Seit einigen Wochen berichten die deutschen Medien vom Vormarsch des „Terrornetzwerkes ISIS“ im Irak. Die Terroristen haben inzwischen die zweitwichtigste Stadt des Landes, Mossul, eingenommen und zwei wichtige Grenzposten nach Syrien erobert. Wie aber kann eine „Terrororganisation“ ganze Provinzen eines Landes erobern und besetzen?Und was ist überhaupt eine terroristische Organisation?
Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wird in Deutschland vom Terrorismus gesprochen, wenn eine Gruppierung, die unseren westlichen politischen Werten widerspricht, mit Gewalt Anschläge auf zivile Ziele durchführt. Die „Rote-Armee-Fraktion (RAF)“ war mit sicherheit die bekannteste deutsche Terrororganisation. Wodurch aber unterscheidet sich eine Terrororganisation von einer Guerillatruppe, als die sich die RAF seinerzeit selbst bezeichnete? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn schon im Jahre 1988 gab es 109 bekannte Definitionen von Terrorismus, und es werden noch viele hinzugekommen sein. Das Problem ist, dass fast jeder Staat alle gewaltsam agierenden Gruppen, die gegen die eigenen politischen Werte gerichtet sind, als Terroristen bekämpft. Manchmal trifft das auch Gruppen, die gar nicht gewaltsam vorgehen, sondern sich lediglich öffentlich für Veränderungen einsetzen, oder für die Einhaltung der Menschenrechte.
Wenn man eine Terrororganisation also nicht eindeutig definieren kann, so kann man sie doch anhand verschiedener Merkmale beschreiben: Eine Terrororganisation agiert im Geheimen, verübt unberechenbar Anschläge auch auf zivile Ziele, nimmt den Tod unschuldiger und nicht betroffener Personen in Kauf, zielt nicht auf Eroberung, sondern versucht, Angst und Schrecken zu verbreiten und die Menschen in ihrem Denken zu beeinflussen, wendet aber zu diesem Zweck physische Gewalt an. Solche Organisationen sind in der Regel nicht staatlich legitimiert, aber sie verfolgen eindeutige politische Ziele. In der öffentlichen Wahrnehmung sind Terroristen in der Regel ein paar Spinner, versprengte Verbrecher oder gewöhnliche Kriminelle, die politische Ziele als Vorwand für ihre Straftaten benutzen. Eine Guerillatruppe hingegen kämpft militärisch organisiert für ein politisches Ziel und versucht, das Land, um das sie kämpft, unter ihre Kontrolle zu bringen. Wenn Medien über eine Organisation schreiben, sie sei eine Terrororganisation, dann entsteht das Bild vom kranken Hirn, vom politisch überdrehten Psychopaten, vom unberechenbaren Mörder. Mit Organisationen, die man politisch ernst nehmen muss, muss man sich auseinandersetzen, mit gewaltbereiten Spinnern nicht, die muss man nur mit überlegenen militärischen Mitteln besiegen.
Diesen Fehler machen die Medien und auch die Politik bei der sogenannten „Terrorgruppe ISIS“. ISIS bedeutet „islamischer Staat im Irak und Groß-Syrien“. Zu diesem Gebiet gehören neben Syrien selbst noch der Libanon, Israel, die palästinensischen Autonomiegebiete und Jordanien. Auf diesem Gebiet will ISIS also einen islamischen Gottesstaat errichten. Ursprünglich einmal ging sie aus dem Netzwerk „al-Qaida“ hervor und war somit tatsächlich ein Splitter eines Terrornetzwerrkes. Al-Qaida operiert in verschiedenen Ländern mit geheimen Anschlägen aus dem Untergrund heraus, ohne Gebiete erobern zu wollen und mit dem Ziel, den Geist, nicht den Raum zu besetzen. Doch seit Mitte 2013 ist ISIS selbstständig, hat sich von al-Qaida getrennt und tausende von Kämpfern rekrutiert. Es gibt das eindeutige Ziel, einen sunnitisch-islamischen Gottesstaat im Irak, Syrien, dem Libanon, Israel, Palästina und Jordanien zu errichten. Dieses Ziel wird im syrischen und im irakischen Bürgerkrieg mit militärischen Mitteln verfolgt. Ganze Provinzen werden erobert, die eroberten Gebiete werden zivil verwaltet. Damit hört ISIS endgültig auf, eine Terrororganisation zu sein und wird zum militärisch agierenden Kriegsteilnehmer. Und genau so müssen wir die Dschihadisten auch behandeln. Natürlich wird es fast unmöglich, mit ihnen zu Verhandlungslösungen zu kommen. Ihr Selbstverständnis lässt dies kaum zu. Die ISIS-Anhänger sind so radikal, wie ein Sunnit nur sein kann, von Menschenrechten halten sie überhaupt nichts, von Demokratie ebenfalls nicht. Ihre schiitischen Glaubensbrüder sind ihre Todfeinde, aber auch die gemäßigten Sunniten, die Christen und die demokratischen Kräfte im syrischen Widerstand. Trotzdem wird es Zeit, ISIS mehr als nur einen abfälligen Blick zu widmen.
Immer wieder wenden die Medien moralische Maßstäbe an, um
Terrororganisationen zu definieren, dabei wird aber übersehen, dass z. B. ISIS die Unterstützung eines großen Teils der sunnitischen Bevölkerung des Iraks besitzt. Man kann die Radikalität dieser Gruppe verurteilen, aber man kann sie nicht durch die Bezeichnung „Terrororganisation“ als Machtfaktor ausschalten. Hier im Westen hat das Wort „Terrorismus“ eine zweifache Wirkung: Zum Einen wird die Gruppe, die man so bezeichnet, politisch degradiert, zum Anderen wird aber die Angst vor ihr über die Maßen geschürt. Das dient innenpolitisch den Sicherheitsfanatikern, und es dient den Medien, die mit immer neuen Schreckensmeldungen Quote machen und damit ihre Verantwortung als vierte Gewalt im Staat vernachlässigen.
Würde man sich mit ISIS wirklich auseinandersetzen, dann müsste man sich die Frage stellen, wie sich die Organisation finanziert. Banküberfälle sind es sicher nicht. Damit konnte sich die RAF über Wasser halten, aber selbst das eher schlecht als recht. Man muss darüber nachdenken, dass Teile der Staatshaushalte Syriens und des Iraks bereits in die Kassen der Dschihadisten fließen, dass die irakische Armee mit 30.000 Mann geflohen ist, als 800 Gotteskämpfer anrückten, dass ISIS bereits ein Gebiet erobert hat, dass größer als Hessen ist und genügend Einwohner hat, um von ihnen Steuern einzutreiben. In Syrien fördert ISIS bereits Öl und verkauft es an die Regierung Assad, ihren Todfeind. Und der ist sich nicht zu schade, dieses Öl auch zu kaufen. Der Vormarsch dieser Gruppe, die viel Zuspruch in der von der irakischen Regierung und den USA unterdrückten Sunnitischen Bevölkerung des Landes besitzt, wird nur schwer zu stoppen sein. Zum Schrecken für die Zivilbevölkerung mag dieser Vormarsch führen, doch ISIS ist weit mehr als eine terroristische Vereinigung. Sie ist ein Machtfaktor, den man ernstnehmen muss.