2025, Das Jahr der Erkenntnis

Das war vielleicht ein turbulentes Jahr, nicht wahr? Man kam ja gar nicht zum Durchatmen: Trumps Amtsantritt, Bundestagswahl, Gazakrieg: Eine Katastrophe jagte die Andere. Es würde mich nicht wundern, wenn 2025 einmal in den Geschichtsbüchern ähnlich herausragend dastehen würde wie z. B. die Jahre 1789 oder 1848. 2025 ist das Jahr, in dem wir erkannten, wenn wir es denn erkennen wollten, dass eine fortschrittliche Regierung, eine demokratische Gesellschaft, die ihre Entscheidungen über Kompromisse aushandelt, keinen dauerhaften Bestand haben kann. Für verwöhnte Traumtänzer, die in einer westlichen Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen sind, ist diese Erkenntnis schwer zu verdauen, das erfahre ich gerade am eigenen Leib. Trotzdem ist es wichtig, die Ereignisse gerade dieses Jahres einer kritischen Würdigung zu unterziehen und schonungslos ehrlich zu betrachten.

Nehmen wir das Beispiel Chile. Dort gab es vor einigen Jahren einen von der breiten Bevölkerungsmehrheit getragenen, friedlichen Aufstand gegen den Neoliberalismus, die Kontinuität der konservativen Politik nach dem Pinochet-Regime. Es gab sogar den Versuch, eine extrem fortschrittliche Verfassung zu verabschieden, der allerdings scheiterte. Trotzdem wurde eine linke und fortschrittliche Regierung gewählt. Nach ungefähr 5 Jahren wählten die Chilenen am letzten Sonntag einen bekennenden Pinochet-Befürworter mit 58 % der Stimmen zum neuen Präsidenten, einen Mann, der ein Regime verherrlicht, unter dem über 30.000 Chilenen umgebracht wurden, weil sie politisch links standen. Sie hatten es über Jahre in der Hand, diese autoritäre Schreckensherrschaft endgültig zu überwinden, und jetzt suchen sie in einer Neuauflage dieser Herrschaft durch eine demokratische Abstimmung ihr Heil.

Oder schauen wir uns die USA an: Dort haben sich die Demokratie und das Freiheitsideal recht lange gehalten, von 1787 bis 2025. Das gelang aber nur, weil die US-Regierung in Wahrheit durchaus autoritär sein konnte, wenn sie es musste. Sie erkämpfte sich die Stärkung ihrer Zentralgewalt in einem Bürgerkrieg. Die daraus entstandene Gesellschaft war durchaus autoritätshörig, es brauchte nur jemanden, der als Präsident dreist genug war, die Floskeln von Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, auf die die USA im Ausland fast nie etwas gaben, gegen die liberalen Eliten zu wenden. Donald Trump ist dieser Präsident, und er wird von der einzigen Bewegung getragen, die die Stärke besitzt, eine beachtliche, gut organisierte Bevölkerungsgruppe hinter sich zu vereinen, vom christlich-evangelikalen Fundamentalismus.

Und Deutschland? Wir glaubten, in unseren Staat unverrückbar das „nie wieder!!“ der Nachkriegsgeneration eingebrannt zu haben. Die Erinnerung an die größte industrielle Mordmaschine der Menschheitsgeschichte sollte nie verblassen. Doch die Gruppe, die sich nach einer klaren, autoritären Herrschaft sehnt, wird stets größer und einflussreicher, und es scheint kein Mittel zu geben, um sie aufzuhalten. Die, die zumindest noch keine Neuauflage des Nazi-Terrors wollen, scheinen noch die Mehrheit zu sein, sie sind aber geschwächt durch demokratische Grabenkämpfe.

Und somit entlarvt sich die Schwäche der Demokratie, die so erschreckend simpel ist, dass man es eigentlich von Anfang an hätte wissen müssen: Kompromisse und Prozesse brauchen Zeit, fördern Streit, fühlen sich nie durchschlagend und endgültig an und begünstigen Korruption und Vetternwirtschaft, oder genauer, sie begünstigen deren Öffentlichmachung. Und sie verlangen Beteiligung, erwarten, dass man sich als Bürger*in informiert und an der Ausgestaltung der Kompromisse und Entscheidungen teilnimmt. Das ist anstrengend, und es widerspricht fundamental den Sorgen des Alltags, die jede und jeder von uns hat. Demokratie funktioniert, wenn Intellektuelle in gesicherter sozialer und finanzieller Existenz sie im Elfenbeinturm durchspielen. Wenn man Zeit und Muße hat, wenn man sich wenig Sorgen machen muss, wie es den eigenen Kindern einst gehen wird, dann kann man auch ein wenig Demokratie versuchen. In der Bundesrepublik hatten wir das eine Weile, Dank sei wieder einmal Ludwig Erhards Wirtschaftswunder, dem eisernen Vorhang und der noch frischen Erinnerung an die Bombennächte des zweiten Weltkrieges. In bequemer Ruhelage funktioniert Demokratie, weil man sich ja nur um Kleinigkeiten streitet, abends genug zu essen auf dem Tisch hat und das Konto stets gefüllt ist.

