Mein Aufruf zur Zusammenarbeit links von der Mitte

Eine Woche ist es her, dass die CDU und die FDP die Verfassung verraten haben. Am Anfang war man sich links der Mitte unter Aktivistinnen und Aktivisten weitgehend einig, dass wir zusammenhalten müssen. Doch das alte Phänomen der Zersplitterung und der gegenseitigen Schuldzuweisung ist wieder da, und dagegen wehre ich mich in diesem Beitrag, den ich zuerst in 11 Toots auf Mastodon schrieb.

Hallo ihr Lieben Mitstreiterinnen und Mitstreiter, Demokratinnen und Demokraten. Ich schreibe heute über ein besorgniserregendes Phänomen, das ich unter denen beobachte, die auf keinen Fall Merz oder die AfD wählen würden. Es war voraussehbar, doch es ist erschreckend, und wir dürfen es diesmal nicht dulden und zulassen. Dieses eine Mal nicht. Es ist die Zersplitterung, die moralische Empörung, die sich vor allem gegen die Letzten richtet, die Faschismus noch verhindern können.
Am Anfang, als Merz sein unglaubliches Verbrechen beging und das „Nie Wieder!“ mit Füßen trat, als ihm die FDP dabei folgte, als sei es nichts, da herrschten auf der linken Seite Schock und Empörung, und es gab ein ungewöhnlich starkes Gefühl von Zusammenhalt. Selbst ich z. B., der ich ja Sozialdemokrat bin, wurde unter denen, die immer schon gegen den Faschismus von rechts waren, geduldet und als Freund betrachtet. Es war, als wüssten wir, dass wir Zusammenhalt brauchen.
Auf Mastodon waren wir uns weitgehend einig: Diesmal müssen die, die immer schon alle etablierten Parteien mit Faschismus gleichgesetzt haben, mit denen zusammenarbeiten, die sie, durchaus zu recht, kritisieren. Konkret: Obwohl die SPD und die Grünen sich von den Rechten haben vor sich hertreiben lassen, brauchen wir sie jetzt, um die Mehrheit im neuen Bundestag zu erringen. Um alles Andere, um ihre Fehler auf diesem oder jenem Gebiet, kümmern wir uns später.
Das war ein bemerkenswerter und richtiger Zusammenschluss, der den Linken nicht leicht fällt, zerfallen wir links der Mitte doch in allerhand Gruppen und Grüppchen, die von sich glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben und moralisch überlegen zu sein, die politischen Machenschaften am besten zu durchschauen. Das Problem ist also: Wen nehmen wir uns zu Feinden, und wann tun wir das. Und tatsächlich: Nach einigen Tagen ging die Zersplitterung wieder los.
Marina Weisband sagte vor wenigen Tagen sinngemäß: „Solange Rechte nach Macht streben und Linke nach Reinheit, haben Rechte das Sagen und Linke ein gutes Gewissen.“ Es gibt auf Mastodon inzwischen einige Leute, die ich wirklich schätze, die wieder damit begonnen haben, SPD und Grüne zu verteufeln. Nur die Linken finden teilweise Gnade vor ihren Augen. Dabei braucht es Zusammenhalt! Für die Kommunisten war die SPD 1933 ebenfalls der Hauptfeind! Sozialfaschisten eben!
Die SPD und die Grünen sind von ihrem Wesen her nicht so radikal wie die Linken oder Gruppen, die noch weiter links stehen. Das kann man von ihnen auch nicht erwarten. Und sie stehen in einigen Punkten den rechten Verbrechern, den Abschiebern und Menschenverachtern zu nahe. Das alles ist unumstritten, das bestreite auch ich als SPD-Mitglied nicht. Aber eins weiß ich: Kriegen wir eine starke linke Position hin, und zwar gemeinsam, werden sie die Verfassung nicht verraten.
Wenn uns das gelingt, können wir über alle Fragen von Migration und Wirtschaftshörigkeit gemeinsam streiten! Denn um darüber zu streiten bedarf es eines politischen Systems, das den Streit erlaubt! Und es bedarf eines politischen Systems, das unterschiedliche Meinungen zulässt! Zersplittern wir uns aber weiterhin und halten jetzt, vor der Wahl, den größeren, kompromittierten Parteien ihre Sünden vor, statt sie zu unterstützen, verlieren wir dieses System.
Der Hass, die Schuldzuweisung und die Ablehnung der SPD und teilweise der Grünen mag berechtigt sein, berechtigt in normalen, friedlichen Zeiten, in denen man streiten kann. Darüber will ich aber gerade jetzt nicht reden! Denn jetzt brauchen wir Zusammenhalt. Wir werden nach der Wahl keine Maximalforderungen durchgesetzt haben. Es wird immer noch Politiker*innen geben, die viele Menschen abschieben wollen, aber darüber kann man dann unter Demokraten streiten!
Ich weiß, wie empört ihr alle seid. Ich weiß, wieviel die SPD in ihrer Geschichte falsch gemacht hat. Ich weiß, wie sich die Grünen in den letzten Jahren entwickelt haben! Aber für diesen Augenblick ist das bedeutungslos! Innerhalb demokratischer Parteien kann man sich um Veränderung bemühen, und man kann sie durch gesellschaftliche Gruppen unter Druck setzen, solange es legal ist. Wir müssen den Druck von den Parteien nehmen, die allzu schnell auf Volkes Stimme hören.
Es gibt bei SPD und Grünen die Karrieristen, die Mitläufer, und sie haben sich gute Positionen geangelt. Alles klar. Aber es gibt viele, viele aufrechte Demokraten. Ich erlebe sie täglich in unserem Stadtteil mit 9000 Menschen aus 94 Nationen, wo sich seit Jahrzehnten eine SPD-Ortsvorsteherin für die Belange aller einsetzt, die dort leben. Sie persönlich wird geliebt, die SPD aber nicht, und so wird sie nach der nächsten Wahl wohl ihr Amt verlieren.
Liebe Leute! Bitte bitte bitte! Lasst uns zusammenhalten. Schon tönt es von rechts, die Demos seien gewalttätig, und das kleine bisschen Umschwung, das in den Wahlumfragen aufscheint, ist wieder in Gefahr. Wir brauchen aber diesen Umschwung, und die Linke allein kann es nicht schaffen, trotz ihres Mitgliederzuwachses. Wir werden links lernen müssen, zusammenzuarbeiten und Kompromisse zu machen. Für die Rechten ist das kein Problem, selbst wenn sie einander beschimpfen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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