Brief an den Unions-Bundestagsabgeordneten meines Wahlkreises

Die Kampagnenplattform Campact stellt eine Möglichkeit zur Verfügung, einen eigenen Brief an Unionsabgeordnete zu schreiben, damit sie morgen nicht mit der AfD stimmen. Ich habe folgendes geschrieben.

Sehr geehrter Herr Dr. Heck,

mein Name ist Jens Bertrams, und ich lebe in Marburg, bin Jahrgang 1969 und blind. Ich arbeite als ehrenamtlicher Journalist, bin Mitglied der Jury für das marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte und engagiere mich in einer politischen Partei. Mit großer Sorge und Bestürzung habe ich die gestrige Abstimmung im deutschen Bundestag über den Entschließungsantrag der Union zur Migrationspolitik verfolgt. Ich schreibe an Sie, um Sie in tiefer Sorge um unsere Demokratie, um unsere Freiheit und den Frieden in der Welt zu bitten, beim morgigen Zustrombeschränkungsgesetz nicht mit Ihrer Fraktion zu stimmen, sondern sich von Ihrem Gewissen leiten zu lassen. Erlauben Sie mir, Ihnen dazu ein paar Überlegungen mitzuteilen:

Meine Eltern waren in der Zeit des Nationalsozialismus Jugendliche. Sie waren Jahrgang 1929 und 1930. Sie haben diese Zeit größtenteils bewusst miterlebt und mir ausführlich davon berichtet. Obwohl sie sich in der jugendlichen Gemeinschaft der Hitler-Jugend durchaus wohlgefühlt haben, haben sie später erkannt, dass das Nazi-Regime verbrecherisch war, und sie haben mir diese Werte vermittelt. Wohin die Machtergreifung der Nationalsozialisten führte, wissen wir alle. In den Parlamenten begann die Machtergreifung damit, dass man die NSDAP faktisch wie eine ganz normale Partei behandelt hat, obwohl man wusste, dass sie keine demokratische Partei war. So scheint es heute erneut zu sein. „Wir kommen nicht als Freunde in die Parlamente“, sagte Joseph Goebbels. Ziel war es, die freiheitliche Demokratie zu zerstören. Die konservativen Parteien in der sogenannten weimarer Republik haben geglaubt, Hitler und seine Partei zähmen zu können, wenn man sie an der Macht beteiligte. Das war ein schwerer Irrtum, wie wir alle wissen. Jede Zusammenarbeit mit Faschisten stärkt nur sie. Und je mehr man ihnen entgegenkommt, desto stärker werden sie.

Gestern wurde im Bundestag erstmals seit 1945 wieder eine Entschließung gemeinsam mit Faschisten angenommen. Es ist völlig egal, welchen Inhalt diese Entschließung hatte: Die Tatsache der Zusammenarbeit allein, und sei sie auch nur geduldet, ist ein Tabu- und Zivilisationsbruch. Außerdem halte ich es für untragbar, unsere freiheitliche Demokratie für ein Wahlkampfmanöver aufs Spiel zu setzen. Intelligente Menschen erkennen deutlich, dass Herr Merz versucht, der AfD Stimmen abzujagen, indem er mit dieser Entschließung Symbolpolitik betreibt und sich als der Mann präsentiert, der die Forderungen der AfD auf verfassungskonformem Wege durchzusetzen versteht. In der jetzigen Situation, in der wir viel zu lange das Erstarken der demokratiefeindlichen AfD geduldet haben, ist ein solches Verhalten nach meiner Ansicht verantwortungslos.

Mir ist bekannt, dass das sogenannte Zustrombeschränkungsgesetz, das morgen im Parlament verhandelt wird, bereits im September eingebracht wurde und morgen in dritter Lesung verhandelt wird. Ich glaube zwar, dass der Entwurf auch Passagen enthält, insbesondere die Bestimmungen zum Familiennachzug, die am Rande der Verfassungswidrigkeit angesiedelt sind, doch das ist nicht der entscheidende Punkt. Wenn es der Union und Herrn Merz um die Sache geht, dann mag er das Gesetz nach der Bundestagswahl im neuen Bundestag erneut einbringen und mit den demokratischen Parteien eine Übereinstimmung suchen. Jetzt dieses Gesetz durchzupeitschen, wo es nur mit den Stimmen der AfD verabschiedet werden kann, ist für mich die Überschreitung des Rubicon, der Bruch mit der gemeinsamen Staatsraison der Bundesrepublik, die sich in den Worten „Nie wieder!“ ausdrückt.

