In diesen Tagen und Wochen stellen sich alle die Frage: Kommt die große Koalition oder kommt sie nicht? Was die SPD angeht, muss sie kommen, und gleichzeitig darf sie es gar nicht. Die Sozialdemokraten können bei allem nur verlieren.
Nehmen wir mal an, die SPD-Mitglieder wehren sich in ihrem
Mitgliederentscheid gegen die große Koalition. Nehmen wir an, die Basis muckt tatsächlich auf und will eine gerechtere, sozialdemokratischere Politik, dann wird es vermutlich Neuwahlen geben. Ruft man das Volk in so kurzer Zeit erneut zu den Urnen, dürfte es tendenziell folgende Überlegungen anstellen:
1. ein zweiter Urnengang in so kurzer Zeit ist ein Zeichen für instabile Verhältnisse, Schuld daran ist die SPD, die es nicht geschafft hat, trotz ausgehandelten Koalitionsvertrages mit der Union zu regieren. Also wählen wir noch mehr die Union.
2. Schon wieder eine Wahl ist wieder nur ein politischer Schachzug. Da Alternativen zur Union ohnehin keine Chance haben, gehen wir gar nicht erst wählen.
3. Mit der FDP war alles viel einfacher und klarer, die haben nicht so rumgezickt wie die Sozis, also müssen die wieder ins Parlament. 4. Weil uns ohnehin alles von Brüssel auferlegt wird, brauchen wir eine eurokritische Partei im Bundestag, also wählen wir die AFD.
Bei Neuwahlen kann die SPD also kurzfristig nur verlieren.
Wenn die Sozialdemokraten sich aber bereit finden sollten, mit Angela Merkel zu koalieren, dann verschwinden sie hinter der übermächtigen Union, der nur 4 Stimmen zur Alleinherrschaft im Bund fehlen. Angela Merkel befände sich dann in der Situation eines Arbeitgebers, der jederzeit sagen könnte: Bitte, Sie müssen nicht hier arbeiten, draußen warten noch viele Andere auf diesen Job. 4 bzw. 5 Stimmen könnte man möglicherweise sogar über eine Abwerbeaktion von den Sozialdemokraten bekommen, das hat 1972 schon einmal beinahe funktioniert. Die SPD wird also gezwungen sein, ihre Forderungen massiv zurückzuschrauben und sie lediglich symbolisch zu erheben. Und nach 4 Jahren, wenn alles vorbei ist, hat sie erneut an Profil verloren wie in der Zeit von 2005 bis 2009, als sie schon einmal mit Angela Merkel eine große Koalition einging.
Was ist also die Alternative?
Die traurige Wahrheit ist: Für die SPD gibt es nur langfristige und schmerzhafte Perspektiven. Sie muss sich der großen Koalition verweigern und einen Selbstfindungsprozess anstoßen, sich von dem Erbe der Agendapolitik Gerhard Schröders trennen und klar Position für die Unterprivilegierten in diesem Land beziehen. Sie muss für die Arbeitslosen, die Leih- und Zeitarbeiter sprechen, für die Alleinerziehenden, die Kranken, die Menschen mit Behinderung und die Zuwanderer. Sie muss ein klares Profil erarbeiten zu Gunsten der Nichtwähler und der Menschen ohne Lobby. Dafür muss sie vorerst auf die Teilhabe an der Macht verzichten, und sie muss zusehen, wie CDU und FDP 4 weitere Jahre regieren. Sie muss ihre Fehler bekennen und ihren Kurs massiv ändern, sie muss auf die Linkspartei zugehen und darf keine Angst vor einem kritischen Dialog mit ihr haben.
Doch ich bezweifle, dass die SPD dazu in der Lage ist. Ob die Basis noch sozialdemokratisch denkt und abstimmt, werden wir in einigen Wochen erfahren. Dass die Parteispitze nicht bereit sein wird, einen radikalen Bruch mit der schröderschen Vergangenheit der Partei zu vollziehen, steht für mich hingegen ziemlich sicher fest. Ich fürchte, wir erleben den schnellen und unaufhaltsamen Untergang der klassischen Sozialdemokratie, gescheitert an ihrer Unfähigkeit, ihrer Anbiederei an die Macht und ihrem Wunsch, alle Volksschichten in gleicher Weise zu vertreten. Aus diesem Anspruch ist geworden, was immer daraus wird: Nachgiebigkeit gegenüber der stärksten Lobby.
Respekt: Das ist ein Beitrag wie ich ihne liebe. Kurz, präzise, sachlich, auf den Punkt.
Dass ich Dir vollinhaltlich zustimme, muss ich nicht extra betonen.
Danke. Jörg