Willkommen im neuen Deutschland – mein Radiokommentar zur Wahl

Den folgenden Kommentar habe ich heute bim Ohrfunk veröffentlicht.

Willkommen im neuen Deutschland.

Sagen Sie mir, was ich Ihnen jetzt kluges sagen soll. Es geht um die Wahl am Wochenende und deren Folgen. Was fühlen Sie? Was könnte ich Ihnen sagen? Und wem von Ihnen? Ich kann nicht zu allen sprechen, denn unsere Gesellschaft ist so tief gespalten, dass das, was ich zu dem einen sage, vom anderen nicht verstanden oder als Beleidigung aufgefasst wird. Soll ich mich nur an die wenden, die ohnehin zuhören? Soll ich zu denen sprechen, die ohnehin meiner Meinung sind? Oder muss ich nicht gerade heute mit den Anderen sprechen? Nein, nicht zu denen, die andere Menschen wie Dreck behandeln, sie nicht zu wort kommen lassen, sie tätlich angreifen, sie verachten und ihnen den Tod an den Hals wünschen. Aber mit denen, die unsicher sind, die sich abgehängt fühlen, und die eine große Menge Wut im Bauch haben? Ein solches Gespräch ist schwierig, aber wir müssen es führen!

Seit Sonntag um 18 Uhr steht fest: Ihre Wut, Ihre Angst, Ihre Unsicherheit hat Deutschland verändert. Ein Ziel haben Sie erreicht: Die Politiker der etablierten Parteien sind erschrocken, sie laufen durcheinander wie die Hühner und wissen nicht weiter. Ja, sie haben es verdient, diese Politiker. Sie waren sich selbst genug, regierten geräuscharm vor sich hin, strichen wegen der guten Wirtschaftsdaten unzählige Milliarden ein und gaben sie nicht weiter. Auf Sie und Ihre Ängste vor dem Abstieg hat keiner reagiert. Und wer Angst hat, sucht nach Lösungen, sucht den Schuldigen. Ich kann das verstehen. Sie haben eine der beiden möglichen Parteien gewählt, die Ihnen eine Lösung versprochen haben, die aufräumen wollen mit dem Politikbetrieb. Und weil Ihnen die Linken immer zu intellektuell waren, weil sie immer nur schwafelten, anstatt mit der Faust auf den Tisch zu hauen, haben Sie die AfD gewählt. Das war Ihr demokratisches Recht, und das respektiere ich.

