Nachruf auf die Telefonzelle

Den folgenden Beitrag habe ich am 29.11.22 für den Ohrfunk geschrieben.

Jetzt sind sie endgültig Geschichte, die Telefonzellen, eine der größten kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Wie oft habe ich in der Schlange gestanden, wenn ich in meiner Kindheit aus dem Urlaub mit meinem Vater zu Hause telefonieren wollte, wie froh war ich später, als ich in meiner Schule diese schöne große Telefonzelle betrat, die fast wie eine Halle klang, um in aller Ruhe mit meinen Eltern zu telefonieren, wenn mich das Heimweh packte. Und noch später habe ich in Holland heimlich aus Neugier Sexlines angerufen, ohne dass meine Mutter es erfuhr. Dumm war nur, dass das Geld so schnell alle war, und einmal stand ein ungeduldiger Mensch vor der Zelle, und ich fürchte, der konnte auf dem Display die Nummer sehen, die ich anrief. Und die widerum hatte ich aus dem holländischen Radio, sehr peinlich.

Als es noch nicht in jedem Haushalt ein Telefon gab, waren sie allgegenwärtig. In unserer Siedlung am Stadtrand spielten die Kinder in der Zelle, riefen ihre Freunde an, die dann in einer anderen Zelle standen und auf das Klingeln warteten. Ich wusste lange nicht, dass Telefonzellen auch angerufen werden konnten, doch es gingtatsächlich. Das Schöne an diesen kleinen Kabinen war: Man hatte eigentlich fast überall ein Telefon zur Hand, auch wenn man häufig eine Wartezeit in Kauf nehmen musste, doch gleichzeitig war man nicht überall erreichbar. Es war perfekt. Wenn es nötig war, konnte man jemanden anrufen, ansonsten konnte man Urlaub und Freizeit genießen. Ich war immer gegen Handys, und ich kaufte mir erst widerwillig eines, als die Telefonzelle an meinem Urlaubscampingplatz abgeschafft wurde. Und alle prophezeiten mir, ich würde bald nicht mehr ohne Handy leben können. Das ist jetzt 11 Jahre her, und es stimmt heute genauso wenig wie damals.

Heute wird alles auf digitalen Übertragungswegen aufgebaut. Das robuste alte Telefonnetz, das vom Internet unabhängig war, ist dahin, ein kleiner Anschlag auf die Stromversorgung genügt, um auch die Handys ausfallen zu lassen und damit jede Kommunikation über weite Strecken zu unterbrechen. Aber klar: Seit alle ein Handy haben telefoniert niemand mehr über eine Telefonzelle, und die Aufrechterhaltung dieser Infrastruktur kostet Geld. Also verschwinden sie jetzt. Ich werde sie vermissen. Dabei habe ich als Vorsitzender eines SPD-Ortsvereins noch Glück. Ab und an wird mir jemand, der sich für besonders witzig hält, aber keine Telefonzellen mehr kennt, den Satz sagen: Dein Ortsverein passt ja in eine Telefonzelle. Okay, werde ich antworten, das ist ein bisschen übertrieben. – Aber nicht sehr.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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