Verraten und verkauft: Sondierungsergebnisse zum Bürgergeld und meine bittere Enttäuschung

Den folgenden Kommentar für den Ohrfunk habe ich nach einem Mastodon-Rant meinerseits und nach der Recherche über die Sondierungsergebnisse zum Bürgergeld geschrieben.

Ich bin erschüttert. Ich bin wütend. Und ich bin verzweifelt. In den letzten Tagen habe ich wiedereinmal versucht, Abstand zu nehmen von der Politik, weil es mir zunehmend schwerfällt, die Entwicklungen in Deutschland und weltweit noch ertragen zu können. Doch dann kommt wieder eine Nachricht, die mich fassungslos macht, die mich so erschüttert, dass ich nicht schweigen kann. Also schreibe ich diesen Kommentar. Vielleicht ist es ein Schrei ins Leere, aber Schweigen wäre ein Fehler.

Zunächst die USA. In Trumps Amerika gibt es mittlerweile Berichte darüber, dass das Immigration and Customs Enforcement (ICE) gezielt Menschen aufgreift, die aus politischen Gründen nicht in die Ideologie des neuen Regimes passen. Diese Menschen werden verschleppt, haben keinen Zugang zu Anwälten, keine Möglichkeit, ihre Rechte durchzusetzen. Besonders brutal trifft es propalästinensische Aktivisten, sogar Studenten, die an angesehenen Universitäten studieren. Wer Trump nicht passt, wer in sein autoritäres Weltbild nicht hineinpasst, der kann offenbar damit rechnen, von der Straße weg verhaftet zu werden.
Wer jetzt sagt: „Ja gut, das sind eben die USA, das geht uns nichts an“, irrt sich gewaltig. Das ist eine Blaupause für das, was auch hier geschehen könnte. Die Methoden, die dort erprobt werden, finden ihren Widerhall in Europa, in Deutschland. Der Weg dorthin mag langsamer verlaufen, aber er ist bereits sichtbar.

Die CDU/CSU und die SPD haben ihr Sondierungspapier veröffentlicht. Wer bisher geglaubt hat, dass Deutschland ein sozialer Rechtsstaat ist, der sich um die Schwächsten kümmert, muss nun erkennen: Das war einmal. Die geplanten Maßnahmen zur „Reform“ des Bürgergelds sind in Wahrheit eine Kriegserklärung an alle, die nicht zu den Wohlhabenden gehören.
Da steht es klipp und klar: Wer eine zumutbare Arbeit verweigert, soll vollständig die Leistungen verlieren. Das bedeutet nichts anderes, als dass Menschen in Armut und Hunger getrieben werden. Wer entscheidet, was zumutbar ist? Wer bestimmt, ob jemand „faul“ ist oder einfach nur nicht in ein völlig absurdes Vermittlungsmodell passt? Jobcenter haben bereits jetzt massiven Ermessensspielraum, der in der Praxis oft dazu führt, dass Menschen in unsinnige Maßnahmen oder schlecht bezahlte Arbeit gezwungen werden. Wird dieser Spielraum noch weiter eingeschränkt, droht ein Sozialdarwinismus, der sich kaum noch vom Klassenhass des 19. Jahrhunderts unterscheidet.
Die SPD hat diesem Papier zugestimmt. Die Partei, die einst für soziale Gerechtigkeit stand, die Partei von Willy Brandt und Otto Wels, unterstützt nun eine Politik, die Menschen mit der existenziellen Bedrohung „Friss oder stirb“ konfrontiert. Es ist eine Schande. Es ist ein Verrat an all jenen, die auf soziale Sicherheit angewiesen sind, und auch an denen, die gerade im letzten Wahlkampf für die SPD gekämpft haben. Und es ist eine gefährliche Weichenstellung, die weit über einzelne Hartz-IV-ähnliche Maßnahmen hinausgeht.

