Wie immer bei Bundestagswahlen habe ich den Tag über meine Gedanken aufgeschrieben, meistens bei Mastodon. Ich stelle sie hier mal gesammelt ein.
23.02.2025, 4 Uhr:
Guten Morgen ihr Tröten allerlei Geschlechts, ich bin schon wieder wach. – Der Wahltag dämmert herauf. Wie immer ergreift mich eine gewisse Spannung, und ich frage mich heute, wie Menschen wohl früher diesen Tag verbrachten, z. B. bei den letzten Reichstagswahlen vor der Nazi-Machtübernahme, oder bei der Wahl im März 1933. Meine Mutter war damals 4, und sie hat von spürbaren Spannungen unter den Erwachsenen gesprochen, die alle SPD wählten.
Es gab oft in den letzten 42 Jahren sogenannte Richtungswahlen, aber heute würde ich von einer Schicksalswahl sprechen. Dabei glaube ich nicht, dass die AfD heute offiziell die Macht übernimmt. Sie wird nicht stärkste Kraft werden, nicht bei dieser Wahl. Das muss sie aber auch nicht, wenn die CDU und die Anderen ihre Politik machen, weil sie Angst haben, den Anschluss zu verpassen. Sie denken nicht nach, dass eine wirkliche Alternative besser wäre. Sie wollen nur nicht verlieren.
Dass die AfD bereits Macht hat, spüren wir überall: Gestern wurde eine Wahlkampfveranstaltung der Grünen aufgelöst, weil ein AfD-Lokalpolitiker die Polizei rief und klar erfundene Anschuldigungen vorbrachte, die dazu wohl sogar ziemlich vage waren. Einem Verein, der eine Wahlempfehlung gegen Friedrich Merz ausgegeben hat, wird die Gemeinnützigkeit entzogen. Ein Eventfahrzeug des Zentrums für politische Schönheit wird vor der Demo beschlagnahmt, obwohl der TÜV es freigegeben hat.
Überall wird versucht, Antifaschisten das Leben schwer zu machen, mit meist fadenscheinigen, technisch anmutenden Begründungen. Kritische Stimmen sollen weniger sichtbar sein. In den USA sind sie einen Schritt weiter: Dort wurde ein Stadtrat offenbar festgenommen, weil er sich weigerte, ein „Make America Great Again“-Plakat aufzuhängen, habe ich gelesen. Und hier beschimpft Merz Demonstranten als linke Kriminelle. Vielleicht dauert es nicht mehr lang.
Nein, die AfD wird nicht die formelle Macht übernehmen, aber SPD und Grüne werden beim jetzigen Stand der Prognosen aus „staatspolitischer Verantwortung“ mit Merz koalieren, und das wird bedeuten, dass im wesentlichen Politik gemacht wird, mit der die AfD zufrieden sein dürfte. Der Druck auf die Politiker*innen ist enorm groß. Und in dieser Stimmung kann die AfD in nächster Zeit nur wachsen. Leider sind die Wahlprognosen oft relativ nah beim tatsächlichen Ergebnis.
07:10 Uhr:
Links ist vorbei in Deutschland, sagt Fritz Merz. Das stimmt nur, wenn er mit der AfD koaliert. Das alles ist bekannt. Trotzdem: Wieviele werden heute in letzter Minute noch Abstand von Merz und Weidel nehmen? Vermutlich niemand. Ich habe es schon öfter gesagt: Die Masse Mensch ist einfach zu manipulieren. Und auch das haben wir schon immer gewusst, wir haben es uns nur nicht klar gemacht. Straßenterror hat die Deutschen 1932 und 1933 nicht dran gehindert, Nazis zu wählen.
Wir hier auf Mastodon sind fast alle gegen Merz. Einige von uns sagen, dass wir zum Erhalt der Demokratie mit ihm zusammenarbeiten müssen, weil wir von Ost und West, von rechts und links bedroht werden. Es stimmt, dass wir Demokraten zusammenhalten müssen, dass kleinliche Zwistigkeiten hintangestellt gehören. Doch müssen wir mit einem zusammenarbeiten, der die Demokratie von innen heraus zerstört? Nach der Wahl werden wir mehr wissen, auch, ob es überhaupt Alternativen gibt.
