Der folgende Beitrag wurde von mir für den Ohrfunk erstellt. Ich weiß, dass er nur missverstanden werden kann, so sehr ich auch versuche, eine klare Trennung zwischen dem Staate Israel, den mitBürger*innen jüdischen Glaubens und jüdischer Kultur, und der Regierung und Armee des Staates Israel zu ziehen.
Gestern jährte sich der furchtbare Anschlag der Hamas auf israelische Volks- und Musikfeste, bei dem 1200 Personen brutal ermordet und teilweise zuvor verstümmelt und vergewaltigt und über 200 Geiseln genommen wurden, zum zweiten Mal. Israels Regierung und Armee haben auf diesen verwerflichen Anschlag mit beispiellosem und ebenso verwerflichem Terror gegen die Zivilbevölkerung des Gazastreifens geantwortet und eine Million Menschen brutal ihrer Existenzgrundlage beraubt. Nach 2 Jahren Krieg ist der Eindruck unabwendbar, dass die rassistischen und faschistischen Kreise in der israelischen Führung und Armee klar einen Völkermord an der Bevölkerung Gazas begehen. In der internationalen Gemeinschaft sätzt sich mehr und mehr diese Überzeugung durch.
Gleichzeitig wächst in Deutschland die Zahl antisemitischer Straftaten enorm. Ohnehin wächst die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten, aber auch die Zahl solcher Delikte, die bewusst jüdische Menschen oder Einrichtungen zum Ziel haben. Da wir uns in Deutschland schwer tun mit der Frage, wie wir mit Verbrechen Israels und dem Antisemitismus im eigenen Land umgehen sollen, müssen wir erst einmal feststellen, was Antisemitismus eigentlich ist, und das ist keineswegs einfach. Klar ist eines: Kritik an Israel ist nicht automatisch Antisemitismus, kann es aber unter bestimmten Voraussetzungen sein.
Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gab 2005 eine Arbeitsdefinition heraus, die in vielen Ländern heute anerkannt wird. Antisemitismus ist demnach eine bestimmte Wahrnehmung, die sich als Hass auf jüdische oder nichtjüdische Individuen, ihr Eigentum, ihre Institutionen oder den Staat Israel richten kann. Er klagt Juden häufig der Verschwörung zum Schaden der Menschheit an und wird oft benutzt, um Jüdinnen und Juden dafür verantwortlich zu machen, wenn etwas falsch läuft. Er drückt sich in Worten, Texten, Bildern und Taten aus und verwendet dazu „unheilvolle Stereotypen und negative Charakterzüge“, etwa:
– Aufrufe zum Töten oder Schädigen von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder extremistischen religiösen Sicht,
– verlogene, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Behauptungen über Juden oder die kollektive Macht von Juden, etwa eines Weltjudentums oder jüdischer Kontrolle von Medien, Regierungen usw.,
– Juden kollektiv für reale oder vermeintliche Vergehen einzelner oder mehrerer Juden oder Nichtjuden zu beschuldigen,
– Holocaustleugnung,
– Juden als Kollektiv oder Israel zu beschuldigen, sie hätten den Holocaust erfunden oder dramatisiert,
– jüdische Staatsbürger zu beschuldigen, sie seien loyaler gegenüber Israel oder vermeintlichen jüdischen Prioritäten weltweit als gegenüber ihren eigenen Staaten,
– das Selbstbestimmungsrecht von Juden abzulehnen, etwa zu behaupten, Israel sei ein rassistisches Projekt,
– doppelte Standards anzuwenden, also von Israel Verhalten zu fordern, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet wird,
– klassisch-antisemitische Symbole und Bilder wie den Gottesmord-Vorwurf oder die Ritualmordlegende auf Israel oder Israelis anzuwenden,
– Israels aktuelle Politik mit der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus zu vergleichen,
– eine Kollektivverantwortung der Juden für Israels Politik zu behaupten.
Kritik, die an Israel ähnlich wie an anderen Staaten geäußert wird, könne jedoch nicht als antisemitisch eingestuft werden, heißt es in der Arbeitsdefinition weiter.
