Es geht zu Ende: Der Traum von liberaler Demokratie ist ausgeträumt

Seit Monaten möchte ich etwas schreiben, möchte mir all die Gedanken aus dem Kopf hämmern, die mich vor allem Nachts heimsuchen, aber es gelingt mir einfach nicht, weil sie immer wieder durcheinander geraten und sich gegenseitig den Weg nach draußen versperren. Manchmal habe ich ganze Absätze im Kopf, doch bis ich aufgestanden bin und am Rechner sitze, ist alles wieder verschwommen, ist mir schon wieder viel zu viel eingefallen, was mit meinem ursprünglichen Gedanken einfach nicht in eine konsistente Form gebracht werden will. Seit ein paar Wochen kenne ich wenigstens den Grundgedanken, der dahinter steht: Der Kampf um Demokratie und Menschenrechte in diesem Land und vorläufig auch auf der Welt ist verloren, vermutlich bis nach dem nächsten, großen Krieg.

Das Land, in dem ich aufgewachsen bin, das sich gebrüstet hat, aus der Vergangenheit gelernt zu haben, befindet sich wieder im Präfaschismus, und wir alle wissen es und sind zu feige, die einzige Waffe zu nutzen, die uns noch übrigbleibt: Das AfD-Parteiverbot. Doch selbst wenn die Bundesregierung, der Bundestag oder der Bundesrat den Mut aufbrächten, unsere Demokratie, unseren Staat so zu verteidigen, wie das Grundgesetz es vorsieht und ermöglicht, heißt das nicht, dass dieses Land danach weniger menschenverachtend und raubtierkapitalistisch wäre. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, und nur der Staat kann die Leidenschaften zähmen. Darin hat dieses Land kläglich versagt.

Ich habe einen Brief bekommen. Er stammt von unserem Jobcenter. Darin schreibt man mir: „Einladung: Sehr geehrter Herr Bertrams, wir möchten mit Ihnen über Fragen und Möglichkeiten der beruflichen Eingliederung sprechen. Zu diesem Zweck laden wir Sie zu einem persönlichen Gespräch ein.“ Ein paar Zeilen später lese ich: „Sind Sie am oben genannten Meldetermin arbeitsunfähig, so wirkt die Meldeaufforderung auf den ersten Werktag der Arbeitsfähigkeit fort. Dies bedeutet, dass Sie sich am ersten Tag der Genesung bei uns persönlich vorzustellen haben (§ 59 Sozialgesetzbuch Zweites Buch [SGB II] in Verbindung mit § 309 Absatz 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch [SGB III]). Vereinbaren Sie bitte vorher telefonisch einen Termin für diesen Tag.“ Was für eine herzliche Einladung. Oder sollte es sich doch um eine Meldeaufforderung handeln? Und wenn ja: Warum schreiben Sie das dann nicht oben? In der „Einladung“ heißt es weiter: „Wenn Sie ohne wichtigen Grund nicht erscheinen, dann mindert sich Ihr Leistungsanspruch gemäß § 32 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) um 10 Prozent Ihres Regelbedarfs für die Dauer von einem Monat. Die Minderung beginnt mit dem Kalendermonat nach Zustellung des Bescheides, mit dem wir das Meldeversäumnis feststellen.“
Tausende von Schreiben dieser Art werden in Deutschland täglich verschickt. Tausende von Menschen werden jeden Tag in Angst geschlagen, schlafen nachts schlecht, ruinieren ihre Gesundheit und eigentlich auch ihre Arbeitsfähigkeit, aber das müssen sie verstecken, damit sie für die „Agentur“ noch als Menschen und nicht als Faulpelze und Drückeberger gelten. Mit einem Federstrich werden Menschen, ohne nach ihren persönlichen Situationen zu fragen, bis zu 30 % von ihrem absoluten Existenzminimum abgezogen. Das Bürgergeld ist das so eben noch mit dem Grundgesetz vereinbare Existenzminimum, sagt das Bundesverfassungsgericht. Wen kümmerts? Eine Jobcenter-Mitarbeiterin in Hamburg hängte den simplen, klaren Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ hinter ihren Schreibtisch an die Wand. Wieder und wieder hat man ihn entfernt. Schon damals, als ich davon hörte, war mir irgendwo in meinem Innern klar, dass wir für die Verwaltung nur noch Fälle sind, Arbeitsmaschinen, die man mit der neumodischen Peitsche dazu bringen muss, dass sie den Staat kein Geld kosten. Denn der Staat ist verschuldet und schafft eher die Daseinsvorsorge ab, als die Boni der Manager zu kürzen.

