Die Krux mit der Wahlrechtsreform

In den letzten zwei Tagen hat das Bundesverfassungsgericht über die Wahlrechtsreform verhandelt, die der Bundestag im letzten Jahr beschlossen hatte. Die Linke, die CDU, die CSU und der Verein „mehr Demokratie“ mit 4000 Bürgerinnen und Bürgern hatten gegen diese Reform geklagt. Ich möchte versuchen, den Sinn und die Problematik dieser Reform zu erklären.

Der Bundestag wird alle vier Jahre gewählt, jeder Bürger und jede Bürgerin hat zwei Stimmen. Mit der Erststimme wählt man einen Bewerber oder eine Bewerberin aus dem eigenen Wahlkreis. Es gibt 299 Wahlkreise, und wer die meisten Stimmen in diesem Wahlkreis hat, und sei es nur eine Stimme mehr als der nächste Kandidat, hat gewonnen und zieht ins Parlament ein. Damit sind 299 Sitze besetzt. Das Parlament soll aber 598 Abgeordnete haben, die zweite Hälfte wird nach der Zweitstimme besetzt. Es wird, vereinfacht gesagt, geschaut, wieviel Prozent der Zweitstimmen auf welche Partei entfallen. Sie werden nach der Reihenfolge über Listen besetzt, die von den Parteien zuvor aufgestellt werden. Nun ist es aber nicht so, dass nur die zweite Hälfte der Abgeordneten auf diese Weise ermittelt wird, sondern der Bundestag als Ganzes soll prozentual nach dem Zweitstimmenergebnis aufgeteilt sein. Wenn also die CDU bei den Zweitstimmen genau 40 % bekommen hat, so sollen 238,2, also 238 der 598 Abgeordneten CDU-Leute sein. Was aber, wenn die CDU alle 299 Wahlkreis-Stimmen gewonnen hat, also schon bei den Erststimmen 61 Abgeordnete mehr hat, als ihr eigentlich zustehen? Dann wird der Bundestag durch zusätzliche Mandate an die anderen Parteien so vergrößert, dass die 299 direkt gewählten Abgeordneten der CDU 40 % der Mitglieder des Bundestages entsprechen. Damit hätte der Bundestag statt der gewünschten 598 jetzt 748 Mitglieder und wäre riesengroß. Ziemlich genau so ist es 2021 auch gekommen, der Bundestag hat derzeit 736 Mitglieder, also 138 mehr, als es eigentlich sein sollten. Ein Hauptgrund dafür ist die CSU. Ihr standen nach der letzten Wahl nach dem Zweitstimmenergebnis 34 Abgeordnete zu, sie hatte aber 45 Direktmandate über die Erststimme gewonnen, und diese 11 Überhangmandate, so die offizielle Bezeichnung, mussten durch Ausgleichsmandate an die anderen Parteien eben ausgeglichen werden, um das Wahlergebnis korrekt abzubilden.

Ein weiteres Problem war der Einzug der Fraktion „Die Linke“ in den Bundestag. Normalerweise werden bei der Sitzverteilung nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 % der Zweitstimmen erhalten haben. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Wenn eine Partei, die weniger als 5 % erhalten hat, drei Direktmandate über die Erststimme gewinnt, dann gilt für sie die 5-%-Hürde nicht mehr, und sie zieht in voller Stärke in den Bundestag ein. So konnte die Linke mit 39 Abgeordneten in den Bundestag einziehen, obwohl sie nur 4,9 % der gültigen Zweitstimmen bekommen hat.

So war es bei der letzten Wahl. Der vergrößerte Bundestag bringt nicht nur Platz- und Arbeitsprobleme mit sich, weil alle Arbeitsgruppen so groß sind, dass sie nicht vernünftig und effektiv arbeiten können, er kostet auch über 100 Millionen Euro mehr pro Jahr. Jedes Bundestagsmitglied braucht ein Büro, Angestellte und Arbeitsmaterialien, um nur die wichtigsten Dinge zu nennen.

