Den folgenden Beitrag schrieb ich am 3. Dezember 2015 für den Ohrfunk und „Die Brücke“, eine Zeitschrift für junge, blinde Leser.
Das Bundeskabinett hat einen mindestens einjährigen Einsatz der Bundeswehr in Syrien beschlossen. Das deutsche Militär soll vor allem Aufklärungsflüge durchführen und einen Flugzeugträger der franzosen schützen, aber auch Kampfflugzeuge betanken. Der Bundestag soll diesem Einsatz am Freitag zustimmen. Doch abgesehen von seiner strategischen Sinnlosigkeit, die selbst von Nato-Experten deutlich geäußert wird, verstößt der Krieg in Syrien gegen den sogenannten islamischen Staat auch gegen das Völkerrecht.
In den siebziger und achtziger Jahren hätte jede Bundesregierung einen Einsatz deutschen Militärs außerhalb der Landesgrenzen strikt und kategorisch abgelehnt. Unter Hinweis auf die Nazi-Greuel wäre jeder Versuch, die Bundesrepublik zur Beteiligung an internationalen Missionen zu bewegen, kompromisslos abgeschmettert worden. Das galt auch für UN-Blauhelmeinsätze unter Zustimmung aller Beteiligten. Vor 20 Jahren hat sich die Situation gewandelt. Seit damals kann die Bundeswehr an UN-Missionen und auch an Nato-Einsätzen teilnehmen, solange sie im Einklang mit dem Völkerrecht durchgeführt werden. Inzwischen haben wir uns längst daran gewöhnt, dass deutsche Soldaten zur Sicherung von Handelswegen und Rohstoffen Krieg führen, dass sie sich aber zurückziehen, obwohl die Menschenrechte und die Gleichberechtigung, derentwegen sie einmal offiziell angetreten sind, keinen Schritt voran gekommen sind. Der neue Einsatz in Syrien soll nun zur Sicherung des Weltfriedens und zur Unterstützung eines angegriffenen befreundeten Staates erfolgen, denn Frankreich hat nach den Anschlägen von Paris die europäische Union offiziell um militärische Hilfe ersucht. Trotzdem ist der Einsatz vom Völkerrecht meiner Ansicht nach nicht gedeckt.
Deutsche Soldaten dürfen nach dem Grundgesetz an militärischen Einsätzen außerhalb der Landesgrenzen nur teilnehmen, wenn sie dies im Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems tun. Hier kommen vor allem die UNO und die Nato in betracht. Wenn der UN-Sicherheitsrat einen internationalen Militäreinsatz ausdrücklich ermächtigt, wäre ein solcher Einsatz also theoretisch möglich. Auch die Nato könnte, wenn eines ihrer Mitglieder auf seinem Territorium angegriffen wird, einen solchen Einsatz anordnen, allerdings auch nur im Einklang mit dem internationalen Recht der vereinten Nationen. Was dagegen kaum jemand weiß: Die europäische Union kennt ebenfalls eine militärische Beistandsklausel. Auf Antrag eines angegriffenen Mitgliedes können die EU-Staaten gemeinsam die kollektive Selbstverteidigung durchführen. Grundlage ist aber auch hier die Charta der vereinten Nationen.
Diese UN-Charta kennt zwei Rechtsgrundlagen für einen Militäreinsatz: Entweder es liegt eine Resolution, also ein Beschluss des
UN-Sicherheitsrates vor, der den Weltfrieden bedroht sieht und die Staaten ausdrücklich zum allgemeinen Einsatz ermächtigt, oder ein Staat und seine Verbündeten nehmen für sich nach einem Angriff auf ihr Territorium das Recht der kollektiven Selbstverteidigung in Anspruch. Dieses Recht gilt aber nur, bis der Sicherheitsrat gegebenenfalls eigene Beschlüsse fasst.
Auf dieses Recht zur kollektiven Selbstverteidigung beruft sich Frankreich. Denn der UN-Sicherheitsrat hat zwar die Angriffe des IS verurteilt und als eine Bedrohung des Weltfriedens charakterisiert, daraus aber nicht die in einem solchen Falle normalerweise üblichen Konsequenzen gezogen. Er hat keine Ermächtigung zum Militäreinsatz ausgesprochen, weil sich die USA und Russland nicht einigen konnten, wie man mit dem derzeitigen syrischen Machthaber Assad umgehen soll. Deshalb blieb es bei einer allgemeinen Aufforderung, alle notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen. Ohne das Sicherheitsratsmandat bleibt den Franzosen nur noch, wie bereits gesagt, die Kollektive Selbstverteidigung.