Ich gebe zu: Von meiner Aufbruchstimmung Ende Januar ist nicht mehr viel geblieben. Von meiner Wut über Merz’s Tabubruch schon, aber sie glüht geräuscharm vor sich hin. Wie schnell die Welt sich drehen kann, das mussten wir in den letzten Wochen in Trumpland beobachten, und auch hier werden in vorauseilendem Gehorsam die Daumenschrauben angezogen. Nein: Noch kein Vergleich zum Nazi-Reich, aber ein Anfang, dem man wehren sollte. Aber wer will das hören? Wascht weiter eure Autos!
09:45 Uhr: Seit fast 2 Stunden laufen die Wahlen. Noch lohnt es sich nicht, in Liveblogs zu schauen. Stattdessen habe ich mir in Ausschnitten die letzte Wahlkampfrede von Friedrich Merz angehört. Sie ist erschütternd und Menschenverachtend, und ich hätte das selbst ihm nicht zugetraut. https://www.youtube.com/watch?v=S9GVltbO1-o Es ist erschreckend, unfassbar und erniedrigend.
Zunächst fiel mir auf, dass Merz etwas sagte, was ich auch in den letzten Tagen oft gesagt habe: Wenn alle Menschen mit Migrationshintergrund für 24 Stunden die Arbeit niederlegten, würden in Deutschland alle Lichter ausgehen. Daraus folgte für ihn: Wer gut arbeitet und sich benimmt, der gehört zu uns, der kann auch die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen und ist dann Deutscher. Er sagte übrigens auch, er würde nicht mit der AfD verhandeln, muss er aber auch nicht.
Und dann sagte er: „Ich frag mal die da draußen, Antifa und gegen rechts, wo waren die denn, als Walter Lübke in Kassel ermordet wurde von einem Rechtsradikalen? … Ich geb denen da draußen eine Antwort: Links ist vorbei! Es gibt keine linke Mehrheit und keine linke Politik mehr in Deutschland! Es ist vorbei! Es geht nicht mehr! Und jetzt werden wir … wieder Politik für die Mehrheit der Bevölkerung machen, für die Mehrheit der Menschen …, die gerade denken!“
Und dann fuhr er fort, er werde Politik für die Menschen machen, „… die noch alle Tassen im Schrank haben, für die werden wir jetzt wieder Politik machen. … Die können sich darauf verlassen, dass wir wieder Politik für Deutschland machen, und nicht für irgendwelche grünen und linken Spinner auf dieser Welt! Die sollen da draußen rumlaufen, aber sie haben mit der Mehrheit dieser Bevölkerung gar nichts zu tun!!!“ Und im Bürgerbräukeller? … wurde gejubelt!!! Wie dereinst!
So also sieht die Mehrheit für ihn aus, für den kommenden Kanzler. Und eine aufgehetzte Meute jubelt. – Sie werden diesmal nicht mit Springerstiefeln und Hundepeitschen kommen, sondern wie in den USA mit Computerpasswörtern, Haftbefehlen, erlogenen Gesetzesverstößen und mit der Selbstgerechtigkeit verräterischer Konservativer, die unsere Demokratie erdrosseln, die wir uns – so imperfekt wie sie auch war – mühsam aufgebaut haben, während er sein Geld genossen hat.
Und das Schlimme ist: Wir sind Diejenigen, die etwas dagegen tun könnten! Wir! Aber dazu dürfte nicht die Angst regieren, die Angst vor Abstieg und Krieg und einem Sturz in den Abgrund, neben allem Anderen, was das Leben schwer macht, Lähmung verbreitet und Verzweiflung sät. Und wenn dann einer kommt und einfache Lösungen und das Blaue vom Himmel verspricht … – Menschlein: Glaub ihm nicht. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Drum wird die Wahl so sein, wie sie sein wird.