Kritik an dieser Definition von Antisemitismus kommt von beiden Seiten. Die Einen sagen, Israel werde damit Tür und Tor für seine Verbrechen geöffnet, die Anderen sagen, Israel werde zum Buhmann der Welt gestempelt. Die sachlichste Kritik ist meiner Ansicht nach die, dass die Definition ein Wortungetüm ist, das versucht, alle Anwendungsfälle zu berücksichtigen und dabei zu breit aufgestellt ist.
Ich kann dem nur eine Definition entgegenhalten, die mir mein gesunder Menschenverstand eingibt. Antisemitismus liegt vor, wenn eine Person oder Institution ganz bewusst wegen ihres Jüdisch-seins angegriffen oder verunglimpft wird, und zwar mit stereotypen, abwertenden Zuschreibungen, die seit Jahrhunderten auf Jüdinnen und Juden angewandt wurden. Wird hingegen objektiv eine bestimmte Handlung kritisiert, und zwar angesichts der verfügbaren Fakten, so ist nicht von Antisemitismus auszugehen.
Viele fragen sich, ob man Antisemitismus nicht einfach in die Reihe des Rassismus einordnen kann, aber das ist nicht praktikabel. Jüdinnen und Juden leben seit 2000 Jahren überall verstreut, sind immer wieder vertrieben worden und haben sich auf der ganzen Welt verbreitet, ohne noch irgendein Siedlungsgebiet zu haben, in das sie hätten zurückkehren können. Sie weisen keinerlei für den modernen Rassismusbegriff typischen Merkmale auf. Auch andere Völker hatten und haben keinen eigenen Staat, aber ein Gebiet, in dem sie als einheimische Personen geduldet werden, selbst wenn sie dort nicht die Mehrheit oder die herrschende Gruppe stellen. Der Hass auf Juden geht gerade im Christentum immer noch auf den Gottesmord-Vorwurf zurück. Juden sind damit an allem Schuld, sie haben Gottes Sohn ermordet, im Christentum eine Art Ursünde, die auch kulturell auf viele jener Menschen abfärbt, die für sich das Christentum abgelegt haben, jedoch christlich erzogen wurden.
Und so wie der Jude in fast allen Weltgesellschaften der Ausgestoßene war und ist, so ist der Staat Israel heute der Ausgestoßene der Weltgemeinschaft, und nicht erst seit den Verbrechen an der palästinensischen Bevölkerung nach dem Oktober 2023. Viele Menschen haben Israel von Anfang an das Existenzrecht abgesprochen. Zynisch hat man behauptet, und tut das bisweilen immer noch, die Juden bräuchten keinen eigenen Staat, sie könnten ja dort leben, wo sie lebten. Da Jüdinnen und Juden aber fast überall mindestens diskriminiert werden, in vielen Ländern sogar verfolgt, zeigt auch diese Ansicht eine Form von Judenfeindlichkeit. Der Hass auf diese Gruppe führte auch zum Holocaust und muss dementsprechend groß gewesen sein. Und ausrotten lässt er sich nicht, auch wenn Deutschland sich vorgenommen hat, für Jüdinnen und Juden ein sicheres Land zu sein. Doch hier müssen Synagogen von der Polizei geschützt werden, und nicht erst seit dem Erstarken der AfD. Auch linke Spinner haben Jüdinnen und Juden angegriffen.
Ich kenne viele Menschen, die von sich behaupten, sie würden Israel kritisieren, wären aber nicht judenfeindlich. – Das ist dieselbe Haltung, die ich mir auch zu eigen mache, doch ich muss immer wieder prüfen, ob das auch wirklich stimmt. Es gibt einen alltagstauglichen Praxistest, mit dem man ermitteln kann, ob die Kritik an Israel antisemitisch gefärbt ist oder nicht. Wenn man Israel dämonisiert, delegitimiert oder Doppelstandards ansetzt, dann muss man von Antisemitismus ausgehen.