Allerdings war Ihre Wahl nicht einfach nur Protest. Zum ersten mal seit den 50er Jahren sitzen wieder Faschisten im deutschen Bundestag. – Nein, das ist keine Verleumdung. Viele der Menschen, die jetzt für die AfD ins Parlament kommen, haben offen mit nationalsozialistischen Gruppen sympatisiert und bestreiten das nicht einmal wirklich. Viele dieser Leute behaupten, wir in Deutschland müssten endlich aufhören mit dem Kult um die Nazischuld, das sei alles schon lange her, andere Länder würden sich auch nicht so schwer tun mit ihrem Nationalstolz. Da ist etwas dran: Andere Länder tun sich nicht so schwer. Auf ihnen lastet aber nicht der Schrecken des industriellen Massenmordes. Ich kann mir vorstellen, dass Sie diesen Schrecken los werden wollen, er ist sehr belastend, wenn man ihn zulässt. Ich bin auch der Meinung, dass das Wort „Schuld“ in der heutigen politischen Debatte nichts mehr zu suchen hat. Sie haben keine Schuld, ich habe keine Schuld. Wir waren damals nicht dabei, wir haben nichts getan. Wir sind nicht schuldig. Ich möchte lieber von Verantwortung sprechen. Nein, bitte hören Sie mir zu: Ich meine nicht die Verantwortung für die damaligen Greueltaten, das konnten und können wir nicht ändern. Dafür tragen wir keine Verantwortung. Wir tragen die Verantwortung dafür, dass so etwas in der Zukunft nicht wieder geschieht, nirgendwo auf der Welt, nicht nur im Bezug auf Deutschland. Und diese Verantwortung teilen wir mit allen Menschen auf der Welt. Und weil wir wissen, wie so etwas geschehen kann, können wir am besten begreifen, wie man sich schützen kann und muss. Wir können etwas bewegen für die Zukunft. Unsere Verantwortung ist positiv, nicht negativ. Niemand zeigt mit dem finger auf Sie oder mich, aber wir haben die Chance, etwas zu bewegen, etwas zu verändern. Insofern gibt es keinen Schuldkult mehr, den man abschaffen müsste. Und wenn Alexander Gauland sagt, man müsse heute wieder stolz sein können auf die Leistung, die deutsche Soldaten in zwei Weltkriegen vollbracht haben, dann sage ich: Will man nicht das, worauf man stolz ist, wiederholen? Will man wirklich heute stolz sein auf die Mordmaschine? Wie gesagt, wir sind nicht schuld, aber können wir darauf stolz sein? Ist es nicht unsere Verantwortung, der Welt zu sagen, dass das wahrlich kein Grund für Stolz ist? Seien Sie doch Stolz auf die Leistung Ihrer Fußballmannschaft, auf das deutsche Bier, auf die deutsche Pünktlichkeit, und zum Beispiel darauf, dass wir eine Chance haben, für Frieden in der Welt zu kämpfen, und dass wir dafür gut gerüstet sind. Es ist Ihr gutes Recht, stolz zu sein. Niemandem schadet der Stolz auf harmlose Dinge, niemandem Schadet die Freude über gute Leistungen, Errungenschaften und Fähigkeiten. Aber brauchen wir dafür Menschen, die auf die Mordmaschine des Krieges stolz sind? Muss man darauf stolz sein, andere Menschen getötet zu haben, egal wer, egal wo, egal wann?

Oder das mit den flüchtlingen: Natürlich kann Deutschland nicht alle flüchtlinge bei uns aufnehmen. Das sind weit über 50 Millionen, vielleicht sogar 100 Millionen. Das will auch niemand. Wir haben 2015 eine Million Flüchtlinge aufgenommen, einige davon unter chaotischen Umständen, weil eine andere Regierung sie hungern und frieren ließ, eine rechte Regierung, die kein Herz für Kinder und Familien hatte. Aber haben Sie so wenig Vertrauen in Deutschland? Deutschland hat unter noch schwierigeren Bedingungen nach dem zweiten Weltkrieg 13 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Warum haben Sie so große Angst, für unsere guten Organisatoren, unsere stringenten Planer ist das durchaus zu schaffen! Sie brauchen sich nicht vor diesen Menschen zu fürchten, die uns in ihrer großen Mehrzahl ewig dankbar sein werden. Was aber nicht geht ist, irgendeinem Menschen den Tod zu wünschen, die Vergewaltigung, die Verschleppung. Brauchen Sie eine solche Sprache, um Ihre Angst beherrschen zu können?

Und dann redet man in der AfD von Umvolkung, von Durchmischung, vom Absterben des deutschen Volkscharakters. ich frage Sie: Haben Sie keinen verwandten, dessen oder deren Vorfahren aus Italien, Frankreich, Spanien, der Türkei oder Griechenland stammten? Meine Vorfahren kamen vor 200 Jahren als Hugenotten nach Deutschland, eine sogenannte Vermischung hat es immer und zu allen Zeiten gegeben, kein Volk ist rein, und das war es nie! Vor 2000 Jahren kamen die Römer nach Germanien, da hat es sehr viel Durchmischung gegeben. Müssen wir uns das also wirklich anhören? Warum haben Sie Angst davor, dass Ihr Schwager oder Ihre Schwiegertochter aus der Türkei, Russland, Burundi, der dominikanischen Republik oder Syrien stammen könnte?