Gestern hat sich eine grüne Landtagspräsidentin mit Migrationshintergrund in Baden-Württemberg von einem AfD-Abgeordneten anhören müssen, sie sei in ihrem Amt nicht länger tragbar. Sie hatte eine aufrüttelnde, emotionale und tief bewegende Rede anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung der Opfer im Vernichtungslager Auschwitz gehalten, in der sie auch vor dem neuen Faschismus warnte. Der AfD-Abgeordnete sagte, sie betreibe mit der Restwärme aus den Gaskammern von Auschwitz grünen Wahlkampf. Und niemand stand dagegen auf, niemand stellte sich dem entgegen. So weit sind wir wieder in Deutschland.

Meine Befürchtung ist, dass Herr Merz nach diesen Tabubrüchen nach der Wahl nicht anders kann, als mit den Stimmen der AfD Kanzler zu werden, also ein Kanzler von den Gnaden der AfD, auch wenn es keine offizielle Zusammenarbeit geben sollte. Damit wäre einer gesichert rechtsextremen Partei, und ich bin sicher, dass das im Gutachten des Verfassungsschutzes steht, das aus falsch verstandener Fairness zurückgehalten wird, der leise Weg an die Macht geebnet.

Ich selbst bin ein Mensch mit Behinderung. Auch wir müssen uns von der AfD beschimpfen und herabwürdigen lassen, wir passen natürlich nicht in ihr Weltbild. In Marburg, dem Wahlkreis, den Sie vertreten, leben viele Menschen mit Behinderung.

In meiner Jugend und meinem halben Erwachsenenleben war ich immer stolz auf dieses Land, empfand das Grundgesetz als die beste Verfassung der Welt und mochte es, zwar politisch mit der Union zu streiten, sie aber als Teilnehmerin im demokratischen Meinungsstreit zu schätzen. Dieses Gefühl habe ich leider verloren, wie ich überhaupt den Glauben verloren habe, dass wir eine wirklich freie, demokratische Gesellschaft noch retten können, wenn wir nicht genau jetzt ein deutliches Stoppsignal setzen. Ich bitte Sie dringend, an der Zerstörung der Demokratie nicht aus parteitaktischem Machtbewusstsein und falsch verstandener Fraktionsdisziplin teilzunehmen. Ich bitte Sie aus tiefster Seele, das Land zu retten, das aus der Geschichte gelernt hat und jede Art von Faschismus ablehnt, und das jede Art der Zusammenarbeit mit Menschen ausschließt, die rechtsextreme Gedanken äußern. Sie finden kaum einen AfD-Abgeordneten irgendwo in Deutschland, der nicht durch rechtsextreme Äußerungen auffällig geworden ist. Wir, die demokratische Bevölkerung, müssen uns auf Sie, unsere Vertreterinnen und Vertreter in den Parlamenten, verlassen. Ich glaube, dass wieder mehr Menschen an Demokratie und Menschenrechte glauben würden, wenn mehr Politikerinnen und Politiker eine klare Haltung und Rückgrat zeigen würden. Wir dürfen uns auch nicht thematisch von der AfD vor ihr hertreiben lassen.

Jedes Mitglied des Bundestages hat eine historische Verantwortung. Wenn Sie alle mit Faschisten stimmen, egal bei welchem Thema, dann brauchen wir weder an die Machtergreifung heute vor 92 Jahren, noch an die Befreiung der Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz zu erinnern.

Ich bitte Sie: Helfen Sie mit, unsere Demokratie, das Land der Menschlichkeit und des Grundgesetzes, zu bewahren und zu verteidigen.

Mit herzlichen Grüßen aus Marburg

Jens Bertrams

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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