Die SPD sucht zwei neue Vorsitzende. Am 16.09.19 stellten sich die sieben verbliebenen Kandidatenpaare in Baunatal der Parteiöffentlichkeit bei der 11. Regionalkonferenz. Ich wollte mir das nicht entgehen lassen und war da.
Mit rund 40 Genossinnen und Genossen aus Marburg-Biedenkopf fuhren wir nach Baunatal. Die Stimmung war recht gut, aber einige zeigten sich enttäuscht, dass wir nicht mit zwei Bussen fahren mussten, weil es nur so wenige Interessierte gab. Dabei hatten sich viele aus ganz Nordhessen zur Veranstaltung angemeldet, sie hatte von Bad Hersfeld nach Baunatal verlegt werden müssen. Mit 850 Teilnehmer*innen war die Stadthalle dort bis auf den letzten Platz gefüllt.
7 Kandidatenpaare stellten sich den nordhessischen Genoss*innen vor, und alle betonten, dass sich die SPD verändern müsse. Alle aber hatten auch die bisherige Politik mitgetragen, und bei einigen Teilnehmer*innen kam auch während der Veranstaltung die Frage auf, warum sie nicht schon längst Veränderungen vorgenommen hatten. Ich war auf die
Selbstvorstellung der Kandidat*innen gespannt, denn alles, was danach kam, war ein Schaulaufen mit Regeln, die eine offene Debatte eher unterbanden als dass sie sie förderten. Hier meine Einschätzung von den Kandidat*innen.
Gesine Schwan und Ralf Stegner: Sie waren die ersten, die sich vorstellten. Stegner: Wir müssen wieder zeigen, was in uns steckt, die SPD ist eine linke Volkspartei.“ Die SPD müsse die Partei der starken Gewerkschaften sein, der Löhne, von denen man leben könne, die Partei der guten Arbeit auch in der digitalen Zukunft. „Wir müssen immer die Partei des starken Sozialstaates sein, wo die wichtigen Dinge nicht privatisiert, sondern kommunal beaufsichtigt werden“, sagte Stegner. Gebührenfreie Bildung, Grundrechte, Kindergrundsicherung, all das benannte er klar als sozialdemokratische Ziele. Die Vermögenssteuer müsse erhöht werden, Millionäre hätten noch nie SPD gewählt. Er profilierte sich deutlich als linker Kandidat. Klimaschutz hielt er für wichtig, aber die Arbeiter sollten von den Belastungen wenig spüren. Friedenssicherung müsse angestrebt werden, auch durch weniger Waffenexporte in Krisengebiete. Und vor allem müsse man gegen rechts kämpfen, bis die AfD wieder aus den Parlamenten verschwunden sei. Stegner trat kämpferisch auf, präsentierte sich als Bodenständiger von der Küste. Ein bisschen zu viele Versprechungen für meinen Geschmack, aber immer echte, sozialdemokratische Ziele.
Gesine Schwan sagte, als Vorsitzende wolle sie dafür sorgen, dass die SPD schnell wieder über 20 % komme. Dazu sei ein Schlüssel die Verlässlichkeit, mit der allein man Vertrauen zurückgewinnen könne. Es sei wichtig, so Schwan, die Partei wieder zusammenzuführen, die als Partei der Flügel gesehen werde, der man kein klares Profil zutraue. Leitsterne der SPD sollten die Grundwerte sein, die aber ohne eine Weiterentwicklung in Europa keine Chance hätten. Der wichtigste Grundwert sei die Solidarität, eben auch in Europa. In den Kommunen werde die Solidarität gelebt, zum Beispiel in Marburg mit der gewollten Aufnahme von Flüchtlingen, sagte Schwan. Sie kam mir ruhig, erfahren und souverän vor, und das Duo erhielt starken Applaus.
Petra Köpping und Boris Pistorius waren die nächsten Kandidat*innen. Köpping ist Integrationsministerin in Sachsen und hat mit ihrem Buch „integriert doch erst mal uns“ für Diskussionsstoff gesorgt. Dieses Kandidat*innenpaar will Brücken bauen zwischen west und ost, jung und alt, Stadt und Land. Brücken wollen sie auch in der SPD bauen, denn der faire Umgang solle die Partei auszeichnen.
