Jetzt, da ich hier sitze und diesen Text zu schreiben beginne, weiß ich noch nicht, ob ich ihn veröffentlichen werde oder nicht. Wenn ihr, liebe Leser, diesen Text also lest, wisst ihr schon, im Gegensatz zu mir jetzt, dass ich mich für die Veröffentlichung entschieden habe.
Es ist einer dieser Abende, an denen ich weiß, warum ich ein Privatblog habe. Im Hasten des Alltags komme ich kaum dazu, intensive, tiefe Gedanken zu denken, Gedanken, die sich nicht so sehr mit aktuellen Themen befassen. Aber an so einem Abend wie heute fällt es ganz leicht.
Es ist wohl, weil ich allein bin. Meine Liebste ist auf einem Seminar wo es um faire und erfolgreiche Kommunikation für Führungskräfte geht. Und eben saß ich hier, wie oft am ersten Abend, wenn ich allein bin, und dann habe ich mir vorgestellt, irgendetwas würde passieren und ich würde allein bleiben, meine Liebste käme nicht zurück. Es wäre nicht der erste Verlust meines Lebens, aber es wäre der heftigste, den ich mir vorstellen kann. Mein ganzes, mühsam geordnetes Leben würde zusammenbrechen. Ich würde allein aufwachen, müsste mit dem Alltag allein fertig werden und würde allein einschlafen. Nun könnt ihr zurecht sagen, dass jeder in dieser Gefahr lebt. Aber für mich wäre es die denkbar größte Katastrophe, die es in meinem Leben geben könnte, und ich habe schon einige Katastrophen hinter mich gebracht. So gern ich die Möglichkeit eines solchen Unglückes wegschiebe, es kommt mir immer wieder in den Sinn und macht mir eines klar: Das Leben ist endlich, und ich habe nur eines davon.
Einige von euch mögen jetzt vielleicht einen religiösen Gedanken haben. Ich verstehe und akzeptiere es, aber religiöse Gedanken an das Jenseits oder so etwas spielen für mich keine Rolle. Ich kann daran nicht glauben, also kann es mich nicht trösten, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es viele Menschen trösten kann, und ich wünsche ihnen, dass sie sich diesen Schatz bewahren können. Dieser Text aber hat nichts mit Religion zu tun.
Das Leben also ist endlich und wir haben nur eines davon. Und es zieht so schnell vorbei. Eben noch saß ich mit meinen Eltern auf der Terrasse unseres Häuschens im niederländischen Heelderpeel, schon ist das haus abgerissen, die Eltern Tod und ich selbst mehr als 25 Jahre älter. Eben noch war mein Bruder 43 Jahre alt und starb, jetzt bin ich schon 46, und 23 Jahre sind seither vergangen, ein halbes Leben. Und ich habe meinen Bruder damals für alt gehalten. Aufhalten lässt sich die Zeit nicht, sie ist unbezwingbar, so sehr wir gegen sie ankämpfen, und so sehr wir gegen sie anfeiern oder sie zu ignorieren versuchen. Irgendwann wird einer von uns, Meine Liebste oder ich, diesen Schmerz des Verlustes des Anderen erleben müssen, einer wird damit leben müssen, das ist bereits jetzt absehbar, auch wenn es nicht vorstellbar ist. Wichtig ist, dass uns das trotzdem nicht daran hindern sollte, das Leben zu genießen, denn wir haben nur eines, und das ist endlich.
Ich sagte es schon: Für mich ist dieses Leben, das ich führe, für das ich dankbar und glücklich bin, mühsam aufgebaut. Von Natur aus ein eher unsicherer Mensch, neige ich oft dazu, angefangene Projekte hinzuschmeißen, mich abschrecken zu lassen, meine Position nicht zu verteidigen. In größeren Menschengruppen fühle ich mich selten wohl, obwohl ich gern grille und feiere und singe, aber dann müssen es vertraute Menschen sein. Das Leben zu genießen, es einfach mitzunehmen, fällt mir nicht leicht. In allem sehe ich eine Aufgabe, und schnell bin ich davon überzeugt, etwas falsch gemacht zu haben, wenn es um Kontakt mit anderen Menschen geht. Darum ist jeder Tag, an dem ich meine Pflicht gegenüber dem Ohrfunk erfülle, und sei meine Lust noch so gering, ein Gewinn, ein Sieg. Seit 10 Jahren habe ich dieses Projekt nicht hingeworfen, hat mich keine große depressive Stimmung heimgesucht, ist niemand gestorben, der mich dann aus der Bahn geworfen hätte. Seit 10 Jahren lebe ich stabil vor mich hin und weiß: Dieses Leben, wie ich es lebe, hat einige Macken, ich könnte mir Verbesserungen vorstellen, aber ich stehe hier und falle nicht um. Weil ich mich und meine Schwächen kenne, macht mich das stolz. Und es führt dazu, dass ich mir des Glücks, in dem ich lebe, bewusst bin. Ich habe meine Sorgen, vieles am alltag fällt mir schwer, ich bin nicht für den ersten Arbeitsmarkt geschaffen und so weiter, aber entgegen mancher früheren Tage, Wochen, Monate und sogar Jahre geht es mir richtig gut.