Ein anderer Gedanke treibt mich seit Jahren nachts aus dem Schlaf: Was wird geschehen, wenn ich einmal alt bin? Ich habe keine Familie außer meiner Frau, wir sind beide blind und ungefähr gleich alt. Was, wenn ich einmal zum Pflegefall werde? Eine Bekannte erzählte neulich, dass es heutzutage für eine blinde Person fast unmöglich ist, ohne eine Assistenz ins Krankenhaus zu gehen, weil der Service dort extrem zurückgefahren wird. Natürlich: Bei Gesundheit und Pflege wird immer mehr gespart. Gesundheit und Pflege müssen wirtschaftlich sein, das heißt, sie müssen entweder Gewinne erwirtschaften, oder zumindest dürfen sie nichts kosten. Warum investieren wohl private Firmen ins Gesundheitssystem? Der einzige Grund ist der Gewinn. Niemandem in der freien Wirtschaft geht es um Gesundheit, Pflege oder menschenwürdige Behandlung, sie wollen Gewinne machen. Daher denke ich seit langem, dass private Unternehmer in Bereichen, in denen es um Menschenwürde, Gesundheit, Daseinsvorsorge geht, nichts zu suchen haben. Doch der Staat ist verschuldet, und irgendwann muss eine Lösung her. Schon mein Vater sagte vor 40 Jahren: „Irgendwann kommt es so weit, dass sie dich am Ende deines Arbeitslebens zu einem guten Essen einladen, zu einem netten Tag in einem schönen Park, und dich dann mit einer Spritze umbringen, damit sie keine Rente bezahlen müssen.“ Noch schreckt die öffentlich-private Partnerschaft, die dieses Land in Wahrheit regiert, vor dieser Maßnahme des sozialverträglichen Ablebens zurück, aber wie lange noch? – Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen, hat ein Minister vor 20 Jahren gesagt. Auf diesem Weg sind wir.

In 20 Jahren, optimistisch gesprochen, wenn ich alt bin und Hilfe brauche, wird das Sozialsystem noch mehr auf den Hund gekommen sein. Wenn ich heute einen Arzttermin brauche, kann ich Monate warten. Die meisten sind ja ohnehin bloß Kassenpatienten und kosten mehr, als sie einbringen. Und was meine Liebste aus ihrer Arbeit als EUTB-Beraterin erzählt, geht in dieselbe Richtung. Das einst viel gerühmte soziale Netz ist rissig geworden, ist ein Schatten seiner Selbst. Und wie reagieren wir darauf? Wir wählen nicht etwa Parteien, die mehr soziale Gerechtigkeit wollen, sondern Parteien, die einen Führer und einen Bürgerkrieg gegen alles Fremde propagieren.

