Was bin ich froh, dass ich mich die letzten 2 Tage mit etwas völlig Anderem befasst habe, als mit den Wahlen zum Bundesverfassungsgericht. Hätte ich das nämlich getan, so wäre mir schon spätestens seit gestern die Galle hochgekommen. So passiert das eben jetzt. – Wir alle schimpfen gern über die Union, aber manchmal glaube ich, das ist politischer Reflex. Die wahren Stürme auf die Demokratie vollziehen sich oft hinter den Kulissen.
Heute sollte über die Wahl von drei neuen Richter*innen am BVerfG entschieden werden. Das war immer eine Formsache, denn die Parteien haben sich seit Gründung der Bundesrepublik darauf verständigt, die Kandidat*innen der jeweils anderen Partei mitzuwählen. Manche mögen das undemokratisch finden, aber es hat das höchste deutsche Gericht stabil gehalten und war eine allgemeine Absprache. Damit wurde das BVerfG auch vor dem Einfluss von Extremisten geschützt. Nun standen wieder drei Wahlen an, weil drei Richter*innen ihre Amtszeit vollendet haben. Die CDU hatte das Recht auf einen Neuvorschlag, Prof. Dr. Günter Spinner, die SPD auf 2, Ann-Katrin Kaufhold und Frauke Brosius-Gersdorf. Wie immer hätten die Kandidat*innen mit zweidrittel-Mehrheit gewählt werden sollen, auch die Linke und die Grünen stimmten zu. Und Bundeskanzler Merz sprach sich öffentlich für alle drei Kandidat*innen aus. Wir sehen, dass er die CDU nicht im Griff hat. Kurz vor der Wahl erhob sich aus der Union Widerspruch gegen Frauke Brosius-Gersdorf, und zwar zunächst aus 2 Gründen: Sie hatte sich für ein AfD-Verbot ausgesprochen, und sie vertritt in der Frage einer Abtreibung einen ziemlich liberalen Standpunkt, trat in einem Gutachten, das für die Ampel-Regierung erstellt worden war, für eine Lockerung von § 218 StGb ein. Noch am Montag sagte Merz öffentlich im Bundestag, dass er sie wählen werde. Gestern kamen, inzwischen üblich bei Leuten, die den Rechten nicht passen, Plagiatsvorwürfe auf gegen sie. Die Union nahm das zum Anlass, ihr die Zustimmung zu verweigern. Immer wieder muss betont werden, dass das keine von Merz gelenkte Sache ist, sondern gegen seinen Willen zum Koalitionsfrieden von den immer stärker werdenden rechten Netzwerken in der Union betrieben wird. Die Plagiatsvorwürfe sind übrigens schon von vorneherein haltlos und könnten nur ihrem Mann gelten. Frau Brosius-Gersdorf hatte ihre Habilitation in den neunzigern abgelegt, ihr Mann im Jahre 2000. Es fanden sich in beiden Dokumenten rund 20 kleine Übereinstimmungen. Logischerweise hat ihr Mann dann höchstens von ihr abgeschrieben und nicht umgekehrt, weil ihre Dissertation um Jahre früher erfolgte. Doch das ficht die Scharfmacher in der CDU nicht an. Ihnen geht es darum, eine liberale Stimme, Verteidigerin der Demokratie, und natürlich eine Frau mundtot zu machen. Die #SPD hat sich Gott sei Dank der Forderung nach Rückzug ihrer Kandidatin vorerst verweigert. Hinter den Kulissen werden jetzt bis nach der Sommerpause Kämpfe stattfinden, denn die drei Wahlen sind bis dorthin verschoben worden, obwohl die Union zuerst nur die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf verschieben wollte. Noch bleibt die SPD bei ihrer Kandidatin. Sie wiederum hat sich an das bisherige Verfahren gehalten, dem Unionskandidaten ohne Widerspruch zuzustimmen.