Auch dieser Test hat seine Tücken: Wann dämonisiert man Israel? Klar ist, dass eine Dämonisierung nicht schon dann vorliegt, wenn man – und sei es noch so scharf – völkerrechtswidriges Handeln einer bestimmten Regierung oder Armee verurteilt. Die Dämonisierung muss dem Staat Israel als solches gelten: „Israel ist der Grund, warum es diesen Konflikt überhaupt gibt“, beispielsweise ist aus politischer und historischer Sicht eine unzulässige Dämonisierung und Zuschreibung. Israel hat sich damals für den Palästinenserstaat ausgesprochen, und erst, als es angegriffen wurde, hat es sich gewehrt. Israel ist sicher nicht der Grund für den Konflikt, der schon vorher durch die Großmächte geschürt wurde und von Klugen Köpfen beider Seiten verhindert werden sollte.
Damit verbunden ist auch die Delegitimierung Israels. „Israel hat kein Existenzrecht, denn dort lebten vorher die Palästinenser“, ist beispielsweise eine antisemitische Aussage, denn sie blendet den Holocaust und die weltweite Verfolgung von Jüdinnen und Juden aus. Ein Staat, in dem die Jüdinnen und Juden sicher leben können, hat unbedingt ein Existenzrecht. Das gilt ebenso für die Palästinenser, die ebenfalls das Recht auf sicheres Leben in einem eigenen Staat haben. Aber jetzt kommt der Punkt: Dieser Staat muss kein jüdischer Staat sein, es könnte sogar für beide Gruppen derselbe Staat sein, wenn sie in der Lage wären, einander respektvoll und gleichberechtigt zu behandeln. Ursprünglich war Israel so gedacht und wollte arabische Israelis nicht als Bürger zweiter Klasse behandeln. Und wenn man in demokratischen Staaten mehrere Kulturen innerhalb derselben Grenzen akzeptieren könnte, wäre das alles auch kein Problem.
Dritter Punkt des Antisemitismus-Tests sind die Doppelstandards. Man verlangt von Israel, weil es Israel ist, ein anderes Vorgehen als von anderen Staaten. Als Beispiel wird u. A. angeführt: Einseitige Kritik an Israels Umgang mit Palästinensern, bei gleichzeitiger Hinnahme der brutalen Unterdrückung von Juden, Andersdenkenden oder Homosexuellen in den arabischen Nachbarländern. Außerdem wird die Verurteilung von israelischen Militärschlägen oder Sanktionen gegen palästinensische Terror-Organisationen, bei gleichzeitigem Schweigen über den Raketenbeschuss auf Israel vonseiten dieser Organisationen und andere Terroranschläge gegen die israelische Zivilbevölkerung genannt.
Dieser dritte Punkt funktioniert nicht mehr so gut, seit die israelische Politik juedes Maß in der Bekämpfung der Palästinenser verloren hat. Inzwischen wehren sich die Angehörigen der Geiseln und der am 7. Oktober 2023 ermordeten Israelis mehrheitlich gegen die Politik ihrer Regierung, und selbst in konservativen israelischen Zeitungen wird von zunehmender Diskriminierung von Palästinensern berichtet, wie jüngst gegen ein arabisches Mädchen an einer israelischen Schule.
Es ist heutzutage leicht, Kritik an Israel mit dem Anti-Semitismus-Vorwurf abzubügeln, es ist aber ebenso leicht, Anti-Semitismus im Gewand der Israelkritik zu verbergen. Der von mir oben skizzierte Test kann bei einer Überprüfung der eigenen Haltung helfen, wenn man sich selbst gegenüber ehrlich ist. Die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland ist immer noch erschreckend hoch, und sie nimmt rasant zu. Viele JJüdinnen und Juden, die nicht nur in Deutschland geboren sind, sondern deren Familien seit Jahrhunderten hier leben, ja nie woanders gelebt haben, haben das Gefühl von Sicherheit verloren und überlegen sich, in ein anderes Land auszuwandern. Das Auswandern, das Fliehen gehört zur jüdischen Geschichte von Anfang an, eine wirklich sichere Heimat hatten sie nie. Auslöser für diese Entwicklung mag auch die verbrecherische israelische Regierung sein, aber Grund für diese Unsicherheit ist der antisemitische Reflex, alle Jüdinnen und Juden als Unterstützer israelischer Maßnahmen anzusehen, von ihnen eine demütigende Distanzierung von einem Land zu verlangen, mit dem sie nichts zu tun haben, und sie für Israels Verbrechen kollektiv verantwortlich zu machen. Das jedenfalls ist Antisemitismus in Reinform.