Als ich damals als Kind in Düren in der Internatsschule war, haben wir viel über die Eifel gelernt. Im sogenannten Heimatkundeunterricht ging es um das Hohe Venn, die Sumpf- und Moorlandschaft in der westlichen Eifel, um die Rur ohne H, die bei Sourbrodt in Belgien entspringt, durch Deutschland an den Städten Düren und Jülich vorbei in die Niederlande fließt und dort bei Roermond in die Maas mündet. Ich fand das interessant, aber meine Heimat war das nicht. Meine Heimat war immer Solingen im bergischen Land. Wenn ich heute daran zurückdenke, dass ich mit dem Heimatkundeunterricht nichts anfangen konnte, muss ich lächeln. Meine Wahlheimat liegt nämlich nur wenige, sehr wenige Kilometer weiter nördlich, ganz dicht bei Roermond in Mittellimburg, auf der westlichen Maasseite, im Bereich der
südostniederländischen Seenplatte und eines der größten Vogelschutzgebiete Mittel- und Westeuropas. Seit 31 Jahren fühle ich mich dort beheimatet, und morgen fahre ich wieder hin, wenn auch nur für 21 Tage.
Wenn das Auto langsamer fährt, weil wir die Autobahn verlassen haben, weiß ich, fühle ich schon in meinem Bauch, in meiner Brust, in meinem Herzen, wie es weiter gehen wird. Ich spüre den Straßenbelag der Schnellstraße mit dem Namen „Napoleonsweg“, noch bevor wir richtig Fahrt aufgenommen haben. Ich fühle schon die Bewegung, wenn der Wagen nach knapp 2 Kilometern rechts abbiegt und sofort wieder links. Es ist, als würde mit diesem Augenblick die Stille Einzug halten in mein hektisches Leben, und ich fühle die Freude in meinem Herzen, noch während wir über die Schnellstraße fahren. Es ist ein Sehnen, das ich nicht verstecken kann und will. Ich komme in meinem Gefühl nicht als Gast zurück, ich komme nach hause. Ich kann genau fühlen, wie es sein wird, wenn der Wagen langsamer wird, weil zur
Geschwindigkeitsverringerung ein sogenannter Drempel auf der Straße ist, eine plötzliche, recht starke Erhebung, vor der man langsamer fahren muss. Die Vögel hören sich anders an, die Luft riecht frisch und würzig, noch bevor der Motor des Wagens zum Stillstand kommt. Ein kurzer Schlenker nach Links auf den Parkplatz direkt gegenüber der Eingangstür zur Rezeption des heute so genannten Ferienparks, der für mich immer ein Campingplatz bleiben wird. Noch während ich fahre, male ich mir aus, wie es sein wird, wenn ich endlich wieder ausgestiegen bin, wenn ich endlich wieder die vertrauten Geräusche höre, das Rauschen in den Bäumen, das nirgendwo schöner klingt, das fröhliche Gespräch zwischen Menschen, die sich begegnen, einen Hund, eine Ente oder einen Frosch in der Ferne, den Knall einer Vogelscheuche im Feld, das Geräusch der langsam fahrenden Autos, die sich ihre Parkplätze suchen. Ich fühle schon jetzt, wie ich den Weg mit wenigen Schritten überqueren werde, wie ich vier kleine Stufen hinaufsteige, unter dem Vordach hindurch gehe und die Tür zur Rezeption öffne, oder sie steht bereits offen, weil das Wetter es zulässt. Zwei Schritte, und ich stehe vor dem hohen Desk und werde von der Rezeptionistin begrüßt. Wir kennen uns schon, viele Jahre sind ins Land gegangen, seit sie hier angefangen hat. Sie überreicht mir einen Schlüssel, mehr muss sie nicht sagen. Sie muss mich nicht einweisen, muss niemandem einen Weg erklären, ich komme ja nach hause. Früher war der Schlüssel nicht nötig, wir hatten ein eigenes Haus hier. 24 Jahre lang. Aber nach dem Tod meiner Eltern und der Zersplitterung meiner Familie verfiel es, und schweren Herzens haben wir es aufgeben müssen. Jetzt fahren meine Liebste und ich mindestens einmal im Jahr her, um unsere Seelen aufzutanken. Viel zu wenig, viel zu kurz. Nur eine „sentimental journey“.