11:40 Uhr: Wisst ihr, was ich befürchte? – Viele Menschen, die bis jetzt unentschlossen waren, wählen nach der gestrigen Rede Friedrich Merz und die CDU. – Warum? Weil ihnen das woke und linke gesocks mit dem Gender-Stern und der Geschlechtsumwandlung ohnehin auf den Geist geht, während sie sich mit ein oder zwei Jobs über Wasser halten müssen. Und die Anderen, das sind doch alles Mimosen! Um die kümmern sich alle, um die arbeitende Bevölkerung keiner! Nicht meine Meinung! Aber ich kenn solche.
14:40 Uhr: Jetzt haben wir eine lange Pause gemacht und doch viel debattiert, meine Liebste und ich. Dabei habe ich zuerst draußen gesessen auf dem Balkon, später wieder drinnen, und die ganze Zeit haben Kinder gespielt und Vögel gesungen. Die Kinder sind mit der Zeit immer lauter geworden. Herrlich! Es waren 15 Grad, und ich hätte mir beinahe ein T-Shirt angezogen. Also: Wählen im Winter ist kein Problem. 🙂
Gerade habe ich gesehen, dass die Wahlbeteiligung geringer sein könnte als 2021. – Hört sich erst einmal schlecht an, aber viele haben Briefwahl gemacht, ich auch. Wir dachten ja alle, am Wahltag ist es arschkalt! 🙂 Und selbst wenn wir heute verlieren, was ja zu erwarten steht: Wir kämpfen weiter, gehen auf die Straße und zeigen, was für ein Land wir wollen! Freundlich! Tolerant! Sozial gerecht! Ein Land eben, in dem man gut und gerne leben kann, wie mal eine Kanzlerin sagte.
Meine Liebste und ich haben darüber geredet, dass man Menschen nur dann für etwas motivieren kann, wenn man ihnen positive Dinge sagt, ohne die Negativen zu verschweigen. In diesem Sinne: Heute abend ist nicht aller Tage abend, sondern nur der Abend von heute. Morgen geht es weiter, und solange wir eine Stimme haben, können wir sie auch einsetzen. Und es gibt viele tolle Initiativen, die man unterstützen kann! Wir dürfen einfach nicht aufgeben!
Und ich denke, wir dürfen einfach nach dieser Wahl nicht nachlassen, müssen weiter auf die Straße, müssen Solidarität im Alltag zeigen, anstatt uns immer nur über die AfD aufzuregen. Das fällt mir sicher sehr schwer, aber vielleicht ist es wirklich der bessere Weg. Ganz wichtig ist eben, zu wissen, was wir wollen, und nicht nur das, was wir nicht wollen! Wir müssen eine positive … … äh … Vision für Deutschland entwickeln!
17:45 Uhr: Ich musste ein wenig vorschlafen, denn ich habe heute von 22 bis 0 Uhr Sendung auf https://www.ohrfunk.de – Und morgen um 9 vertrete ich einen Kollegen und bin schon wieder im Radio. Deshalb bin ich ein wenig runtergefahren. Jetzt ist es also gleich so weit, und zugegeben: Mir wird Angst und bange. – Denn ganz offenbar herrscht an der Wahlurne große Verunsicherung. Das ist immer ein schlechtes Zeichen. Viel Glück also!!
18:01 Uhr: Okay. Ungefähr so wie befürchtet, aber nicht ganz so schlimm. Wobei sich das noch ändern kann. Dass die FDP vielleicht doch noch rein kommt, ist allerdings eine unglaubliche Katastrophe. Wobei wir das werden abwarten müssen. Puh. CDU und AfD könnten vermutlich nach Sitzen tatsächlich eine Regierung bilden. – Wird eine Weile dauern, bis mir dazu was einfällt. Das Wunder jedenfalls ist ausgeblieben, die große Katastrophe ist nicht schlimmer als erwartet.