Die UN-Charta erlaubt einen Einsatz in diesem Falle dann, wenn ein Mitgliedsland der vereinten Nationen durch einen bewaffneten Angriff getroffen wird. Was aber ist ein bewaffneter Angriff? Können Terroranschläge überhaupt bewaffnete Angriffe im Sinne der Charta der vereinten Nationen sein? Darüber streiten sich die Juristen. Als bewaffnete Angriffe galten früher nur Angriffe regulärer Armeen mit militärischem Gerät und klaren Fronten und Strategien. Terroranschläge waren Sache der Polizei. Ihre Waffenkraft erreichte nie die Intensität von Angriffen regulärer militärischer Einheiten. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington hat sich die Sichtweise auf solche Angriffe verändert. Die Intensität der eingesetzten Waffen bedrohte nicht nur erhebliche Teile der Bevölkerung, sondern durch die Angriffe auf das Pentagon und den versuchten Anflug auf das weiße Haus auch die USA in ihrer Staatlichkeit, also die Spitzen von Regierung und Militär. „Würden reguläre Streitkräfte versuchen, den Regierungssitz und das Verteidigungsministerium eines anderen Staates zu zerstören, würde kaum jemand Zweifel daran äußern, dass es sich um einen bewaffneten Angriff handelt“, meint der Völkerrechtler Jasper Finke im Tagesschau-Interview und fährt fort: „Überträgt man dies auf die Anschläge in Paris, so ist neben den zivilen Opfern entscheidend, dass der fehlgeschlagene Anschlag im Stade de France nicht nur den Zuschauern galt, sondern nach derzeitigen Kenntnissen auch Präsident Francois Hollande.“ Für ihn steht also fest, dass die Terroranschläge von Paris ein bewaffneter Angriff waren und deshalb Frankreich eine Legitimation hat, sich auf die kollektive Selbstverteidigung mit anderen Staaten zu berufen, ohne eine Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates abzuwarten.
Anders sieht das Professor Hans-Joachim Heintze von der Ruhr-Universität in Bochum. Wenn man sich auf die Selbstverteidigung berufe, müsse vorher ein Angriff von einem anderen Akteur, einem Staat oder einer staatsähnlichen Organisation, ausgegangen sein, erklärte er dem Deutschlandradio Kultur. „Das Problem in Frankreich ist, dass die Täter, die diese Anschläge ausgeführt haben, französische beziehungsweise belgische Staatsangehörige waren, und insofern ist schwer zu erkennen, wo jetzt eigentlich die Dimension liegt, dass ein fremder Akteur Frankreich angegriffen hat“, sagte Heintze wörtlich.
Dem kann ich mich nur anschließen. Es waren internationale und teilweise nationale Kriminelle mit besonderer Radikalität, die – wie in Deutschland früher die RAF, die sog. „rote Armee Fraktion“ – Anschläge auf zivile und politische Ziele durchgeführt haben. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, Krieg in Jordanien oder im Libanon zu führen, weil die Terroristen, die für die RAF damals ein Flugzeug entführten, um ihre Genossen freizupressen, Palästinenser waren, die dort ihr Hauptquartier hatten. Die Zahl der Opfer hat sich erhöht, aber hätte das palästinensische Terrorkommando damals das Flugzeug in die Luft gesprengt, hätte dies auch über 100 Menschenleben fordern können.
Meiner Ansicht nach ist kein geregelter bewaffneter Angriff auf Frankreich erfolgt, zumindest nicht so, wie das Völkerrecht es verlangt. Ein internationaler Militäreinsatz ist daher nicht gerechtfertigt, eine deutsche Beteiligung erst recht nicht. Das heißt natürlich nicht, dass man gegen den IS, der in Syrien und dem Irak tatsächlich militärische Basen unterhält und junge Kämpfer ausbildet, nichts unternehmen soll. Aber Luftangriffe und Bodentruppen lösen das Problem nicht, sie verschärfen es, und sie hinterlassen einen weiteren zerstörten Staat, wie man am Beispiel Afghanistans und des Iraks sieht. Man müsste vielmehr gegen die Geldquellen der Terrororganisation vorgehen, dürfte in keinen der Staaten, die mit dem IS in Kontakt stehen, mehr Waffen liefern, und müsste etwas gegen die Diskriminierung tun, der Menschen muslimischen Glaubens in Europa oft ausgesetzt sind. Kriegsspiele und Bombenterror sind nicht nur das falsche Signal, sie sind auch zynisch und menschenverachtend.