Das Leben ist endlich, und wir haben nur eines. Das verlangt Achtsamkeit. Nur in einer Gemeinschaft, die achtsam miteinander umgeht, kann der Einzelne das Beste aus seinem Leben machen. Und jeder, der will, dass er die Chance erhält, sein Leben zu genießen, es zu bereichern oder lebenswert zu gestalten, verlangt von seinem Umfeld eben diese Achtsamkeit. Dann müsste es ja auch selbstverständlich sein, dieselbe Achtsamkeit den Mitmenschen zukommen zu lassen. Wir wissen alle, dass viele Menschen das nicht tun. Aber in diesem einmaligen, endlichen Leben kann jeden von uns einmal ein Schicksalsschlag treffen. Dem einen Stirbt der oder die Liebste, dem anderen brennt die Wohnung vollständig aus, der dritte muss fliehen, weil er homosexuell ist, der vierte wird von seiner Regierung verfolgt, weil er die falsche Religion hat. Von Achtsamkeit für das eine, einmalige, kurze Leben ist weit und breit nichts zu sehen.
Ich für meinen Teil schreibe, versuche die Achtsamkeit durch das Wort zu erbringen. Natürlich kritisiere ich dabei heftig: amtsträger, Staaten, Organisationen, Entscheidungen, Entwicklungen und ganze Gruppen, auch einzelne Menschen in bestimmten Zusammenhängen. Aber das ist es auch. Ich kritisiere sie, möchte aber auch ihnen mit Achtsamkeit begegnen, möchte ihnen nicht das Leben in der Weise schwerer machen, wie ich es auch nicht schwerer haben möchte. Ich möchte mich für eine Gesellschaft einsetzen, in der jeder Mensch so geachtet wird, dass er sein einmaliges, kostbares Leben ausgestalten kann.
Als Hartz-IV-Empfänger in Deutschland gehöre ich sicher nicht zu den Privilegierten, und ich prangere die Ungerechtigkeit auch immer wieder mal an. Aber nie würde ich verkennen, dass ich das aus einer Luxusposition heraus tue. Ich habe eine Wohnung mit Waschmaschine, warmem Wasser, einem großen Bett mit Bettzeug, genug und oft zu viel zu essen, Kaffee, einen Computer, Internet, CD’s, bin, wenn auch nicht gegen alles, krankenversichert, habe eine wunderbare Frau, kann, wenn auch zunehmend mit mehr Unbehagen, meine Meinung frei äußern und muss mir höchstens die schwere Frage beantworten, ob ich heute die Salami- oder die Thunfischpizza essen will. Natürlich kann ich nicht alles haben, was ich mir in meinen Träumen wünsche, aber es ist niemandes persönliche Schuld, dass es so ist, oder wenn doch, dann richtet jedenfalls niemand seine Maßnahmen und seinen hass gegen mich persönlich. Dessen bin ich mir immer bewusst: Ich habe diese Achtsamkeit in meinem Leben erfahren, trotz schrecklicher Todesfälle, vieler Depressionen, trotz des Zerfalls meiner geliebten Familie. Und übrigens: Niemand kann sich alle seine Träume erfüllen.
Wenn ich heute die Hassdemos vor Flüchtlingsheimen sehe, frage ich mich: Was wollen die eigentlich da? Denen geht es doch genau so gut wie mir? Wovor haben die Angst? Vor der Zukunft? Nun: Vermutlich wird man ihnen in Zukunft auch den Kopf nicht abschlagen, und genug zu essen und zu trinken werden sie auch haben, wenn 100.000 oder sogar 1.000.000 neue Menschen ins Land kommen. Teile der Industrie werden dabei sogar profitieren. Warum verweigern sie anderen die Möglichkeit, ihr Leben zumindest lebenswert zu gestalten, die sie selbst doch haben? Die ganze Zeit über?
Das Leben ist einmalig und endlich, und es ist kurz. Am Abend ist wieder ein Tag verstrichen. Entweder man fragt sich dann: Habe ich ihn gelebt? Oder man schiebt den Gedanken weg und freut sich an kleinkarierten Triumphen. Wird das Leben besser, wenn man mehr Waschmaschinen, mehr Autos und mehr Smartphones hat?