Boris Pistorius betonte, man wolle den kommunalen Blickwinkel in die Bundespolitik einführen, denn in den Kommunen werde die meiste Arbeit gemacht. Die SPD solle nicht auf ihre Flügel starren und nicht immer mit dem Kopf unter dem Arm herumlaufen, betonte der Niedersachse. Inhaltlich kam weniger rüber als beim ersten Duo, das Betonen der Gemeinsamkeit sollte wohl vom Gefühl her Mut machen.
Nun kamen die Lokalmatadore: Christina Kampmann und Michael Roth. Sie waren sicher das humorvollste Paar. Beide haben mehrfach ihre Wahlkreise überlegen gewonnen und wirken sehr entspannt. Für Roth, der einen Wahlkreis in Nordhessen hat, war dies ein Heimspiel. Christina Kampmann forderte inhaltlich das Ende der schwarzen 0 und erhielt dafür großen Applaus. Allerdings habe ich im Nachhinein auf der Rückfahrt mit Genoss*innen gesprochen, die sagten, dass es unredlich sei, die Schulden an die nächste Generation zu vererben. Kampmann forderte mehr Investitionen für die Bekämpfung der Kinder- und Altersarmut, für bezahlbaren Wohnraum, die Infrastruktur und den Klimaschutz. Das Aufstiegsversprechen müsse wieder das zentrale Ziel sozialdemokratischer Politik sein, sagte Kampmann. Da habe ich meine Zweifel: Noch mehr Konsum? Noch mehr Wohlstand? Das verträgt sich nicht gut mit Klimaschutz und Umsteuern. Wir müssen anders verteilen, aber ein mehr an Wachstum, ein mehr an Aufstieg kann es nicht geben. Man kann in einer Zeit des Umbruchs nicht allen süße Trauben versprechen, sondern muss sie ehrlich auf die Härten vorbereiten, die allerdings gerecht verteilt werden müssen. Aber alle Politiker*innen, die gewählt werden wollen, haben Angst vor dieser Ehrlichkeit.
Michael Roth erklärte selbstbewusst, er und Kampmann seien gekommen, um zu bleiben, sie wollten die frischen Gesichter einer neuen SPD sein, es gebe schon genug Ex-Vorsitzende, die uns das Leben erschwerten. Dieser Seitenhieb auf Gerhard Schröder, der sich oft einmischt, kam gut an. Die SPD müsse wieder stolz entwickeln auf ihre Tradition und ins Gelingen statt ins Misslingen verliebt sein. Die einzige Antwort auf Trump, Bolsonaro und die anderen Rechten seien die Vereinigten Staaten von Europa, meinte Roth. Dieses neue Europa sei das Bollwerk gegen ungezügelten Kapitalismus. Nun ja…
Duo Nr. 4: Nina Scheer und Karl Lauterbach. Umwelt- und Klimapolitik ist das Politikfeld von Nina Scheer. Klimaschutz, Energiewende und Arbeit mit Zukunft sind ihre Ziele. Sozialdemokraten hätten 1999 mit dem Erneuerbare-Energieen-Gesetz die Energiewende eingeleitet, die in viele Länder exportiert worden sei und dort nicht einmal in ihre eigenen Sprachen übersetzt, sondern auf deutsch ausgesprochen werde. Nun: Irgendwie erinnere ich mich dunkel, dass die Grünen an dieser Entwicklung auch beteiligt waren und die SPD lange Widerstand leistete. Inhaltlich sagt Scheer aber etwas wahres: In den letzten Jahren werden die erneuerbaren Energien wieder abgebaut, und zwar auch unter Mitwirkung der SPD in der großen Koalition. Das sind selbstkritische Töne, die ich sehr sympathisch finde.