Wir alle müssen fürchten, dass die Ausbeute unseres Wirtschaftsbooms ungerecht verteilt wird. Das Meiste bekommen die Manager und Banker, die Konzerne und Superreichen, das wird mehr von Jahr zu Jahr. Die Alten, die Kinder, die Arbeitslosen, die Unterbezahlten, sie alle müssen leiden. Dagegen muss man etwas tun, dagegen muss man zusammen stehen. Doch die Leute von der AfD haben andere Visionen. Sie schwärmen vom Krieg, sie brüllen Mord, sie drücken heimlich Brandstiftern und Mördern die Daumen. Sie sind wie Parasiten, die sich von Ihrer Angst ernähren, sich von Ihnen die Stimme geben lassen und dann für Steuererleichterungen für Reiche eintreten, der Rüstungsindustrie in den Arsch kriechen und Frauen hinter den Herd verbannen wollen. Und wer anderer Meinung ist, wird dann verfolgt, das geschieht ja schon, schauen Sie sich die Morddrohungen von AfD-Anhängern gegen Andersdenkende im Internet an.

Bis Sonntag hatten wir alle keine Schuld, auch wenn die AfD behauptete, wir, die relativ Linken, behaupteten etwas Anderes. Jetzt aber gibt es einige von uns, die Schuld auf sich geladen haben. Sie haben den Faschismus wieder hoffähig gemacht. Sie haben die Jungs mit der Mordmaschine gewählt. Viele vielleicht aus Angst, aber wie würden Sie Ihren Kindern und Freunden immer wieder sagen: „Angst ist ein schlechter Ratgeber.“ Nun: Es ist geschehen, und es wird unser aller Verantwortung sein, dass sich so etwas in 4 Jahren nicht wiederholt.

Mir ist nach dieser Wahl egal, ob Jamaika kommt oder nicht, ob Martin Schulz Andrea Nahles als Fraktionsvorsitzende durchsetzt oder nicht, ob Horst Seehofer weiterhin den dicken Willi im Kindergarten spielt oder nicht. Nur eins ist wichtig: Wir haben die Lunte angezündet, aus der ein Flächenbrand werden kann. Das macht traurig, und das macht Angst. Und es fordert uns alle auf, nicht aufzugeben und alle Menschen vom Wert einer freien, offenen Gesellschaft zu überzeugen, die noch zuhören möchten.

In diesem Sinne: Der Kampf geht weiter!

p. S.: Ich möchte zuhören und verstehen, auch in meinem Bekannten- und Freundeskreis hat die AfD Anhänger, es geht mittlerweile durch die Familien. Aber ich werde die Ideologie der Ausgrenzung, der Angst, der Gewalt und der Missachtung bekämpfen. Nur mit offenen Augen und offenem Visier können wir sie bekämpfen, und ich werde sie bekämpfen, mit allem, was in meiner Macht steht. Ich werde sie publizistisch in meinem Blog bekämpfen, ich werde sie organisatorisch in der Humanistischen Union bekämpfen, ich werde sie in der Diskussion bekämpfen, indem ich dem einzelnen Menschen zuhöre und versuche, in Ruhe eine andere Sichtweise zu erklären, Zweifel an dem geschlossenen Weltbild zu wecken. Das ist sicher die schwierigste Aufgabe, aber sie ist wichtig. Und es ist wichtig, dass ich nicht die Methoden anwende, gegen die ich mich wende. Zuhören und Verständnis, Lernen und Mitgefühl sind unverzichtbar in diesem Prozess, denn ich bekämpfe keine Menschen, sondern nur eine Ideologie. Menschen können ihre Meinung ändern und haben meinen Respekt verdient, eine Ideologie kann meiner Meinung nach falsch sein. Ein wütendes um sich schlagen hilft nicht.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Willkommen im neuen Deutschland – mein Radiokommentar zur Wahl