18:12 Uhr: Hier in meinem Zimmer muss es jetzt mal für eine kurze Weile ganz still werden. Eine menschenverachtende Partei könnte mit einer, die auf dem Weg ist, so eine zu werden, ganz einfach eine Regierung bilden. In Deutschland ist bei einer historisch hohen Wahlbeteiligung ein Rechtsbündnis, das im Parlament schon mal getestet wurde, auf fast die absolute Mehrheit der Stimmen gekommen. Wirklich erstmals seit März 1933. Das will begriffen werden.
Vor ein paar Tagen wurde in Hamburg ein blinder Mann von einem Passanten angesprochen: „Wenn wir erst mal an der Macht sind, werdet ihr von diesem Planeten verschwinden“, wurde ihm sinngemäß gesagt. Jetzt sind sie faktisch an der Macht. Das Gefühl ist ähnlich wie an dem Tag, an dem Trump erstmals gewählt worden ist. Es muss erst noch in mich eindringen. Aber es war erwartet und daher nicht mehr so stechend. Man schafft sich die neue Normalität.
Aber wir werden weiterkämpfen! Wir haben nur ein Leben, wir alle! Wir müssen es uns gestalten! Wir wissen ja jetzt, was wir von unseren Nachbarn, Kollegen, teilweise auch Freunden und Familienmitgliedern zu halten haben, wenn wir es nicht schon vorher wussten, oder wenn wir nicht in einer Blase der Glücklichen lebten. Die Hälfte also. – Fast jedenfalls, abgesehen von den CDU-Wählern, die das aus Gewohnheit machen. Danke, Deutschland.
24.02.2025, 00:06 Uhr:
Immer ist noch nicht ganz raus, ob das BSW nun in den Bundestag einzieht oder nicht. Nach meiner Sendung schwirrt mir der Kopf. Ich werde diese Wahl jetzt im Schlaf verarbeiten, auch wenn ich nur knapp 4 Stunden Zeit dafür habe. Wir hören uns dann nachher wieder. Gute Nacht.
07:53 Uhr: Etwas spät schließe ich meine Berichterstattung zum Wahltag ab. Da ich gleich um 9 Uhr schon wieder bei https://www.ohrfunk.de auf Sendung bin, kann ich nicht viel sacken lassen. Es wird wohl wieder eine große Koalition geben, und man wird der SPD für alles die Schuld geben, was nicht funktioniert. Die AfD kann die Zeit in der Opposition nutzen. Trotzdem haben wir einiges erreicht mit dem guten linken Ergebnis und der Verhinderung der Duldung durch die AfD.
Viel schwieriger finde ich das, was bei meinen Debatten mit meiner Liebsten Bianca geschehen ist. Diese Wahl und die Berichterstattung hat uns ziemlich zermürbt. Wir streiten darum, wie man am besten damit umgeht, dass die AfD eine faschistische Partei ist. Durch Erinnern und Vergleichen, oder durch Analysieren der Einzelaktionen der Parteifunktionäre, woraus sich dann ein Gesamtbild ergibt. Es geht darum, viele Menschen zu überzeugen, dass die AfD und CDU nicht für sie arbeiten.
Es wird schwer, diese Überzeugung zu vermitteln, zumal viele von uns heute schnell mit Nazi-Vergleichen sind, ich selbst vor allem auch. Ich muss darüber nachdenken, wie das anders gehen kann, damit überhaupt die Chance besteht, dass die Menschen zuhören. Sie mit ihrer Geschichte und ihren Sorgen ernstnehmen, ohne ihnen nach dem Mund zu reden, das ist wohl wichtig. Denn Sorgen und Unzufriedenheit kennen viele, nur bei den Ideologen hat es einfach keinen Zweck.
Jetzt müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass die nächste Regierung gute Politik macht. Das wird nicht einfach, weil die SPD wenig Einflussmöglichkeiten haben wird und immer mit dem Druck einer Zusammenarbeit mit der AfD erpresst werden kann. Darum bitte, liebe Zivilgesellschaft: Protestiert weiter, aber seid vor allem *für* bessere Politik, anstatt gegen Merz. Wir müssen konstruktiv sein und Alternativen bieten. Bis später.