Was die AfD will mit ihrer Volksgemeinschaft, ihrem Rasse- und Blutsgedanken, das müssten wir wissen. Im Wirtschaftsbereich sind sie noch radikaler als die CDU und die FDP, die sie derzeit vor sich hertreiben. Die jetzigen Regierungen setzen schon die Politik der AfD um in der Hoffnung, ihr das Wasser abgraben zu können. Dabei schüren sie nur noch mehr den Hass der Bevölkerung, die Verunsicherung und die Enttäuschung über die einst so gelobte Demokratie mit ihren ausgleichenden Institutionen. In den achtziger Jahren gab es Verfassungspatriotismus, und das Bundesverfassungsgericht war die beliebteste demokratische Institution. Grundgesetz war Bürgers Liebling, und der nächsten Generation sollte es besser gehen. Und dann hat man den Politikerinnen und Politikern eingeredet, der Staat, die Bürokratie kosteten zu viel, der Staat würde nie aus der Schuldenfalle kommen, aber man könne ihn ja nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen führen. Überall wurde das Konzept „Konzern Stadt“ ausprobiert, und davon erholen wir uns nicht mehr. Denn Marktwirtschaft ohne soziale Komponente nützt nur den Reichen und Mächtigen. Sozial ist, was Arbeit schafft, sagt die SPD. Das hatte mal seinen Sinn, als Arbeit noch einen einfachen 8-Stunden-Job mit angemessenem Lohn bedeutete. Heute braucht man drei Jobs, um die Familie durchzubringen, und große Sprünge kann man damit nicht machen, ist mit 40 ausgebrannt und wird mit dem Bürgergeld bestraft. Der einzige Zweck von Bürgergeld und Gesundheitssystem ist heute noch, die Arbeitsfähigkeit der Menschen zu erhalten oder herzustellen, und zwar die reine Funktionsfähigkeit. Dass das alles eine psychische Komponente hat, ist scheißegal.

Ich bin ein Mensch, der immer mal wieder in depressive Stimmungen verfällt. Mein Studium habe ich deswegen aufgegeben, ich habe es nie bis auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft. Seit fast 30 Jahren bin ich ehrenamtlich tätig: Ich habe einen Behindertenverein mit gegründet und geleitet, der Arbeitsplätze geschaffen hat, und in dem ich zeitweise die Personalführung hatte, ich habe die Kobinet-Nachrichten mitgegründet, ich habe journalistisch hier im Lokalradio und seit 20 Jahren beim Ohrfunk gearbeitet, ich bin Mitglied der Jury für das marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte, ich bin im Vorstand meines SPD-Ortsvereins und war zwei Jahre lang Vorsitzender, ich bin hessischer Landessprecher der Humanistischen Union, ich habe politisch und publizistisch für die Gleichstellung behinderter Menschen gekämpft. In meiner Arbeitsbiographie ist das alles ein weißes Blatt, und zwar, weil ich niemanden reich gemacht habe, der es ohnehin schon war. In meiner Jugend hatte ich ganz andere Ideen, einen ganz anderen Glauben an die Chancen in diesem Land.

Und wenn man mich fragt, wer Schuld hat, dann sage ich mit dem Rest meiner Ausgewogenheit zunächst, wer keine Schuld hat, aber immer verantwortlich gemacht wird. Es sind die lokalen und kommunalen Politiker, viele Politikerinnen und Politiker auf Landesebene und sogar die Meisten, die im Bund arbeiten. Sie werden vor den Wirtschaftsinteressen und dem geifernden Volkszorn hergetrieben und wissen nicht, wie sie sich befreien sollen, weil sie vor dem immer gleichen Dilemma stehen: Wehre ich mich gegen das, was gefordert wird, werde ich nicht mehr gewählt, und dann kann ich auch nichts erreichen. Werde ich aber gewählt, muss ich mich den Sachzwängen unterwerfen und an die nächste Wahl denken, da bleibt kaum Zeit, etwas inhaltlich erreichen zu wollen. Diese Leute haben im klassischen Sinne keine Schuld, sieht man von Gerhard Schröder, dem Genossen der Bosse, ab. Wir alle erfüllen die Wünsche der wirklich Reichen und Mächtigen, die sie uns durch tendenziöse Medien mitteilen. Aber wenn ich jetzt noch von den Medien anfange, von den sogenannten sozialen Medien gar, höre ich bis nächstes Jahr nicht mehr auf.

