Was mache ich jetzt bloß?

Schon wieder hat mich die Sprachlosigkeit überfallen. Vor drei Monaten hoffte ich auf ein Ende meines Winterschlafs, doch das Gefühl des Aufbruchs versiegte nach ein paar Wochen. Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt machen soll.

Es hat mir früher immer Spaß gemacht, politische Kommentare zu schreiben. Ich konnte mich an manchen Dingen reiben, ich habe immer wieder geunkt, war nur selten zufrieden. Doch immer habe ich unsere Demokratie, das Grundgesetz und die Menschenrechte hochgehalten. Und ich war lange überzeugt, dass wir in Deutschland diese Werte gemeinsam verteidigen, selbst wenn der Faschismus an Boden gewinnen sollte. Dann wurde in den letzten Jahren die AfD immer stärker, und auf der ganzen Welt erhob der Faschismus sein unmenschliches Haupt. Das hat mich gelähmt, diese täglichen Horrornachrichten, zusammen mit denen über das Klima, die man inzwischen am eigenen Leib erfahren kann. Das Gefühl, auf den Abgrund zuzurasen, wurde ständig präsenter und dringlicher.

Natürlich habe ich nach alternativen Verhaltensweisen gesucht, mich nicht lähmen zu lassen. Es ist mir teilweise gelungen. Ich habe mich in der SPD engagiert, war zwei Jahre lang Ortsvereinsvorsitzender hier am Ort. Dass diese Arbeit auch in einer Katastrophe endete, hat andere Gründe und wird durch persönliche Animositäten und lange existierende Probleme bestimmt. Ich war froh, als ich mein Amt nach zwei Jahren niederlegen konnte, leider ohne etwas Positives bewirkt zu haben. Eine weitere Maßnahme, um mich vor den schlechten Nachrichten zu schützen, war der fast völlige Verzicht auf tagesaktuelle Nachrichten. Wenn ich meinen Internetbrowser öffne, lande ich auf der Nachrichtenseite des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den Niederlanden, und ich schaue jeden Tag nach den Schlagzeilen und lese kurze Artikel, wenn ich über ein Thema mehr wissen will. Mehr geschieht bei mir seit fast einem Jahr nicht mehr. Das hat durchaus geholfen, hatte aber einen entscheidenden Nachteil: Ich konnte kaum noch fundierte politische Kommentare zu aktuellen Themen schreiben. Ich habe es auch nicht vermisst, denn die Nachrichten ähnelten sich ohnehin. Stattdessen schrieb ich über den Fall Lindemann, der mich wirklich ärgerte und bewegte, musste mich mit einem Virusbefall auf diesem Blog herumschlagen und habe lange daran gearbeitet, es zu retten. Es ist mir gelungen.

Dann, im Januar, spürte ich einen großen Aufbruch. Millionen Menschen gingen gegen die AfD und ihre Deportationspläne auf die Straße. Das hat mir Mut gemacht, und für ein paar Wochen glaubte ich, ich könnte jetzt wieder häufiger politisch schreiben und den Aufbruch und die Kehrtwende dokumentieren, doch ich hatte mich getäuscht. Wie ich es am Anfang ein wenig befürchtet habe, flauten die Demonstrationen nach ungefähr vier Wochen ab, die Medien verloren das Interesse, die AfD erholte sich, obwohl sie einen kurzen Moment des Schreckens erlebt hatte. Wir wussten, was man gegen die Faschisten tun konnte, und wir haben uns die Zügel wieder aus der Hand nehmen lassen.

Jetzt lauten die Nachrichten anders: Millionen junger Menschen folgen der AfD auf Tik Tok, mehr als allen anderen Parteien zusammen, viel mehr. Gerade die jungen Menschen strömen massenhaft den Faschisten zu. Natürlich ist es verständlich, weil sie große Ängste vor der Zukunft haben. Vor drei Jahren schien die Bewegung „Fridays for future“ noch in eine ganz andere Richtung zu deuten. Das Zeitfenster, in dem man schnell hätte reagieren können, weil viele Menschen über die Deportationspläne ehrlich empört waren, hat sich geschlossen. Es ist ja niemand deportiert worden, und nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, sagt sich der Durchschnittsbürger und vielleicht auch die Durchschnittsbürgerin. Björn Höcke wird vermutlich mit Zustimmung oder Enthaltung der CDU zum thüringischen Ministerpräsidenten gewählt, die Europawahl wird zu einem Triumphzug der AfD, denn zur Europawahl zu gehen ist für die meisten Menschen unwichtig, weil sie den Sinn und die Macht Europas nicht verstehen. Wie denn auch? Die Nachrichtenflut ist eine einzige Reizüberflutung, und wer sich ihr aussetzt, kommt darin um. Die politischen Mühlen mahlen langsam: Weder hat man Björn Höcke bestimmte Grundrechte entzogen, noch einen Verbotsantrag gegen die AfD beim Bundesverfassungsgericht gestellt, was spätestens nach der Geheimkonferenz in Potsdam angezeigt wäre. Und jetzt hat ein AfD-Landesverband offenbar Teile dieser Pläne in sein Wahlprogramm übernommen, und es scheint niemanden mehr zu kümmern. Jemand schrieb es auf Mastodon, wo ich gestern nach drei Monaten mal fünf Minuten war. Ich war bislang zu träge, es nachzuprüfen. So sieht es bei mir aus.

Das Problem ist, die Welt, wie sie ist, zu ertragen, wenn man einigermaßen sensibel und leicht umzuhauen ist. Bin ich wohl. Dann hilft nur Abstinenz, doch dann verstummt auch die eigene Stimme, und zum Teufel! Das will ich nicht! Dieses Blog ist vor vier Tagen 19 Jahre alt geworden, und ich schreibe schon viel weniger als früher, aber ganz verstummen möchte ich nicht. Vielleicht sollte ich nicht so sehr über aktuelle, als vielmehr über andere, allgemeinere Dinge schreiben. Doch zusehen, ohne etwas zu sagen, ist für mich auch sehr schwierig.

Was mache ich jetzt bloß? Wie überzeuge ich mich, dass es sich noch lohnt, zu bloggen, zu informieren, zu kommentieren?

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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