Mir fällt gerade so ein altes Klischee ein, dass nämlich arme Menschen am freigiebigsten sind. Vielleicht ist das so, weil sie sich jeder Kleinigkeit, die sie in diesem endlichen, einmaligen Leben besitzen, viel mehr bewusst sind, und weil sie die anderen Menschen mit denselben Augen sehen. Aber das nur am Rande.
Fragt sich jemand, was ich in dem ganzen Wust meiner Gedanken eigentlich sagen will? Wer andere hasst und nur so sein Leben aufwerten kann, der weiß und begreift nicht, wie viel Wert es schon an sich hat. Die Flüchtlinge selbst, die zu uns kommen, die begreifen diesen Lebenswert, schließlich haben sie unendliche Strapazen auf sich genommen, um ihr Leben zu retten. Viele hier in Deutschland gehen jedenfalls mit ihrem einmaligen, kurzen Leben ganz anders um.
Hoppla, jetzt habe ich doch aktuelle Themen gestreift, aber das blieb ja nicht aus, weil es mich beschäftigt, was Menschen hier in Deutschland dazu bringt, andere Menschen so zu hassen. Das ist aber nicht das Einzige, was mir zum Thema Achtsamkeit für das eigene Leben und damit auch für das Leben anderer Menschen einfällt. Ich frage mich, wie ich wohl auf mein Leben kurz vor meinem Tod zurückblicken werde. Mit Bedauern? Vielleicht, weil ich einige Dinge nicht erreicht habe, die ich erreichen wollte? Nun, das wird jedem so gehen, und mehr als ein kurzes Bedauern ist da auch nicht zu erwarten. Aber in anderer Hinsicht werde ich mich fragen, was ich aus meinem Leben gemacht habe. Werde ich mich zu viel mit sinnlosem beschäftigt haben? Habe ich die anwesenheit anderer Menschen, den größten Schatz, den ein Mensch haben kann, auch genügend zu würdigen gewusst? Ich weiß schon, dass ich da nicht ganz zufrieden mit mir sein werde. Die Frage: Was hätte ich aus diesem Leben mit seinen Möglichkeiten machen können, und ich meine nicht die Karriere, die man ohnehin nicht mit ins Grab nimmt, sondern Dinge, die zufrieden machen, diese Frage werde ich mir stellen. Habe ich das Leben gelebt, genossen, und zwar so, dass von diesem Genuss noch etwas zu spüren ist, dass er also eine gewisse Dauer vermittelt hat? Niemand hat unendlich viel Zeit, und die Kunst des Lebens ist es vermutlich, sich dessen immer bewusst zu sein, ohne dass es Druck macht.
Ich sitze hier an einem ruhigen Abend, an dem ich allein bin. Es ist ein Moment, in dem ich das Leben bewusster wahrnehme als sonst oft. Dann nehme ich mir vor, ab jetzt besser aufzupassen, aufmerksamer zu sein, sanftmütiger mir und allen Anderen gegenüber. Eine Weile wird es gehen, dann wird mich irgendeine volle Woche, irgendein unvorhergesehenes Ereignis doch aus der Bahn werfen. Vielleicht nicht lange, aber immerhin lange genug, um nicht bewusst an den heutigen Abend und seine Erkenntnisse zu denken. Aber ich werde meine Pflichten jeden Tag erfüllen, Pflichten, die ich mir ausgesucht habe, die mir nicht immer spaß machen, die ich aber eingegangen bin, und wenn ich sie erfüllt habe, werde ich zufrieden sein. Wieder ein Sieg. Ein Sieg für Zuverlässigkeit und Achtsamkeit, schließlich verlassen sich Menschen auf mich, die auch ihr Leben haben, dass es verdient, geschätzt und gepflegt zu werden. Und bestimmte Dinge werde ich hoffentlich nie tun: Hassen, grundlos neidisch sein, Würde und Recht meiner Mitmenschen missachten. Das ist für mich so wichtig wie die Arbeit für den Ohrfunk.
Wenn ich an so einem einsamen ersten Abend meiner sturmfreien Bude hier sitze und nachdenke, dann kann es geschehen, dass ich mich frage, was wohl geschehen würde, wenn ich durch irgendein Unglück jetzt allein bliebe. Wieviele Menschen würden mir die Achtsamkeit entggegen bringen, die ich brauchen könnte? Ich hoffe, es wären einige. Nur in einer achtsamen Gemeinschaft lässt sich ein gutes Leben entfalten, denn es ist endlich und einmalig.
Und jetzt? Schicke ich diesen Text ab? Es ist eher ein sammelsurium als ein gut organisierter Beitrag. Aber ich schreibe ja auch für ein Privatblog und nicht für eine große Zeitung oder so. Also gut: Enter!