Wie in einem dystopischen Hörspiel

Vor ein paar Tagen las ich die Schreckensmeldungen auf Mastodon, vor allem über das Niedrigwasser im Rhein. Ich habe meine Gedanken dazu aufgeschrieben.

Während ich hier so lese, beschleicht mich das Gefühl, mich in einem Katastrophenhörspiel zu befinden, das ich einmal gehört habe. Ein Journalist sitzt an seinem Schreibtisch in gut geheizter und mit allem Komfort ausgestatteten Wohnung und schaut sich die Katastrophen der Welt aus scheinbar sicherer Entfernung an. Nur dass es seit Monaten nicht geregnet hat, macht ein bisschen Sorgen. Ansonsten ist die Welt einfach verrückt.
Da ist die Weltwirtschaftskrise, weil ein verrückter US-Präsident so hohe Zölle erhebt, dass der Handel zum Erliegen kommt. Noch gibt es alles, na, vielleicht renkt es sich ja auch wieder ein? – Wird schon nur halb so schlimm sein, oder? Der ist ohnehin verrückt. Jetzt kämpft er gegen die Wissenschaft an sich. Hat man so was schon gehört? Aber er wird sich die Hörner schon noch abstoßen, oder? Wir müssen erst mal unsere eigenen Probleme lösen.
Da ist der beunruhigende Rechtsextremismus in Deutschland, rundrum auch. Bei der jüngsten Prognose ist diese Deppenpartei fast stärkste Kraft. Die Menschen sind wirklich Idioten, wie können sie solche Typen wählen? Der Journalist schüttelt den Kopf, er hat sich nichts vorzuwerfen, er hat immer ausgewogen und fair berichtet. Doch beunruhigt ihn das Ganze. Nicht gerade wie eine Panik, aber es nagt an ihm. Hoffentlich beruhigen sich alle wieder.
Noch mal die USA: Da werden doch tatsächlich völlig Unschuldige interniert, und die Regierung wird radikal abgebaut. Ein bisschen zu viel für den Geschmack des linksliberalen Journalisten, das sollte er mal in einem Kommentar sagen. Aber heute abend will er erst einmal mit Freunden essen gehen und die Welt die Welt sein lassen bei einem reichhaltigen Mahl und einem guten Wein. Man muss auch mal abspannen.
Okay, viele Leute übertreiben auch, denkt der Journalist. Es ist beunruhigend, das sieht er auch, aber die, die vom Faschismus reden, tun sich keinen Gefallen, denkt er. So ein Begriff nutzt sich ab, wenn er zu häufig verwendet wird. Außerdem marschiert noch niemand mit Springerstiefeln durch die Stadt. Nur ein paar Verrückte, aber die hat es immer gegeben. Muss man halt die Polizei stärken, denkt der Journalist.
Der neue Bundeskanzler hat markige Sprüche drauf, manchmal übertreibt er. Aber vielleicht ist das ja ein guter Trick, und die Rechten sammeln sich um ihn, und dann macht er doch vernünftige Politik. Das wär‘ doch mal was. Er sollte nicht so gegen Linke, Ausländer und NGO’s hetzen, aber so ist das in diesen aufgeregten Zeiten. Eine leise Stimme kommt da nicht mit, denkt der Journalist in seiner gut geheizten und gekühlten Wohnung beim Wein.
Und dann werden endlich mal harte Maßnahmen gegen die Hetze unternommen. Manche sagen, die Presse- und Meinungsfreiheit wird eingeschränkt, aber die Wahrheit ist doch, dass man kaum noch eine geordnete Debatte führen konnte. Überall waren Trolle und andere Deppen unterwegs. Das wird jetzt eingeschränkt. Trifft leider auch Demokratiegruppen, aber die waren in letzter Zeit ja auch besonders laut, denkt der Journalist.
Übrigens hat es immer noch nicht geregnet. Das Gras verdorrt, der Fluss führt fast kein Wasser. Er hat immer vor den Folgen des Klimawandels gewarnt, aber eigentlich müssten wir ja noch 30 Jahre Zeit haben oder so. Man muss den Leuten das langsam und vernünftig beibringen und darf sie nicht verschrecken. – Was? Börsencrash? Immobilienkrise? Sein nicht abbezahltes Haus? Scheiße, denkt der Journalist. Ist die Welt bescheuert?
Und dann auf der Arbeit: Kommentare dürfen sich nicht mehr gegen den Versuch wenden, eine weitere Spaltung der Gesellschaft zu verhindern. Eigentlich recht vernünftig, denkt der Journalist, aber ein bisschen wurmt es ihn doch, dass auch sein manchmal spitzes Kommentarformat betroffen ist. Man könnte glauben, die Regierung wolle keine Kritik. Natürlich Quatsch in einer Demokratie, oder?
Alles ist so teuer geworden, Lieferketten brechen zusammen, die Inflation galoppiert. Mist! Das hatten wir doch schon mal, denkt der Journalist. Er will die Wahrheit sagen nach einer guten Recherche, will Ross und Reiter nennen, aber … er darf nicht. Das könnte die Bürger*innen verunsichern und zur Spaltung der Gesellschaft beitragen. Und die Zustimmung für die Faschisten wächst. – Was? Stromausfall? Keine Kühlung? Was? Polizei? Er? usw.
Es gibt so dystopische Hörspiele, die ganz langsam anfangen, wo man über mehrere Folgen aus der Sicht eines zunächst unbesorgten Menschen die Katastrophe mitverfolgen kann. Mit dem Crash von heute, dem Rhein mit Niedrigwasser, der Tatsache, dass die AfD praktisch stärkste Partei in den Prognosen wird, fühle ich mich wie in einem dieser Hörspiele gefangen. Bloß ist es nicht spannend. – Es ist gruselig, und zum Weglaufen zu spät.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter erlebte Geschichte, Gesellschaft, Medien, Politik abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.