Ich schwelge in der Vorfreude, jetzt, wo ich an diesem Schreibtisch sitze und diesen Text schreibe. Ich fühle genau die Schritte, wie es sein wird, wenn ich das Büro verlasse, mich nach links wende, ein paar Meter gehe, dann wieder nach links durch einen Schlagbaum, ein paar Meter geradeaus, bis von rechts ein Weg einmündet. Aber genau da wende ich mich nach links, gehe ein paar Meter über Gras und stehe vor der Eingangstür des Häuschens, das wir seit einigen Jahren für mindestens drei Wochen pro Jahr mieten. Es ist wie eine Heimkehr, auch wenn das Häuschen nicht uns gehört. Eine Holzbank mit Holztisch steht draußen, und wir werden während dieser drei Wochen oft dort vor der Türe sitzen. Schon bald werden unsere Freunde kommen, die das ganze Jahr über hier wohnen und bestimmt sehen, wie wir ankommen. Und wir werden unsere Sachen ins Haus bringen, noch einmal in die nächste Ortschaft fahren und ein paar Dinge einkaufen, und dann sind wir endlich da. Wenn morgen ein schöner Tag ist, was ich allerdings bezweifle, werde ich mehrere Stunden draußen auf der Holzbank sitzen, ohne irgendetwas zu tun oder zu sagen, ich werde einfach nur ankommen und mich mit den Geräuschen und Gerüchen füllen, überwältigt von der Vertrautheit und der Schönheit dieses Ortes. Ein Ort, an dem ich Frieden finde, ein Ort, an dem die Kindheit und die Geborgenheit noch nicht ganz verschwunden sind.
Irgendwann in den nächsten Tagen werden wir den Weg machen, den ich immer bald nach unserer Ankunft machen will, den Weg hin zum Standplatz unseres alten Häuschens. Ich werde durch den Schlagbaum hinaus gehen, den Platz überqueren, auf der anderen Seite wieder durch einen Schlagbaum auf einen anderen Teil des Geländes. Ich werde dem asphaltierten Weg folgen, auch wenn er irgendwann eine Biegung nach links macht. Rechts und links stehen Häuser, hört man Menschen geschäftig irgendwelche Dinge tun, vielleicht spülen, Essen Kochen oder ähnliches, mal läuft ein Radio oder ein Fernseher, mal bellt ein Hund. Ein Hund, der auch letztes und vorletztes Jahr schon an derselben Stelle bellte. Dann, fast am Ende der asphaltierten Straße vor dem Tor zum Reiterhof, biege ich nach rechts auf den Sandweg ab. Ich rieche den Sand in der Nase, ich spüre ihn unter meinen Füßen, noch stiller wird es. Ich spüre, wenn ich mich in ein Auto versetze, das diesen Weg entlang fährt, jeden Hubbel, jedes Schlagloch, dass diesem Weg bei meinem Vater einst den unschönen Namen „Schwangerschaftsunterbrechungsstrecke“ einbrachte. Ich weiß genau, wann wir leicht nach links und dann wieder geradeaus fahren müssen, um dem Weg zu folgen, der plötzlich im Nichts endet, eine Sackgasse ist. Und genau dort, wo der Weg endet, genau vor mir, wenn ich ihn entlang gehe, genau vor dem Kühler des Autos, wenn ich ihn entlang fahre, stand einst unser Haus, begann unsere Terrasse. Ein großes, schönes weißes Haus, gebaut wie ein L, mit einem großen Wohnraum, einem Bad, zwei Schlafzimmern und einem winzigen Flur, der die Räume miteinander verband. Ich kann das Holz an den Wänden fühlen, brauche nur hier an meinem Schreibtisch die Hand nach rechts auszustrecken, um über ein paar Teile der ehemaligen Außenverkleidung des Hauses zu streichen, die mir als Erinnerung geblieben sind. Auf meinem Balkon hier in Marburg kann ich mich in den Stuhl fallen lassen, der mehr als 15 Jahre in Heelderpeel auf der Terrasse stand. Dort, wo unser Haus stand, bilde ich mir ein, ist der schönste Fleck, den die Natur hervorbringen kann. Ich höre die Enten im See hinter unserem Haus, das Planschen der Kinder im Sommer, auch meine Nichten waren dabei. Ich höre die Musik von der Kantine und dem Festsaal her, der nur wenige Meter entfernt ist. Und doch herrschen die Vögel in den Bäumen, die Eichhörnchen, die mit Nüssen spielen. Ich höre noch, wie sie aufs Dach fallen, wie die Eichhörnchen hinterher springen, über das Dach laufen und die Nüsse holen, während ich im Bett liege und ihnen lausche, oder dem Regen, die auf die Zeltplane fällt, die unser Dach war. Es ist das tiefste und schönste Glück für mich, mich daran zu erinnern und zu wissen, dass ich diese Zeit hatte und genossen habe.
