Warum ich kein Nachrichtenjunkie mehr bin

Als Kind habe ich oft abends neben meinem Vater gesessen und die Tagesschau verfolgt. Ich war acht Jahre alt, und linke Terroristen hatten gerade den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer entführt. Seither war ich ein Nachrichtenjunkie, einer, der sich täglich informieren musste, sein Ohr am Puls der Zeit hatte, sich ein Leben ohne Nachrichtensendungen nicht vorstellen konnte. In diesem Jahr aber ist etwas merkwürdiges passiert: Für rund 4 Monate habe ich mich ganz bewusst von den Nachrichten ferngehalten. Mein Interesse am Weltgeschehen hatte nicht nachgelassen, doch ich verzichtete auf meine tägliche, hektische und oberflächliche Nachrichtendosis. Dabei kam ich zu einigen schmerzhaften und interessanten Erkenntnissen, und heute bin ich kein Nachrichtenjunkie mehr.

Das erste, was ich feststellte war, dass es mir besser ging. Dabei hatte sich der Zustand der Welt nicht verändert, und ich hatte mich auch nicht vor ihr verschlossen. Es wurde mir nur ziemlich schnell klar, was ich auf der intellektuellen Ebene schon immer wusste: Die Nachrichten, vor allem die hektischen Eilmeldungen, Brennpunkte, Live-Streams, all das vermittelt kein realistisches Bild vom Weltgeschehen, sondern greift nur die spektakulärsten, katastrophalsten und möglicherweise populärsten Entwicklungen heraus. Nicht nur Sex sells, sondern auch und gerade Katastrophen. Privatwirtschaftlich organisierte Medien wissen dies, und da die öffentlich-rechtlichen Anstalten sich als Konkurrenten der Privaten betrachten, nicht als echte Alternative, stoßen sie mit in dasselbe Horn. Ohne die tägliche Katastrophenhektik fühlt man sich besser und kann seine Kraft viel besser nutzen, um tatsächlich etwas zu bewegen, und sei es auch nur im eigenen Umfeld.

Denn – so eine weitere Erkenntnis – durch das Verfolgen der tagesaktuellen Nachrichten erreicht man absolut nichts. Manchen mag es als eine bürgerliche Pflicht erscheinen, informiert zu sein, und das kann ich auch gut nachvollziehen. Nur: Durch die oberflächliche und alarmierende Katastrophenberichterstattung bin ich nicht besser informiert, ich bin nur besorgt, verschreckt oder verzweifelt. Es bedarf einer gewaltigen Kraftanstrengung, die Nachrichtenflut zu verdauen. Mit der Zeit hätte ich auch etwas engagierteres Anfangen können, wofür mir nach dem Genuss der fünften Eilmeldung am Tag die Lust und die Energie fehlt, und auch der Mut. Eben weil sich schlechte Nachrichten besonders gut verkaufen, hinterlassen sie oft ein Gefühl der Niedergeschlagenheit, und die Lage der Welt wird noch verzweifelter und hoffnungsloser dargestellt, als sie ohnehin schon ist.

Schon seit vielen Jahren gehöre ich eher zu den Menschen, die sich über die Themen, die sie besonders interessieren, vertiefend informieren wollen. Ich Hasse die Radioberichterstattung, in der ein Beitrag die Länge von 2, 5 oder auch 7 Minuten nicht überschreiten darf, weil es den Hörer nach Meinung der News-Experten sonst überfrachtet. Ich sehe das ganz anders: Eine Vielzahl kleiner, unterschiedlicher Berichte mit sehr geringem Tiefgang hinterlässt mehr Ratlosigkeit, als wenn man einen langen, vertiefenden Bericht über ein bestimmtes Thema liest, der dieses Thema von vielen verschiedenen Seiten beleuchtet und Perspektiven aufzeigt. Das eine ist Sensationsmache, das Andere ist echte, nützliche und nachhaltige Information.

Bei den täglichen Nachrichten geht es um Ungerechtigkeit, Katastrophen, Krieg und Mord. Das sind alles Aspekte unserer Welt, und sie sind sicher weit verbreitet. Doch die Tatsache ihres Vorhandenseins allein bringt niemanden weiter. Man glaubt, man nimmt Anteil an der Welt, wenn man sich die schrecklichsten Tagesschaubilder reinzieht, bis man abstumpft, doch in Wahrheit befriedigt man nur seine eigene, jedem Menschen gegebene Sensationslust, ohne etwas für den Zustand der Welt zu tun. Man kann tagelang Liveticker über die Flüchtlingskrise verfolgen und sich aufregen, aber man kann stattdessen auch zwei oder drei Bücher über die Hintergründe lesen. Mir ist klar, wer über die weltweiten Fluchtwellen, ihre Ursachen und die Möglichkeiten zu ihrer Eindämmung besser informiert ist. Vertiefende Hintergrundinformationen, das Verstehen größerer Zusammenhänge versetzt uns erst in die Lage, uns zu engagieren, den Hassparolen der Sensationsgeilen zu widerstehen und uns wirklich für Veränderungen einzusetzen.

Vor 40 Jahren mit meinem Vater die Tagesschau zu schauen, einmal am Tag eine viertel Stunde, hat mich der Welt tatsächlich näher gebracht. Als achtjähriger verstand ich die Hintergründe kaum, aber ich hatte ja meine Eltern, die ich fragen konnte. Später habe ich dann gern Sendungen gehört, die sich vertiefend mit einem oder zwei Themen befassten, ohne in Streitgespräche auszuarten. Doch irgendwann packte mich die Nachrichtenmanie. Beim Geiseldrama von Gladbeck, bei den Anschlägen vom 11. September, beim Ausbruch des Irak-Krieges, immer saß ich am Radiogerät und verfolgte die aktuellen und aktuellsten Meldungen. Heute weiß ich, gerade nach diesem aufgeregten, katastrophalen Jahr 2016, dass wir vertiefenden, ruhigen, konstruktiven Journalismus brauchen. Um die Welt zu verstehen, müssen wir nicht den täglichen Nachrichtenstrom in uns aufnehmen, das können wir ohnehin nicht, sondern wir müssen uns wirklich auf die Themen einlassen, die uns im Herzen interessieren, die uns berühren. Es ist nicht schlimm, dass wir uns nicht für alles interessieren, es ist kein Davonlaufen vor der Welt. Nur dem, was für uns wirklich wichtig ist, sollten wir uns auch mit dem nötigen Tiefgang widmen.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Journalismus, auch tagesaktueller Journalismus, ist wichtig und unverzichtbar. Aber eine Zeitung, die nicht im Minutentakt tickert, sondern die auch eine gewisse Einordnung der Tagesereignisse vornimmt, über die man nachdenken und an der man seine eigene Meinung formen kann, ist mir viel lieber als die abgerissene Sensationsberichterstattung ohne Hintergründe und vertiefende Darstellungen, wie sie im Fernsehen, im Internet und zunehmend auch im Radio stattfindet.

Daher habe ich aufgehört, ein Nachrichtenjunkie zu sein.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Warum ich kein Nachrichtenjunkie mehr bin

  1. Herbie sagt:

    Gut geschrieben, besser noch die Gegenüberstellung von intellektueller Ebene und eigenem Verhalten, die Schlussfolgerungen daraus, und am Besten als Ergebnis ein sich „besser fühlen“.

    Erholsame Tage

    Herbie

  2. Franz Firla sagt:

    Da kann ich (fast) jeden Satz unterstreichen! Nur, es ist so schwer, davon los zu kommen. Weil sie ja alle davon reden und man möchte mitreden können.

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