Im Paradies sind sogar die Erdbeben zahm

In der letzten Nacht hat es hier in der Nähe, unter dem belgischen Städchen Kinrooi, ein leichtes Erdbeben gegeben. Es geschah gegen 00:45 Uhr und hatte eine Stärke von 3,2 auf der Richterskala. Eine Bekannte von uns erzählte heute Mittag, sie habe es gespürt, aber vor allem ihr Hund. Wir fühlten, obwohl wir noch wach waren, nichts davon. Meine Liebste hörte ein leichtes Grollen, das war es. Im Paradies sind sogar die Erdbeben zahm.

Denn genau dort sind wir, im Paradies!

Morgens um halb fünf werde ich von den ersten Vögeln geweckt und drehe mich noch einmal um. Erst kommen kleine Vögel, dann die lauten Amseln, es folgen die Tauben, und schließlich erobern die vielen vorlauten Spatzen die Geräuschhoheit. Dann bin ich wach, denn noch länger zu schlafen wäre eine grenzenlose Verschwendung.

2 Schritte ins Bad, rasch angezogen, dann 4 Schritte zur Haustür. Unser kleines Holzhaus ist so dünn, dass wir die Vögel bei geschlossener Tür und bei geschlossenen Fenstern kaum leiser hören. Gute Luft empfängt mich, ich begrüße die herrliche Natur eines Sommermorgens, wenn ich den Kaffeefilter von gestern in den Müll werfe, bevor ich neuen Kaffee aufsetze.

Unser Haus hat 30 Quadratmeter, und doch gibt es einen recht geräumigen Wohnraum und ein Bad, das groß genug ist. Nur die beiden winzigen Schlafzimmer sind rein funktional. Öffne ich die Haustür, steht direkt vor mir der Esstisch mit zwei Stühlen links und zwei Stühlen rechts, ich stehe am Kopfende, mit der anderen Schmalseite ist er an der der Haustür gegenüberliegenden Wand festgemacht. So entsteht links von ihm eine etwas abgeteilte Koch- und Spülecke mit Gasherd und Anrichte, rechts öffnet sich der Raum etwas, man kann in die anderen Zimmer und zu einer gemütlichen Sitzecke gehen. Mehr besitzt dieses Haus nicht, und es reicht uns vollkommen. Es würde uns für weit mehr als 4 Wochen ausreichen, denn hier zu leben ist das reinste Glück.

Meine Liebste steht auf und deckt den Tisch, die Haustür hinter mir ist und bleibt offen, Menschen gehen fröhlich, manchmal pfeifend, an uns vorbei, manchmal fahren sie mit dem Auto. Aber sie fahren nicht schnell: Mehr als höchstens 10 KmH sind hier nicht gestattet, denn es spielen Kinder auf den Wegen. Der Duft von Kaffee zieht durch die Welt, die ersten Nachbarn grüßen. Die Spatzen im Nest unter dem Hausdach lärmen, der Hund in Haus 1 bellt, der in Haus 6 antwortet. Wir sind Haus 3, und unsere direkten Nachbarhäuser sind leer.

Während des Frühstücks hören wir „Die Europa-Saga“ von Christopher Clark, oder eine Folge des „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ von Douglas Adams. Um die Menge der Insekten auf einem erträglichen Maß zu halten, muss sofort nach dem Essen alles gespült werden. Danach sitzen wir draußen vor dem Haus an einem Gartentisch und schreiben, lesen oder debattieren. Hin und wieder kommt unsere Freundin Helmie vorbei, wenn sie von der Arbeit kommt oder mit ihrer Hündin Ayla spazieren war, oder unsere Freundin Betsy hält bei uns an, wenn sie mit ihrem kleinen Hund Bobo vom Spaziergang kommt. Von ihr erfahren wir den Klatsch und Tratsch. „Wisst ihr schon das Neueste? Thea hat einen neuen Freund, auf der anderen Seite des Platzes müssen alle Häuser abgerissen werden, der Oldtimer, der euch so gefallen hat, ist verkauft“, oder auch, „gestern Nacht gab es ein Erdbeben.“

Der Duft von Essen zieht auf, vielleicht von der Kantine auf dem Campingplatz her. Was werden wir heute essen? Nudeln mit Pastasauce? Öffnen wir eine Konserve? Holen wir uns etwas aus der Kantine? Gehen wir aus? Wir gehen schließlich über den Platz zur Kantine. Frau Jansen begrüßt uns, sie war Verkäuferin in dem Laden, in dem meine Eltern schon vor 36 Jahren einkauften. Wir sehen uns nur in den wenigen Wochen, die wir jedes Jahr im Paradies verbringen, doch wir unterhalten und verstehen uns wie alte Freunde. Wahrscheinlich muss sie Ende des Jahres nach 47 Jahren den Platz verlassen, das Gelände soll umstrukturiert werden.