Karl Lauterbach sekundierte, dass die SPD im Umwelt- und Klimabereich nur noch von weniger als 5 % der jungen Menschen ernst genommen werde. „Meine eigenen Kinder gehen gegen uns auf die Straße“, machte er das Problem anschaulich, „weil sie sagen: Wir haben unsere Versprechen nicht gehalten.“ Dann fuhr er fort: „Wir wissen, dass es eine brutale zwei-Klassen-Medizin gibt, und dass wir eine Bürgerversicherung benötigen, um sie zu bekämpfen. Wir wissen, dass man von der Arbeit nicht mehr leben kann, dass wir einen höheren Mindestlohn benötigen, und dass die sachgrundlose Befristung weg muss. Wir wissen, dass man im Alter von der Rente nicht mehr leben kann, dass die Altersarmut droht und wir eine auskömmliche, überprüfungslose, bedingungslose Grundrente benötigen. Wir wissen, dass wir Kinderarmut haben. 20 % unserer Kinder leben in Armut, und wir haben trotzdem die Ausgaben im Bildungshaushalt in dieser Woche gekürzt. Wir wissen, dass wir als Sozialdemokraten die richtigen Konzepte haben, … wir wissen aber auch alle, … dass wir nichts von dem … in der großen Koalition umsetzen können. … Wir wollen die Partei aus der großen Koalition herausführen!“ Ich habe das so ausführlich zitiert, weil es tatsächlich eine der klarsten Positionsbeschreibungen des Abends war. Der Applaus in der Stadthalle war mäßig, was vermuten lässt, dass die meisten Genoss*innen sich nicht trauen, die große Koalition zu verlassen, oder dass die
Schröder-Fraktion immer noch die Mehrheit unter den Mitgliedern darstellt. Das wäre höchst bedauerlich.
Hilde Mattheis und Dierk Hierschel, die als nächstes die Bühne betraten, präsentierten sich als aufrechte Gewerkschafter und forderten eine Wirtschaftsdemokratie. Hierschel umschrieb seine Ziele so: „Wir stehen für die SPD als Partei der Arbeit. Und das heißt konkret: Wir wollen wieder Tarifverträge für alle, wir wollen einen Mindestlohn von mindestens 12 Euro, wir wollen Hartz IV abschaffen und wir wollen soziale Berufe aufwerten.“ Die Forderungen gefallen mir, aber ich habe Zweifel an dem dahinter stehenden Bild der Zukunft: Zurück in die gute, alte Arbeitswelt, möglichst wenig Veränderungen, eher wieder mehr Rückschritt in die siebziger und frühen achrziger Jahre. Das wird heute nicht mehr zu machen sein, und trotz der im Einzelnen genau richtigen Forderungen war der Applaus sehr mäßig.
Hilde Mattheis forderte mehr Mitbestimmung in den Betrieben und mehr Basisorientierung in der SPD. Außerdem plädierte sie für eine ganz neue Kultur in der partei, in der es auch normal sei, sich für Fehler der Vergangenheit zu entschuldigen und offen auszusprechen, was bislang schiefgelaufen sei. Protestbewegungen wie die Friedensbewegung und die Bewegung gegen TTIP zum Beispiel müssten in der SPD wieder ihre natürlichen Partner sehen, forderte Hilde Mattheis, und sie hat recht damit. „Manch einer sagt zu uns, wir seien radikal. Ich sage: Wir sind nett im Duett … und wir sind radikal sozialdemokratisch“, erklärte sie. Für mich sind diese beiden die „alten Linken“. Das ist charmant und wehmütig, aber ein zurück in die gute, alte Zeit kann es nicht geben, obwohl einige der Forderungen dringend umgesetzt werden müssen. Aber eine SPD, die sich allein auf die Arbeitswelt konzentriert, und dann auch noch die der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, ist meiner Ansicht nach nicht überlebensfähig.
Klara Geywitz und Olaf Scholz: Diese Beiden gelten, vor allem wegen Scholz, als Favoriten, obwohl sich offiziell noch niemand festlegen will. Für mich sind diese beiden die Verfechter des „Weiter so!“ „Wir müssen uns nicht schämen, dass wir regieren“, erklärte Klara Geywitz und verwies auf den Mindestlohn und die anstehende Grundrente. Die SPD sei deshalb in der großen Koalition, weil sie Verantwortung übernehme und sich nicht in die Büsche schlage wie die FDP. Um die große Koalition überwinden zu können, bedürfe es einer starken SPd, dafür stünden sie und Scholz, sagte Geywitz. Außerdem führte sie aus, die Partei müsse weiblicher werden. Die Zeiten von einsamen Entscheidungen von Männern in Hinterzimmern müssten endgültig der Vergangenheit angehören. Dass es für diese selbstverständlichkeit den geringsten Applaus des ganzen Abends gab, erschüttert mich. Als Klara Geywitz aber für eine weitere Produktion von Autos und die Stärkung der Industrie plädierte, blieb auch meine Hand ruhig.