Noch vor dem Amtsantritt der neuen Regierung war es gelungen, das BVerfG gesetzlich zu stärken, sodass die AfD nicht so einfach demokratische Richter*innen blockieren kann. Jetzt aber tritt der Fall ein, in dem die vertrumpte CDU, die im Frühjahr noch murrend den Schutzbestimmungen zugestimmt hat, den demokratischen Konsens verlässt. Es geht hier nicht um eine normale Richterwahl, und Frau Brosius-Gersdorf ist keine ungewöhnliche Kandidatin. Früher wäre sie von der CDU klaglos mitgewählt worden, auch wenn sie nicht ihr Weltbild vertrat. Dafür gab es ja genügend andere Richter im BVerfG, die das durchaus taten, und man sorgte immer für ein Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht würde erhalten bleiben, wenn man die SPD-Kandidatin jetzt wählen würde, doch die Union versucht jetzt eindeutig, beim BVerfG eine konservative Mehrheit zu etablieren, wie Trump im Supreme Court in den USA. Entscheidend ist jetzt, was die SPD tut. Löst sie sich – natürlich unter Protest – von der inzwischen auch in der Öffentlichkeit angegriffenen Kandidatin, die jetzt auch Morddrohungen erhält? Es wäre typisch für die Genossen, die es als ihre Aufgabe ansehen, den Koalitionsfrieden zu wahren, um der AfD keine Angriffsfläche zu geben. Und was immer hier oft über die SPD gesagt wird, davon bin ich überzeugt. Dieser Schritt aber wäre wirklich fatal. Sie würde sich dann eine Kandidatin aussuchen, die für die CDU so gerade noch wählbar ist, aber so demokratisch wie möglich. Viele würden dann aufatmen, aber zu unrecht. Denn auch damit hätte sich die Waage des Gerichts verschoben. Eine ausgesprochen liberale und progressive Richterin wäre nicht gewählt worden, dafür vermutlich eine geräuscharme Justizbürokratin, die ihren Job vermutlich korrekt machen würde, aber ohne besondere Akzente. Und die Union wählt Scharfmacher.
Diese Wahl ist für uns viel mehr als eine einfache Richterwahl und ein politisches Geschacher. Es geht darum, das Gleichgewicht in einer der wichtigsten Instanzen deutscher Politik, das seit 75 Jahren besteht, aufzukündigen und die Mehrheitsverhältnisse nach rechts zu verschieben. Das Schlimme an der Sache ist, dass Friedrich Merz die Heißsporne nicht kontrollieren kann. Er ist der Frontmann und das polternde Aushängeschild, aber er macht das aus Publicity-Gründen. Wir können gegen Merz wettern, und durchaus zu recht, ich tue das auch. Aber er ist nicht die Gefahr. So wie Trump der polternde Strohmann einer straff rechten und gut organisierten Bewegung ist, die die Republikaner inzwischen komplett beherrscht, und die das leise bewerkstelligte, weil alle sich auf Trump konzentrierten, so ist Merz der Möchtegern-Herrscher, hinter dessen Rücken sich der faschistische Flügel der Union formierte. Heute verweigerte er ihm die Gefolgschaft. Hinter all dem Getöse steht der Umbau unseres Staates, die schleichende Machtübernahme von rechts, der Master-Plan eines gewaltsamen Neofaschismus. In der Union wird noch gekämpft, bei den Republikanern in den USA ist das vorbei. Friedrich Merz hat heute seine Schwäche offenbart. Er wird die Kontrolle nicht zurückgewinnen, nicht zu seinen Bedingungen. Er wird sich anpassen müssen. Und für die Macht tut dieser Mann sehr viel.
Jetzt kommt es auf die SPD an. Die Koalition zu verlassen, was meine Wut und Enttäuschung vorschlagen, wäre ein Problem. Bei den dann anstehenden Wahlen würde die SPD noch mehr verlieren und die AfD noch mehr gewinnen. Oder die Linnemann-Frei-Spahn-Klöckner-Truppe verzichtet auf Wahlen und lässt sich von der AfD unterstützen. Gemeinsam hätten sie eine Regierungsmehrheit. Nachgeben geht aber für die Sozis auch nicht, auch wenn das ihrem zögerlichen Wesen entspricht. Im Augenblick hat sie nur eine Chance, aber die hilft auch nur für einen Moment: Nicht nachgeben, dem CDU-Kandidaten mit Linken und Grünen die Unterstützung zu verweigern, selbst wenn man gegen den Mann persönlich nichts hätte, was ich nicht weiß, ich muss mich noch über ihn informieren. Nur der Druck auf die CDU könnte noch einmal helfen. Das Grundproblem lösen wir damit aber nicht mehr. Auch das Bundesverfassungsgericht kann gestürmt werden. Wir kommen bei einer Binsenweisheit an, die wir alle kennen: Demokratie funktioniert nur, solange es genügend Demokraten gibt, die sie leben wollen. In Deutschland kippt diese Mehrheit gerade. Die ewigen medialen Angriffe und die Verleumdungscampagnen von rechts zerstören derzeit eine Richterin, aber sie haben längst angefangen, die Demokratie zu zerstören. Ein AfD-Verbot ist überfällig, und Hetzmedien müssen verboten werden.
Wir stehen vor dem letzten Abgrund. Die wahren Kämpfe um unsere Demokratie finden derzeit zwar auch öffentlich statt, aber vor allem in den Hinterzimmern der Fraktionen und der Wahlausschüsse. Wer noch etwas ändern will, braucht 2 Dinge: Mut und Charisma. Denn die Bevölkerung hört nicht mehr auf Vernunft, nur noch auf polterndes Charisma. Vernunft muss man erst wieder lernen. Wir müssen uns – antifaschistisch – für die Demokratie einsetzen, die wir bewahren wollen. Und wir müssen es jetzt tun.