist, und jeder, oder fast jeder, ist mit jemandem verbunden. Ich vermag deiner Argumentation nicht zu folgen, dass eine Schöpferinstanz für ein gutes und fruchtbares Zusammenleben auf dieser Erde unerlässlich ist. Und das ganz unabhängig von der Frage, ob ich selbst an sie glaube. Und was meinen Text betrifft:Ich musste nichts über die Schöpferinstanz schreiben, weil sie für mich mit dem, worüber ich schrieb, nichts zu tun hatte. Für mich war die frage, an welche Form der Schöpfung ich glaubte, irrelevant, und ich konnte und kann mich trotzdem für Mitmenschlichkeit einsetzen.

  7. Leo sagt:

    Sozialethik und fürsorgliche Mitmenschlichkeit als reine Strategie des Fortpflanzungsinstinkt?
    Wer weiß, vielleicht ist es so. Auch das ist nicht ausgeschlossen. Auch Tiere zerstören weder ihre Gattung, noch die Umwelt in der sie leben und manche unter ihnen verhalten sich erstaunlich fürsorglich, ihren Artgenossen gegenüber. Deine Sicht ist unbedingt erwägenswert.
    Als Einziges bliebe mir dann die Frage, woher denn die Sicht von Mystiker in den unterschiedlichsten Zeiten und Kulturen, die aus ihrem Samadhi-Erkenntnis heraus, ohne jeweils von einanders Erkenntnis zu wissen, unisono von einem unanzweifelbar universellen Bewusstsein jenseits aller Zeit, Raum und Materie berichten. Für die Erhaltung und Fortpflanzung unserer Gattung wäre diese sicherlich nicht von Nöten. Aber das können uns vielleicht eines Tages die Aliens erklären. 😉

    • Mario Kratzer sagt:

      hallo allerseits,
      ich vertrete die these, dass alle religionen im grunde denselben kern haben. dieser ansatz bietet eine reihe von erklärungen für scheinbar unerklärliches, mit hilfe von logik und metaphysik. leo hat ja schon eine davon verwendet, in dem er die existenz einer schöpferkraft begründet hat.

      swami sivananda hat den kern aller religionen in seiner einfachen art zusammengefasst:

      „wahre religion ist eins. sie ist die religion von wahrheit und liebe. sie ist die religion des herzens. sie ist die religion des dienens, des opfers und der entsagung. sie ist die religion von güte, liebenswürdigkeit und toleranz. […) der anhänger der religion der wahrheit geht auf dem pfad des lichts, des friedens, der weisheit, der kraft und der wonne.“

      vor allem der letzte satz macht deutlich, was religion eigentlich sein sollte. keine ausdrucksform, keine organisation kann die „wahre religion“ für sich pachten, denn man kann ihr nur durch das eigene herz leben einhauchen.

      dienst und opfer sind hier übrigens ausschließlich als synonym für selbstlosigkeit zu verstehen.

      das thema ist ein ganzes blog wert, aber einen gedanken wollte ich gerne hier einwerfen: es gibt ein christliches gebot
      „du sollst keine anderen götter haben neben mir.“
      aus obiger sicht bedeutet das nicht, dass gott nur eine bestimmte, einzig gültige gestalt hat, sondern, dass man im grunde gar keine bilder von gott anbeten soll, sondern sein gebet an gott selbst richtet. da dieser aber letztlich eine abstrakte kraft ist, benötigen die meisten ein bild, eine brücke. nun baut man aber keine brücken, um ihrer selbst willen, sondern sie sind zum überqueren eines fbusses gedacht, damit man das andere ufer erreicht. diese brücke ist lang, und viele verlieren auf dem weg das ziel aus den augen, werden bemitleidenswerte phanatiker und zeitigen, noch mehr zu bemitleidende opfer.

      es geht bei der suche nach gott um eine selbstlose suche nach dem eigenen selbst, denn gott ist in allem, auch und vor allem in der eigenen seele. dort ist er versteckt und meldet sich ab und an. als stimme des gewissens oder als erlebnis eines klaren, unzweifelhaften augenblicks, in dem man ganz im reinen mit sich ist. diese momente hat wohl jeder schon erlebt und sie sind zumindest ein starkes indiz (wenn nicht beweis) für die existenz gottes.
      es geht nicht darum, „punkte zu sammeln“; das wird in der geschichte „das karmakonto“ aus dem buch „alles ist yoga“ von doris iding sehr schön verdeutlicht. diese punkte kommen nämlich nur dem eigenen ego zugute, und nichts lenkt uns mehr von gott ab, als genau die überbetonung dieses egos, das uns hauptsächlich eine trennung von allem suggeriert und somit der brüderlichkeit im wege steht (die kernbestandteil aller religionen ist). die aussagen „ich bin besser als du, göttlicher, weiter entwickelt“ verletzen das (religiöse) einheitsprinzip und verbieten sich daher, genau wie die missionierung, die ja sogar auch noch gegen die gewaltlosigkeit verstoßen hat, das höchste gebot aller religionen.

      auch mich hat übrigens „entschuldige, du gott“ damals zu tränen gerührt. es erschien mir als eines der schönst möglichen gebete, eben ein ganz anderes „mijn gebed“. auf deiner eigenen suche wünsche ich dir, dass du zu dir selbst findest.

      abschließend vervollständige ich noch das obige zitat:
      „die wahrheit [die religion] ist weder hinduistisch noch mohammedanisch, weder buddhistisch noch christlich! die wahrheit ist eine einzige homogene und ewige substanz. der anhänger der religion der wahrheit geht auf dem pfad des lichts, des friedens, der weisheit, der kraft und der wonne.“ (swami sivananda: „göttliche erkenntnis“. yoga-vidya verlag, S. 264).

  8. Habe deinen damaligen Eintrag gefunden, und diesen! Toll! Bei Facebook schrieb ich: „Toll. So toll, wenn man weiß, was man glaubt!“
    Finde schön, wie du deinen Nichtglauben dokumentierst!

    Ich hoffe, ich habe richtig verstanden, das du glaubst, das es Gott nicht gibt!
    Ich liebe Eindeutigkeiten.
    Ich selbst bin gläubig. Meine Orientierung ist eindeutig der dreieinige Gott, der Vater, der Sohn Jesus Christus, der heilige Geist.

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