In dem Moment, in dem es in der Wirtschaft kriselt, in dem also existenzielle Zukunftsangst aufkommt, nicht nur eine vorübergehende, die durch äußere Konflikte oder lang andauernde Frontstellungen wie den kalten Krieg hervorgerufen wird, versagt die Demokratie. Dann sehnen sich die Menschen nach einer starken Hand, nach Führern, die scheinbar rücksichtslos die Interessen ihrer Anhänger vertreten. Die Angst vor sozialem und wirtschaftlichem Abstieg in einer noch nicht festgelegten Zukunft reicht für diesen Umsturz in aller Regel aus. Politiker*innen müssen dann beweisen, wie kompetent und durchgreifend sie sind, und sie tun das, indem sie Sündenböcke ausmachen und ins Autoritäre driften. Und wenn die Demokratie autoritäre Mitspieler duldet, ist auf die Dauer alles verloren. Entweder erringen sie wegen ihrer einfachen Parolen und durchgreifender Rhetorik auf demokratische Weise die Macht, oder die Demokratie muss sie unterdrücken und wird dadurch selbst autoritär.

In vielen Ländern der Welt wählen die Menschen derzeit auf demokratische Weise extreme, und zwar immer rechtsextreme, Parteien. Rechtsextreme sind der politische Ausdruck für die kreatürliche Angst des Menschen vor allem Fremden, vor allem, was anders ist als sie selbst, vor allem, was sie bedrohen könnte. Linke, demokratische Gesellschaftsvorstellungen sind der Versuch, die Vernunft einzelner Menschen zu einer gesellschaftlichen Bewegung zu machen, doch das kann nicht funktionieren. Der Einzelne mag die Angst vor dem Fremden niederkämpfen, aber eine Masse kann das nicht. Sie ist zu leicht zu manipulieren und aufzupeitschen. Wenn die Masse einen Gegner hat, einen Sündenbock, lässt es sich leichter leben. Selbst in den demokratischen Zeiten, selbst im kalten Krieg gab es das. Da war der Feind die Sowjetunion. Die Panik vor der Sowjetunion war in unseren westlichen Wohlstandsgesellschaften nur nicht so groß, dass man sie durch Gewalt bekämpfen musste, zumal der Gegner selbst beachtlich stark war. Also belauerte man einander, bis das fragile Gleichgewicht zusammenbrach.

Der Mensch ist ein zur Vernunft begabtes Tier, zumindest als Einzelwesen. Doch als Masse unterliegt er, wenn er die Wahl hat, markigen Heilsversprechen, der Panik vor dem Fremden und der raffgierigen Angst vor wirtschaftlichem und persönlichem Abstieg. Die westliche Demokratie war ein Experiment, Kompromiss, Vernunft und wirtschaftlichen Ausgleich in eine gesellschaftliche Form zu gießen, die langlebig sein sollte, weil sich die Menschen an den politischen Prozessen beteiligten und ihre Gestaltungsmacht spürten. Sie erneuerte den Gesellschaftsvertrag nach Thomas Hobbes, der gesagt hatte, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, und der Staat zähme die menschlichen Leidenschaften. Er ging aber von einem autoritären Staat aus, wo Einzelpersonen mit Vernunft und Durchsetzungsstärke die Herrschaft zum Wohle Aller ausübten. Die Demokratie lässt die Leidenschaften und Ängste mitspielen, und ihnen ist jede Vernunft in der Masse unterlegen.

2025 war also das Jahr der Erkenntnis. Doch was nun? Wir dürfen bei der Erkenntnis nicht stehenbleiben. Zyniker würden sagen, wir brauchen jetzt einen großen Krieg, auf den wieder ein Aufschwung und ein neuer Versuch folgen kann, einen Fortschritt für die Menschheit zu erzielen. Auch ich fühle diesen Drang in mir, so zu argumentieren. Doch ich bin ein Einzelwesen und kann die Panik niederdrücken. Leider heißt das noch lange nicht, dass ich einen Zukunftsentwurf für unsere Erde in der Tasche habe. Unser Problem ist nämlich auch, dass selbst die, die Fortschritt wollen, inzwischen von Angst getrieben sind, vor allem von der berechtigten Angst vor dem Klimawandel. Doch Angst ist niemals der richtige Ratgeber, selbst jetzt nicht. Die Wahrheit ist, dass ich keine Lösung präsentieren kann. Der Glaube an gesellschaftliche Vernunft ist mir abhanden gekommen, und reinen Zweckoptimismus möchte ich nicht bedienen. Das ändert aber nichts daran, dass ich mich engagiere und meinen Prinzipien treu bleibe. Denn wenn überhaupt, dann ist das der richtige Ausweg: Jeder Einzelne, der oder die es vermag, handle in seinem oder ihrem Umfeld mit Mitmenschlichkeit und Vernunft. Dann wird es immer viele Inseln der Mitmenschlichkeit und des Friedens im Chaos geben, und viele Menschen werden dankbar dafür sein. Kein Einzelner kann antreten, die Welt zu retten. Für die eigene Familie, die Nachbarn oder die Menschen, mit denen man lebt und arbeitet, kann jede und jeder von uns jedoch ein Engel sein. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen guten Rutsch ins neue Jahr.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter erlebte Geschichte, Gesellschaft, Leben, Politik abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.