Ende des Winterschlafs: Deutschland demonstriert gegen Faschismus

Es ist zum aus-der-Haut-fahren! Da wollte ich Sie und euch alle mit
besonderer Fröhlichkeit und überschäumendem Herzen begrüßen, befreit von
allen lähmenden Einflüssen und Zweifeln, und nach kaum zwei Tagen muss
ich wieder mäckern und unken. Das kann doch einfach nicht wahr sein! –
Aber wisst ihr was? Jetzt erst recht! Mäckern und unken werde ich am
Ende des Beitrags.

Herzlich willkommen zum ersten politischen Kommentar des Jahres 2024.
Mit der schweigenden Mehrheit in Deutschland bin auch ich erwacht. Und
es ist ein extrem befreiendes Gefühl zu wissen, dass am Wochenende mehr
als 1 Million Menschen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie auf
die Straße gegangen sind. In München und Hamburg mussten die
Demonstrationen abgebrochen werden, weil die Kundgebungsplätze zu voll
waren, und trotzdem waren diese Demonstrationen ein Erfolg. Besonders
gefreut hat mich, dass auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
große, mutige Demonstrationen stattgefunden haben. In den letzten
Monaten war ich so gelähmt, habe ständig gesagt, dass mir zu all den
schrecklichen Nachrichten über die AfD, den Nahostkrieg und die
Klimakatastrophe nichts mehr einfällt, dass es jetzt wie ein warmer
Energiestrom ist, der mich wachgerüttelt hat. Spüren Sie, spürt ihr das
auch?

Als das Rechercheteam Correctiv von dem Geheimtreffen bei Potsdam
berichtete, auf dem AfD-Funktionäre, Identitäre und rechtsextreme
Industrielle über einen Plan sprachen, 25 Millionen Menschen mit
Migrationshintergrund aus Deutschland zu vertreiben, darunter 15
Millionen mit deutschem Pass, haben wohl endlich viele Menschen
begriffen, wie weit wir gekommen sind. In den letzten Tagen gingen viele
Menschen auf die Straße, die noch nie auf einer Demonstration waren.
Kraftvoll, humorvoll und kreativ stellten sie sich den
menschenverachtenden Faschisten entgegen, und die bekamen Angst, was
vorauszusehen war. Zu Tausenden diffamierten sie in den sozialen
Netzwerken die Proteste und schrieben beispielsweise: Bilder sind KI
– Die sind bezahlt worden
– Die sind vom Arbeitgeber gezwungen worden
– Die waren nur zufällig da
– Die wollten nur mal gucken
– Die wurden in Bussen hergebracht
– Das waren in jeder Stadt dieselben
– Es waren gar nicht ALLE Einwohner der Städte da
– Die haben gratis Essen bekommen
– Alles Antifa Terroristen
– Die Regierung hat vorher Demo-Teilnehmer per Anzeige gesucht
– Die wollten nur einkaufen
– Das waren Statisten
– Die Polizei frisiert die Zahlen nach oben
– So viele Menschen passen gar nicht in die Innenstädte
– Du kannst nicht zählen
– Ich wählte trotzdem AfD!
– Ich wähle deswegen jetzt erst Recht AfD!
– Habeck hat die manipuliert
– Die sind alle dumm
– Die wären bei Adolf auch mitgelaufen
– Die haben nur Angst vor der besten Opposition aller Zeiten
– Das sind die ersten, die wir besuchen, wenn wir an der Macht sind
– Du glaubst auch alles, was manipulierte Mainstream Medien dir vorkauen
– Das waren fast nur Antisemiten.
Das waren die 25 häufigsten Kommentare. Was für ein Armutszeugnis.

Ich selbst habe bei der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche
gedacht, die Medien würden gar nicht darauf eingehen und sie würde
versacken. Wie schön, mich getäuscht zu haben, vor allem in der
Zivilgesellschaft. Das tut richtig gut.

Doch jetzt kommen wir leider zum Mäckern und Unken. Die Medien, und zwar
die öffentlich-rechtlichen Medien, haben sich am Sonntag, ich muss es so
sagen, als Steigbügelhalter für die Faschisten betätigt. In der Sendung
„Berlin direkt“ des ZDF waren die Proteste zwar das erste Thema, doch es
ging gar nicht um sie, sondern nur um die Reaktion der AfD, die
zeitgleich in Berlin einen sogenannten Bürgerdialog veranstaltete. Drei
Höckefans kamen zu Wort, dann auch Höcke selbst. Aus der
Zivilgesellschaft oder von den über 1 Million Demonstrant*innen niemand.
Wenn die AfD eine Großdemonstration veranstaltet, kommt ebenfalls nur
die AfD zu Wort. Tagesschau und Tagesthemen haben sich ähnlich
verhalten, und AfD-Politiker wurden auch zu Talkshows eingeladen, aber
eben niemand, der oder die wirklich gegen sie sprach. Und dann die
Printmedien vom Montag: Auf Mastodon postete jemand eine
Zusammenstellung der Aufmacher der Zeitungen.

BZ: Aufmacher „Anwohner wollen ihre Parkplätze zurück“. Keine Berichte
über die Demos.
Tagesspiegel: Aufmacher „Manuela Schwesig im Interview. Ich wünsche mir,
dass Olaf Scholz öfter Dialoge mit den Bürgern führt“. Minikachel zu den
Demos mit der Headline „Soziologin zu Protest in Deutschland: Die
schweigende Mehrheit ist zufrieden mit der politischen Lage“.
SZ: Aufmacher: „GDL legt Deutschland von Dienstagabend an für sechs Tage
lahm.“ Minikachel zu den Demos, Headline „In München demonstrieren so
viele Menschen wie seit Jahrzehnten nicht“
FAZ: Aufmacher „Mission im Roten Meer. Wie die EU Handelsschiffe
schützen will“. Keine Berichterstattung über die Demos.
In der Bild wurden die Proteste nicht einmal erwähnt.

Das muss man sich mal vorstellen: Die auflagenstärksten Zeitungen des
Landes gehen fast vollständig über eine der größten Massenkundgebungen
seit der Friedensbewegung vor 40 Jahren hinweg, und die
öffentlich-rechtlichen Medien verschaffen den Feinden der Demokratie aus
falsch verstandener Neutralität heraus eine Bühne. Und natürlich sind
viele Institutionen, darunter auch der Rundfunk, längst von rechts
teilweise unterwandert, das bleibt bei mehr als einem Viertel Zustimmung
unter der Wählerschaft nicht aus.

Ich fürchte, viele Menschen werden wegen der mangelhaften Resonanz der
öffentlich-rechtlichen Medien das Gefühl haben, dass ihr Protest nichts
bringt, und das passt ins Kalkül der AfD. Auch ins Morgenmagazin am
Montag wurde Alice Weidel eingeladen und durfte dort ihre
menschenverachtende Politik erklären. Ich fürchte, der Protest könnte
ebenso schnell abflauen wie er begonnen hat.

Andererseits: Ich habe mich bei der Wirkung des Correctiv-Beitrages
geirrt. Wie schön wäre es, wenn ich mich noch einmal irren würde. Irren
tut manchmal gut. Sorgen wir dafür, dass ich unrecht habe. Alle zusammen
gegen den Faschismus! und: Nie wieder ist jetzt!

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter erlebte Geschichte, Leben, Politik abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.