Kinder laufen und spielen überall, die Sonne ist vom Osten in den Westen gewandert, ein Kuckuck ist in der Ferne zu hören, direkt beim Brückchen über den Bewässerungskanal vermutlich, der auf dem Weg nach Grathem liegt. Vor den Häusern sitzen Menschen, hört man Gesang und das Klappern von Geschirr, Unterhaltungen und Lachen. Überall sind Hunde und Kinder, hin und wieder plätschert ein Springbrunnen.

Zuhause machen wir uns über unser Essen her: Frikandeln Speciaal mit Pommes und Mayonaise. Frikandeln sind dünne Fleischrollen, wie Würstchen. Man schneidet sie längs auf und füllt sie mit Curryketchup, Mayonaise und gehackten rohen Zwiebeln. Schmeckt ausgezeichnet, und die Experten sind sich nicht sicher, ob es sich dabei wirklich um Fast Food handelt.

Und dann sitzen wir wieder vor dem Haus, mit einem Gläschen Wein, und lauschen der Natur und den Menschen. Es gibt Tage, da könnte ich einfach nur so da sitzen, nichts anderes möchte ich dann tun, nur Lauschen und die Freude genießen. Nichts im Jahr ist so schön wie diese wenigen Wochen. Wir brauchen immer ein wenig, bis wir zu schätzen wissen, was wir da haben, bis wir abgeschüttelt haben, was zuhause unsere Gedanken erfüllt, bis wir begriffen haben, dass dies der schönste Ort der Welt ist, und dass wir auch hier zuhause sind. Und das Schöne ist, was uns die festen Nachbarn sagen: Wenn ihr hier seid, dann gehört ihr dazu, als wäret ihr immer hier.

Flanneure ziehen schlendernd an uns vorbei und grüßen verhalten, manchmal fliegen Gänse über uns hinweg, hin und wieder stehen Menschen vor unserem Haus und plaudern. Dann wieder sitzen die Familien in den Nachbarhäusern auf der Terrasse und würfeln. Zuerst gehen die Kinder schlafen, dann die letzten Vögel, die Amseln begrüßen mit ihren kurzen Zwitschtönen den Abend. Die Sonne verkriecht sich um die Hausecke, leuchtet aber noch eine Weile. Von gegenüber klingt die Aircondition unserer Bekannten Lizette hinüber, im Haus daneben lässt Annemie die Rolläden herab. Ein Tag auf Heelderpeel, in unserem Paradies, geht langsam zu ende. Zum Schluss lauschen wir noch einem alten Hörspiel, zum Beispiel aus der Jan-Tenner-Serie, die wir in unserer Kindheit hörten und gerade wiederentdeckten, oder wir wandern zum See, um eine halbe Nacht bei den Fröschen zu sitzen und uns in ihren Dom aufnehmen zu lassen, uns in ihr Quaken einspinnen zu lassen, wenn ihnen mitten im Wald und mitten in der Nacht die Welt gehört. Schlafen will ich nur, weil ich muss, und doch ist es ein friedlicher Schlaf voller Glück und Zufriedenheit.

Wenn mich jemand nach Heimat fragt, dann ist sie hier, ganz persönlich und für mich.

In der Nacht vom 12. auf den 13. April 1992 spürte ich in Marburg ein Erdbeben. Es war so stark, dass es sogar das Dach des marburger Standesamts beschädigte. Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass es in Roermond, wenige Kilometer von hier, sein Epi-Zentrum hatte. Damals, 280 Kilometer entfernt, spürte ich das Erdbeben deutlich. Letzte Nacht aber war es zahm. Schließlich war ich im Paradies.

Ich wünsche allen einen Ort, eine Heimat, wie wir sie haben.

Grüße aus dem Urlaub!

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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