Am vergangenen Wochenende tauchte eine bedenkenswerte Meldung in den Schlagzeilen auf. Bei einem inoffiziellen Internetreferendum in Venetien hätten sich 89 % der Bevölkerung für die Loslösung von Italien und die Gründung der „Republik Venetien“ ausgesprochen, mit der Lagunenstadt Venedig als Hauptstadt. Die mittelalterliche „Republik Venedig“, damals ein bekanntes internationales Zentrum von Handel und Verkehr, war für die Initiatoren das Vorbild für ihre gebietsvorstellungen im Bezug auf den neuen Staat. Nun fordern sie ein offizielles und bindendes Referendum.
Vor anderthalb Jahren habe ich über die zunehmenden Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa geschrieben. In Schottland, Katalonien, Flandern und anderen Gebieten gebe es zwar Bestrebungen für nationale Selbstständigkeit, dies gehe aber in der Regel nicht mit Nationalismus einher, sondern durchaus mit dem Wunsch nach europäischer Zusammenarbeit. Meistens wolle man mit der Unabhängigkeit die vom Zentralstaat ausgehende Unterdrückung der eigenen Sprache und Kultur abschütteln, schrieb ich damals sinngemäß. Doch die Abspaltungsbewegung in Venetien, die scheinbar so viel Zustimmung erfahren hat, belehrt mich eines Besseren. Dort nämlich wird keine Sprache und keine Kultur unterdrückt, es handelt sich lediglich um die reichste Region Italiens, und die Initiatoren sind rechte Parteien wie die berüchtigte Lega Nord, die einfach nicht mehr für den armen Süden des Landes mit zahlen wollen. Bei dieser Abspaltungsbewegung geht es um Egoismus und die Aufkündigung von Solidarität. Dasselbe gilt, in geringerem Maße aber mit ähnlichen Vorzeichen, für die Selbstständigkeitsbewegung in Flandern, auch wenn hier ein ethnischer Konflikt zusätzlich besteht. Viele Menschen fühlen sich, angeheizt von skrupellosen politischen Demagogen, ungerecht behandelt. Sie erwirtschaften den Reichtum eines Landes, können aber seine Früchte nicht genießen, weil sie die Überschüsse zur Finanzierung von Landesteilen abgeben müssen, die selbst nicht so produktiv sind. Bewusst werden soziale Ressentiments gegen diese Landesteile geschürt, deren Bewohner als faul oder als Schmarotzer bezeichnet werden. So bekommt die Unabhängigkeitsbewegung den scheinbar gerechten Anstrich der Selbstverteidigung.
Natürlich ist es verständlich, wenn Völker, die auf eine jahrhunderte alte Gemeinsame Geschichte und Kultur zurückblicken können, gern gemeinsam leben wollen. Die Kurden beispielsweise leben in der Türkei, in Syrien und dem Irak. In allen drei Ländern werden sie unterdrückt. Unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, ein von Lenin entwickeltes und von Wodrow Wilson übernommenes und angepasstes Prinzip, fordern sie einen eigenen Staat für ihre Nation, ihre Ethnie, ihr Volk. Doch das Prinzip hat eine unübersehbare Schwachstelle: Würde man heute einen kurdischen Staat gründen, dem die Siedlungsgebiete in allen drei Staaten angehören, so gäbe es in diesem Staat Kurdistan erneut mehrere Minderheiten, die sich auf das
Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen und eigene Staaten oder den Anschluss an die drei umliegenden Länder fordern könnten. Es gibt also die Gefahr der Atomisierung von Staaten, der Aufteilung in kleine und kleinste Einheiten, die wirtschaftlich nicht lebensfähig sind. Eine solche Entwicklung können wir derzeit in Georgien und auch in der Ukraine verfolgen, und sie hängt wie ein Damoklesschwert über allen Nachbarstaaten Russlands, in denen eine große russische Minderheit lebt, zum Beispiel über dem Baltikum. Der deutsch-britische Sozialwissenschaftler und Politiker Ralf Dahrendorf lehnte denn auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Prinzip ab. Obwohl Dahrendorf als Botschafter der „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ einen Großteil seines ehemals guten Rufes bei linksliberalen Kräften verspielte, bleiben seine Aussagen zum Völkerselbstbestimmungsrecht aus dem Jahre 1989 bedenkenswert: „Es gibt kein Recht der Armenier, unter Armeniern zu leben. Es gibt aber ein Recht für armenische Bürger ihres Gemeinwesens, Gleiche unter Gleichen zu sein, nicht benachteiligt zu werden, ja auch ihre eigene Sprache und Kultur zu pflegen. Das sind Bürgerrechte, Rechte der Einzelnen gegen jede Vormacht. Das sogenannte Selbstbestimmungsrecht hat unter anderem als Alibi für Homogenität gedient, und Homogenität heißt immer die Ausweisung oder Unterdrückung von Minderheiten.“ Bei den meisten Unabhängigkeitsbestrebungen muss es also darum gehen, das Leben jedes Bürgers innerhalb der bestehenden Staaten freier zu gestalten, in zusammenhängenden Siedlungsgebieten einklagbare Rechte für Minderheiten zu schaffen und ihnen so viel Autonomie zu gewähren, dass sie mit Angehörigen der eigenen Ethnie oder des eigenen Volkes innerhalb anderer Staatsgrenzen in Verbindung treten und gemeinsam ihr Brauchtum pflegen können.
Ganz anders liegt der Fall aber in Venetien. Dort mögen sich die Unabhängigkeitsverfechter auch auf eine große Geschichte berufen, die Geschichte der prachtvollen Stadt Venedig mit ihren Kunstdenkmälern und Prunkpalästen, doch die einfachen Bürger wird das kaum interessieren. Sie sehnen sich vielleicht nach vergangenem Reichtum, und die Demagogen nutzen diese Unzufriedenheit und diese Gier geschickt aus, aber Venetien wird von Italienern bewohnt, es ist keine eigene Nationalität oder Ethnie in Sicht. Im Vergleich zum Rest des Landes geht es dieser Region gut, und die Angst davor, dass es einmal nicht mehr so sein könnte, fördert diese kleinkarierte Kleinstaaterei. Für mich ist dieses so vollmundig angepriesene Referendum ein Ausdruck äußersten Egoismus und mangelnder Solidarität. Wir befinden uns mitten im Verteilungskampf der globalisierten Welt, und die Angst vor Bedeutungs- und Wohlstandsverlust führt zum Bestreben nach rücksichtslosem und panischem Rückzug.
Heute verläuft die Grenze zwischen Gruppen, die sich voneinander abgrenzen wollen noch entlang der ethnischen Unterscheidungen, noch ist die Nationalitätenfrage mindestens Vorwand für die Kleinstaaterei der Demagogen. Doch der Fall Venetiens zeigt, dass das künftige Unterscheidungsmerkmal mehr und mehr der Reichtum einer Region sein wird, der Wohlstand, den es zu verteidigen gilt. Nur wo die Wohlstandsgrenze noch mit der Siedlungsgrenze bestimmter ethnischer Gruppen übereinstimmt, tritt der moderne Verteilungskampf auch künftig noch im Gewand des klassischen nationalen Selbstbestimmungsbestrebens auf. Die Globalisierung wird diese Verteilungskämpfe nicht etwa überflüssig und unnötig machen, sondern sie wird sie befeuern und viel stärker hervortreten lassen. Aus dieser Falle können uns nur die absoluten Grundwerte der Gleichheit aller Menschen, der sozialen Solidarität und des Respekts vor Kultur, Sprache und Geschichte jedes Einzelnen befreien. Doch ich fürchte, dafür sind die politisch handelnden Eliten zu kurzsichtig.