Daher hat die Ampel-Koalition eine Wahlrechtsreform beschlossen, die den Bundestag dauerhaft auf 630 Abgeordnete verkleinern soll. Zunächst einmal wurde die sogenannte Grundmandatsklausel abgeschafft, also die Regelung, dass eine Partei in den Bundestag einzieht, wenn sie drei Direktmandate gewonnen hat, auch wenn sie unter 5 % der Zweitstimmen erhielt. Die Linke wäre damit nicht mehr im Bundestag, wenn sie an der 5-%-Hürde scheitern sollte. Dagegen klagt die Linke vor dem Bundesverfassungsgericht.

Der zweite wichtige Punkt bei der Wahlrechtsreform ist die Regelung, dass künftig nicht mehr alle direkt über die Erststimme gewählten Abgeordneten auch tatsächlich in den Bundestag einziehen sollen. Nehmen wir wieder das Beispiel der CSU von der letzten Wahl. Sie hätte nach dem Zweitstimmenergebnis 34 Sitze gehabt, hatte aber 45 Wahlkreise gewonnen. Nach der Wahlrechtsreform würden die 11 direkt gewählten Wahlkreisbewerber mit dem schlechtesten Ergebnis keinen Sitz im Bundestag bekommen. Ganz so schlimm wäre es nicht, denn weil der Bundestag auf 630 Mitglieder aufgestockt werden soll, würde es nur 9 Wahlkreisbewerberinnen und -Bewerber treffen. CDU und CSU klagen gegen diese Regelung, sie befürchten sogenannte verweiste Wahlkreise, also solche, die keinen Direktkandidaten im Bundestag haben werden. Das finden sie undemokratisch, weil diese Kandidaten direkt vom Volk als Personen gewählt wurden. Da ist etwas dran, und das ist auch der schwierigste Punkt der Wahlrechtsreform. Allerdings weisen Politikwissenschaftler*innen darauf hin, dass die Parteien die Wahlkreisbewerber*innen in der Regel auch auf aussichtsreiche Listenplätze setzen, sodass sie auch dann in den Bundestag kommen, wenn sie in ihrem Wahlkreis verlieren. Die Parteien würden also die unsicheren Kandidaten sicher hoch auf ihren Listen platzieren und dadurch diese Personen über die Zweitstimme in den Bundestag bringen. Auch das ist natürlich richtig und wird auch jetzt schon so gehandhabt. Es geht der CSU sicherlich darum, an Einfluss zu verlieren, wenn die Wahlrechtsreform das Ergebnis so abbildet, wie es die Zweitstimme vorsieht. Es könnte nämlich passieren, dass die CSU in Bayern alle 45 Wahlkreise gewinnt, aber, weil sie nur in Bayern antritt, an der 5-%-Hürde scheitert. Dann wäre sie schlicht nicht im Bundestag, trotz der vielen gewonnenen Direktmandate.

Interessanterweise verlangt der Verein „mehr Demokratie“, die 5-%-Klausel auf 3 % abzusenken. Anhand der letzten Wahlergebnisse beweist der Verein, dass dadurch eine Regierungsbildung nicht schwieriger werden würde, weil es zwischen 5 und 3 Prozent kaum Splitterparteien gibt, die das Regieren unmöglich machen würden. Damit würde man sowohl für den Wiedereinzug der CSU, als auch für den der Linken sorgen und den Bundestag trotzdem verkleinern, die Hauptklagen gegen die Wahlrechtsreform wären also vom Tisch.

Bei der zweitägigen mündlichen Verhandlung vertraten viele Expertinnen und Experten die Ansicht, die Erststimme und die Direktkandidaten hätten in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren, zumal man in jedem Wahlkreis Personen fände, die im Bundestag seien, auch wenn sie nicht direkt, sondern über die Listen gewählt worden seien. Die Reform sei als Verkleinerung des Parlaments sinnvoll. Die Kläger*innen sahen das natürlich ganz anders. Wann und wie das Verfassungsgericht über die Klage entscheiden wird, ist noch völlig offen, doch es kann sich nicht allzu viel Zeit lassen. Die Vorbereitungen für die nächste Bundestagswahl müssen bald beginnen, und dann muss klar sein, welches Wahlrecht gilt.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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