  1. Natürlich hast Du recht, ein wütendes Umherschlagen lohnt nicht. Auch keine Verachtung für die dummen Ossis. Ich bin Sachse und im gleichen Alter wie die Mehrzahl der AfD Wähler, und mir wäre dennoch nie eingefallen, diese Truppe zu wählen. Auch jetzt nicht, wo es defacto keine wirksame, wirklich Linke Alternative in Deutschland gibt und mir die Groko einfach zuwider ist. Da kommt nix Konstruktives, nur opportunistische Reaktion. Und es gäbe viel zu tun – und wenn’s nur mal ein „Halt ein!“ über den Atlantik wäre. Schließlich ist es in erster Linie die Politik der USA, die uns die Flüchtlinge zutreibt (Vermutlich mit einer Strategie im Hinterkopf)
    Nun, da im deutschen Bundestag das gesamte Spektrum deutscher Anschauungen vertreten ist, beginnt tatsächlich eine neue Etappe. Ob etwas wirklich Neues entstanden ist, bleibt abzuwarten. Im Moment sieht es nicht so aus. Die CDU hat die Macht erhalten. Sich sträubende Koalitionspartner werden eine Kröte nach der anderen fressen. Weder die Grünen noch die Gelben haben gefordert, dass sie in eine Koalition nur ohne Merkel als Kanzlerin gehen. Die SPD ist schon wieder bei Personaldebatten, ohne wirklich zu analysieren, was wirklich der nächste Schritt sein müsste. Auch wenn es ein Schritt in die richtige Richtung ist, jetzt in die Opposition zu gehen – dazu gehört ein Konzept. Nahles hat genau das in den vergangenen Jahren vermissen lassen. Sozial geht anders. Und ich wette: Falls die bunte Koalition der Machtgierigen nicht zustande kommt – bevor es Neuwahlen gibt, lässt sich die SPD zur Fortführung der GroKo bitten. Selbst bei Strafe des weiteren Untergangs.
    Über den Rest müssen wir nicht reden – schlimm genug dass ich diese Typen jetzt defacto mit meinen Steuergeldern ausstatte, damit sie ihre Propaganda genüsslich verbreiten können und es weiter in die besten Sendezeiten schaffen. Aber vermutlich wird auch diese Truppe von der Macht korrumpiert. Was es keinen Tag einfacher machen wird, dieses Gesudel zu ertragen. Dir nicht und mir nicht und vielen anderen auch nicht – ich finde, das ist ein Grund für Optimismus. Schauen wir nach vorn und nicht auf eine unbedeutende 13% Partei, die erst mit 51% regieren will. Noch, natürlich, noch. Und wenn die CSU weiter so motzt und die CDU mit den Unsäglichen Koalitionsgespräche sondiert … Aber halt, so düster wollte ich gar nicht werden.

  2. Ronald sagt:

    Supergenial Dein Kommentar. Klasse !!!
    Als Sachse bin ich besonders verärgert und wütend. Meine Tochter meinte, wir ziehen in ein anderes Bundesland, sie fügte aber gleich hinzu : dann gibt es hier nur noch AFD-Wähler. Also bleiben wir hier und kämpfen weiter.
    Ich verstehe die Ostdeutschen nicht mehr. 27 Jahre nach der Wende geht es den meisten Leuten gut und selbst die Wirtschaft ist nach dem Kahlschlag im Osten wieder etwas entwickelt (von einigen Gegenden abgesehen). Der Staat nimmt eine gewisse soziale Verantwortung wahr ( wie es sich auch gehört) und keiner muss hungern.
    Dank der SPD ( die ich niemals wählen würde) habe ich Mindestlohn und komme mit Einschränkungen gut über die Runden. Was wollen dann diese wütenden (hauptsächlich Männer mittleren Alters) Menschen hier im Osten,wenn sie eine faschistoide Partei wählen, Andersdenkende bedrohen und mit sich und der Welt im Streit liegen ? Ich verstehe es nicht !!!
    Zu den Linken : Da ist Deine Meinung ganz schön klar – aber die mediale Präsentation von Linken in den Medien ( besonders auch in den abhängigen Staatsmedien) ist seit Bestehen der BRD immer denunzierend und feindselig. Dadurch werden sie für einen großen Teil der Bevölkerung nicht wählbar sein.
    Vielen Dank für Deinen tollen Kommentar und …
    Grüße aus dem Vogtland
    Ronald

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