Die AfD wird auch deshalb von so vielen mächtigen Personen und Gruppen unterstützt, weil sie genau deren Pläne verfolgt: Das Volk soll arbeiten, und wenn die Frauen am Herd stehen, gibt es auch keine Arbeitslosigkeit. Das Volk soll konsumieren, das Volk wird durch Kriegsspiele abgelenkt und unterhalten, andere Meinungen werden rücksichtslos unterdrückt. Wir stehen kurz vor der auch offiziellen Machtübernahme der Faschisten. Die Ampel war die letzte Regierung, die uns vor weimarer Verhältnissen bewahrt hat. Denn das Schlimme an Weimar waren nicht die vielen kleinen Parteien, wie immer behauptet wird. Das Schlimme an Weimar war, dass es irgendwann so wenige Demokraten gab, dass die Antidemokraten die Mehrheit im Parlament hatten, auch wenn sie nicht zusammenarbeiteten, sondern nur blockierten. Und wer weiß: Vielleicht haben die CDU unter Merz, die FDP mit Lindner und Kemmerich, das Bündnis Sahra Wagenknecht und die AfD zusammen nächstes Jahr eine Mehrheit, selbst wenn sie nicht zusammenarbeiten. Gegen diese faschistische und präfaschistische, trumpistische Mehrheit wird – wieder einmal – nur die SPD stehen, zusammen mit den Grünen. Die Linken werden nicht im Bundestag sein. – Es geht zu Ende, das Zeitalter der Hoffnung auf zivilisatorischen Fortschritt und Menschlichkeit. Die Menschheit wirft die Tünche ab, die Angst macht sie rasend, die Angst vor sozialem Abstieg, vor Bedeutungsverlust, und natürlich die Angst der Männer vor der Machtlosigkeit über die Frauen, das älteste und größte der Probleme, die wir hätten lösen müssen. Vor 35 Jahren glaubten Einige an das Ende der Geschichte im positiven Sinne. Die Demokratie werde sich nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes überall durchsetzen, glaubte man. Falsch gedacht! Im Kern aller Bemühungen um die Zukunft steht die soziale Frage, immer und überall. Wer die Entscheidungen darüber den Vermögenden überlässt, wer die Gier von der Leine und die Raffzähne auf die Menschheit loslässt, der zerstört auf die Dauer die Zivilisation.

Seit zwei Jahren, seit mir das alles klar ist, habe ich mich endgültig von den täglichen Nachrichten zurückgezogen. Ich kann Politik nur in extrem geringen Dosen ertragen. Sie greift meine Psyche ebenso an, wie es ein Brief vom Kreisjobcenter tut. Ich muss mir täglich meine Dosis schöner Stunden basteln, indem ich mit meiner Liebsten lese oder schreibe, indem ich Freunde treffe, Musik höre, Radio mache. Politik ist nur so lange spannend, wie es noch Überraschungen geben kann, wie es noch Dinge gibt, die den Lauf der Geschichte ändern. – Das ist alles vorbei, schon seit Jahren. Aber jetzt wissen wir es alle, scheuen uns nur, es zuzugeben. Vom Aufbruch der größten Massenbewegung in der Geschichte der BRD bis zum Rechtsruck der meisten jungen Menschen dieses Landes, hat es gerade einmal 8 bis 10 Monate gedauert. Anfang des Jahres gingen viele Millionen gegen die Remigrationspläne der AfD auf die Straße, auch und vor allem junge Menschen. Heute wählen sie diese Partei. Eine winzige Welle im Wasserglas war dieser sogenannte Aufbruch, und in ihrem Aufstieg hat die landesweite Empörung die AfD nicht im Mindesten behindert. Alles ist klar und vorhersehbar. Trumps Wahl war es, die Bundestagswahl ist es auch. Unter diesen Umständen macht Politik keinen Spaß.

Ich schreibe nichts Politisches mehr. Dabei war ich einmal ein leidenschaftlicher, engagierter Verfechter von Demokratie und Menschenrechten. Doch: „Der Traum ist aus.“

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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