Diese Politik ist nicht einfach nur „konservativ“ oder „neoliberal“. Sie ist ein Angriff auf die Grundprinzipien der Demokratie. Die Menschenwürde ist unantastbar, heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes. Ein vollständiger Leistungsentzug für Arbeitslose, die sich weigern, in prekäre Jobs gedrängt zu werden, ist nichts anderes als eine Aushöhlung dieses Grundrechts. Die Verfassungsgerichtsbarkeit mag dem vielleicht noch im Weg stehen – aber wie lange noch? Eine Regierung mit einer konservativen Mehrheit könnte versuchen, die bestehenden Grenzen auszutesten, neue Gesetze zu schaffen, die das BVerfG an seine Belastungsgrenzen bringen. Und sie könnte sich dabei auf eine verrohte Gesellschaft verlassen, die längst von neoliberalen Denkweisen durchdrungen ist: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Dieser Satz war schon immer ein zynisches Dogma der Rechten – und jetzt wird er wieder zur offiziellen Politik.

Es ist eine alte Strategie: Man zerstört den Sozialstaat nicht von heute auf morgen, sondern Stück für Stück. Man verändert Definitionen, man verschärft Sanktionen, man schafft Akzeptanz für Härte. In den USA sieht man bereits, wohin das führen kann: Ein Land, in dem Armut nicht mehr als soziales Problem gesehen wird, sondern als moralisches Versagen. Wer sich nicht „bemüht“, wer nicht „an sich arbeitet“, der ist selbst schuld an seinem Elend. Diese Erzählung wird nun auch in Deutschland immer offensiver verbreitet.
Man könnte sagen: „Aber das Bundesverfassungsgericht hat doch 2019 geurteilt, dass Sanktionen nur begrenzt möglich sind.“ Ja, das hat es. Doch die Politik hat längst gelernt, wie man solche Urteile umgeht. Man könnte zum Beispiel Sozialleistungen nicht mehr als Geld auszahlen, sondern nur noch in Form von Essensmarken oder Chipkarten. Man könnte „zumutbare Arbeit“ so definieren, dass praktisch jede Tätigkeit angenommen werden muss. Man könnte über eine gesellschaftliche Stimmung den Druck so erhöhen, dass Menschen, die sich wehren, als Feindbilder dargestellt werden. Ich selbst beziehe Bürgergeld, und ich fühle mich vollkommen verraten und degradiert.

Und die SPD?
Es tut mir weh, das zu sagen. Aber meine Partei hat nichts mehr mit der SPD zu tun, für die ich immer gekämpft habe. Sie hat sich entschieden, mitzumachen, mit den Mächtigen zu kuscheln, statt sich für die Schwachen einzusetzen. Und nein, ich will keine Häme hören. Ich will nicht hören: „Ich hab’s doch immer gesagt, sie sind alle gleich.“ Denn das ist nicht wahr. Es hätte Alternativen gegeben. Die SPD hätte in die Opposition gehen können, sie hätte rote Linien ziehen können. Sie hat sich anders entschieden. Und dafür wird sie einen Preis zahlen – aber dieser Preis wird nicht nur sie treffen, sondern Millionen von Menschen, die auf eine soziale Politik angewiesen sind.

Was bleibt, ist der Kampf. Auch wenn es schwerfällt. Auch wenn es manchmal sinnlos erscheint. Wir müssen laut bleiben, wir müssen uns wehren. Denn wenn wir jetzt resignieren, wenn wir den Diskurs den Rechten und Neoliberalen überlassen, dann wird das, was jetzt nur ein Sondierungspapier ist, bald Realität. Und dann wird es noch schlimmer werden.
Ich habe keine Lust mehr, zuzusehen, wie meine Partei sich selbst verrät. Doch ich werde trotzdem weiterkämpfen – für eine soziale, gerechte und menschliche Gesellschaft. Denn die Alternative ist die Kapitulation. Und das ist keine Option.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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