„Der Sozialstaat ist die größte Errungenschaft der deutschen SPD, und wir müssen ihn auch in der Zukunft verteidigen“, sagte Olaf Scholz, der Fachanwalt für Arbeitsrecht war, bevor er in die Politik ging. Dafür erhielt er einen riesigen Applaus, doch es ist nur eine Floskel. Kein Wort davon, wie dieser Sozialstaat in der Zukunft aussehen wird. Weltoffenheit, Fortschrittsoffenheit und klare Kante gegen rechts forderte der Finanzminister ein. Menschen aus allen Schichten bräuchten in der SPD ein gemeinsames politisches Konzept. Scholz war sicher der größte Profiredner des Abends, aber gesagt hat er wenig konkretes.
Das letzte Duo waren Saskia Eskem und Walter-Borjans. Saskia Eskem verlangte ein Jahrzehnt kommunaler Investitionen für die Daseins- und Dableibensvorsorge. Geld sei genug da, alle 11 Minuten werden in Deutschland 8 Millionen Euro vererbt oder verschenkt, pro Jahr sind es 400 Milliarden Euro, mehr als der Bundeshaushalt. Die SPD soll die partei der sozialen Gerechtigkeit und des Kampfes gegen den Extremismus sein, sagte Borjans, aber offenbar fehle das Vertrauen, dass die SPD das schaffen könne. Es sei wie in einem großen Bus, auf dem stehe „SPD, auf dem richtigen Weg zur sozialen Gerechtigkeit, Sicherheit im Wandel“, doch es säßen nur noch die Hälfte der Menschen darin, die früher dort einen Platz hatten. Und frage man nach den Gründen, so stelle man fest, dass die Menschen glaubten, der Bus sei abgebogen, man glaube nicht mehr an die Partei der sozialen Gerechtigkeit. Und das liege nicht an den Sozialdemokrat*innen vor Ort, die eine hervorragende Politik machten, sondern an den Fahrern des Busses, die sich von Menschen am Straßenrand in eine neoliberale Pampa hätten locken lassen. Eskem und Borjans fordern einen handlungsfähigen Staat, der Klimaschutz, Daseinsvorsorge, Sozialstaat, Armutsbekämpfung und Verteilungsgerechtigkeit nicht dem Markt überlässt, wie die Neoliberalen es propagieren. Man solle nicht an einer schwarzen Null hängen, sondern seine Aufgaben erfüllen.
Es war interessant, den Kandidat*innen zuzuhören, die noch über Arbeitsrecht und Arbeitspolitik sprachen, die sich Fragen aus dem Publikum gefallen lassen mussten und mehr oder weniger gekonnt darauf antworteten, ohne weltbewegend neues zu sagen. Manche wurden mit ihrem Abstimmungsverhalten im Bundestag konfrontiert: Jetzt würden sie für das Ende der großen Koalition plädieren, im Bundestag hätten sie mit allem gestimmt, was sie jetzt selbst kritisierten. In einer Regierung, so hielten die Politiker von Scholz bis Roth entgegen, müsse man solidarisch sein und getroffene Vereinbarungen einhalten.
Ob die SPD mit diesen Kandidat*innen aus dem Tief kommt, weiß ich nicht. Ich weiß auch noch nicht, wen ich wählen werde, und so ging es vielen, die spät abends mit mir zurück nach Marburg fuhren. Sicher ist jedoch, dass ich wählen werde, und dass ich es gut fand, dass sich die Anwärter*innen auf den Parteivorsitz im ganzen Land vorstellen. Für mich, der ich eine klar progressiv linke Politik befürworte, klangen die Duos Schwan / Stegner, Scheer / Lauterbach und Eskem / Borjans nicht schlecht, und Hilde Mattheis und Dirk Hierschel waren das, was vom alten linken SPD-Flügel übrig war. Wählen werde ich sie aber nicht.
@ Jens Bertrams
Ich habe den Bericht dieser „Innenschau“ gelesen.
„Ob die SPD mit diesen Kandidat*innen aus dem Tief kommt….“
Das würde eine Analyse und gegebenenfalls Korrektur der politischen Ziele bedeuten
und müsste sich in den Bewerbungsdarstellungen niederschlagen. Ich konnte nichts
dergleichen feststellen.
Beispielhaft als Kurzanalyse mal die Klimapolitik der SPD:
Bei der aktuellen Beschlusslage sind es doch gerade eine Zielgruppe der SPD die als
erste kalte Füße haben werden oder ihre Mobilität einschränken müssen. Swenja ruft
dennoch die Bepreisung sei zu niedrig. Wenn dann Herr Stegner zum Kampf gegen
die Afd aufruft, kann es schwierig für die SPD werden. Hauptsache: Weltretterpartei.