Dort wo das Haus stand werde ich in ein paar Tagen wieder stehen, die Natur begrüßen wie den Freund, der mit mir diesen Platz teilt. Ich werde eins sein mit der Welt, meinem Leben, meiner Liebe zu diesem Platz und mit der Schöpfung insgesamt. Dort werde ich stehen und in meinen Ohren die Schritte hören, die meine Eltern machten, wenn sie durch den Raum gingen, das knarren des Bodens, das Geräusch des Heißlüfters, des Gasboilers, wenn man warmes Wasser aufdrehte, des Kühlschrankes, wenn Glasflaschen in der Tür standen und man ihn heftig schloss, der Abzugshaube über dem Gasherd. Das Geräusch, das entstand, wenn meine Mutter mit dem elektrischen Gasanzünder die Kochplatte einschaltete, das Geräusch der sogenannten Ffliegentür, die uns im Sommer vor lästigen Insekten schützen sollte, es aber nie vermochte. Das Geräusch, das die Heizung machte, wenn mein Vater sie zu Beginn des Winters erstmals anzündete und der Funke das Gas einfach nicht entzünden wollte. Ich höre, wie die Stühle auf der Terrasse zurechtgeschoben wurden, wie der Fernseher klang, der nach und nach seinen Geist aufgab. Ich höre in meinem Geiste das Brummen des Kühlschranks und die Würfel, wenn sie beim Mensch-Ärgere-Dich-Nicht, Kniffel oder 21.000 auf den Tisch knallten und dort ihre Purzelbäume schlugen. Ich weiß noch, wie die Türen des Schrankes klangen, den meine Eltern selbst gebaut hatten und den wir nicht retten konnten. Ich kenne den unverwechselbaren Geruch des Hauses immer noch, ich erinnere mich, wie schwer die Schiebefenster nach einigen Jahren zu öffnen waren, und ich fühle noch die Polster auf dem Sofa, auf dem ich saß, die Tischdecke, die so rauh war und hauptsächlich dekorativen Charakter hatte. Ich sehe mich noch am allerersten 1. Mai, den ich dort verbrachte, auf einem anderen, alten Sofa dort sitzen, rechts neben mir das Radio und darin auf Mittelwelle die Stimme von Ernst Breitt. Und die Sonne schien durch die offene Haustür, und brachte sowohl ihre wärmenden Strahlen als auch den kühlen Wind mit. Und natürlich den Sand, der immer und überall war.
Das alles werde ich fühlen, wenn ich dort stehe, zum Gruß und zur Erinnerung. Dort, wo ich nie, nie wieder weggehen möchte. Und doch werden es nur 21 Tage sein. Dann werde ich wieder warten müssen. Warten und hoffen, dass beim nächsten mal noch alles so ähnlich sein wird wie jetzt.
Doch ich gehe nicht nur dorthin, um Altes zu bewahren. Wir haben dort neue Freunde gefunden, Katzen, Hunde und Menschen, ein tolles Restaurant, in dem wir essen werden, einen langen Weg durch den Wald, den wir gehen werden, und den altvertrauten Weg um die Felder und an den Bauernhöfen vorbei. Und wir werden am See sitzen und dem Gequake der Frösche lauschen. Wenn die Nacht angebrochen ist, die Vögel schweigen und die Menschen schlafen, dann gehört ihnen der Wald, dann ist ihr Quaken wie das Singen des Lebens in einer unermesslichen Kathedrale. Auf all das freue ich mich, ich werde es in den nächsten drei Wochen genießen und wünsche euch, dass auch ihr eine schöne Zeit haben werdet.