Braucht der Bundestag ein Selbstauflösungsrecht?

Gibt es Neuwahlen, oder gibt es sie nicht? Das ist gerade eine der spannendsten und – mit Verlaub gesagt – ermüdendsten Debatten in unserem Lande und den Wahlblogs.

Am 1. Juli soll der Bundestag über die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers entscheiden. Es steht zu erwarten, dass Gerhard Schröder diese Vertrauensfrage wie geplant verliert und den Bundespräsidenten bitten wird, den Bundestag aufzulösen. Horst Köhler wird es sich mehrfach überlegen, ob er diesem Ansinnen stattgibt, denn die Sache mit den Neuwahlen steht auf verfassungsrechtlich extrem wackligen Beinen. Der Bundespräsident muss immer damit rechnen, dass es irgendjemanden gibt, der vor das Bundesverfassungsgericht zieht, und dort hätte die Auflösung des Bundestages nach meiner Auffassung schlechte Karten, weil die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ein weiterregieren prinzipiell gestatten. Und nach dem Willen des höchsten deutschen Gerichts kommt es auf die Mehrheit im Bundestag ausschließlich an, alles andere wäre auch der föderalistischen Demokratie unseres Landes nicht angemessen.

Was aber, wenn der Bundespräsident die Auflösung des Bundestages ablehnt, und wenn gleichzeitig die Bundesregierung sich außerstande sieht, mit den jetzigen Mehrheitsverhältnissen in beiden Kammern des bundesdeutschen Parlamentes weiterzuregieren? Für diesen Fall lohnt sich ein Blick in die Landesverfassungen in Deutschland. In allen Landesverfassungen gibt es das Instrument der Selbstauflösung des Landtages. Nur im Grundgesetz für den Bund ist diese Möglichkeit nicht vorgesehen. Warum?

Der parlamentarische Rat, der seinerzeit das Grundgesetz entwarf, griff auf alte deutsche Verfassungstraditionen zurück. Das Staatsoberhaupt sollte die Möglichkeit der auflösung des Parlaments haben, wenn es keine andere Möglichkeit gab, eine Regierungskrise zu überwinden. In den einzelnen Bundesländern allerdings gibt es kein Äquivalent zum Bundespräsidenten. Die Aufgaben eines „ersten Bürgers des Landes“ werden protokollarisch durch den Parlamentspräsidenten ausgeübt, oder in den Hansestädten durch die ersten Bürgermeister bzw. regierenden Bürgermeister oder Senatspräsidenten. Der Präsident des Bundestages hingegen ist erst die Nummer 2 auf der protokollarischen Rangliste der Bundesrepublik, über ihm steht das Staatsoberhaupt, der Bundespräsident, der in seiner Person die ganze Nation symbolisch vereinigt. In der deutschen Verfassungstradition wurde in Krisenzeiten immer eine starke Hand bevorzugt, eine Einzelperson, die über den Parteien stand und die Probleme löste. Ob es früher der Kaiser oder später der Reichspräsident war, immer gab es eine Person über den Parteien des Parlaments, die allein die Entscheidung über die Auflösung des Parlamentes treffen konnte und durfte. Diese Rückstände eines Obrigkeitsstaates halte ich nicht mehr für zeitgemäß. Die frei gewählten Abgeordneten des ganzen Volkes sollten in der Lage sein, im Notfall ihre Legislaturperiode vorzeitig zu beenden. Eine Selbstauflösung des Parlaments, die von der großen Mehrheit der Abgeordneten getragen würde, könnte uns das Affentheater einer fingierten, und so von der Verfassung nicht gewollten, Vertrauensfrage ersparen. Diese Vertrauensfrage schadet dem Ansehen und der inneren Stabilität unseres Landes mehr, als sie nützt. Darüber ist sich vermutlich auch der Bundeskanzler im klaren.

Natürlich muss bei einer Selbstauflösung des Bundestages klar sein, unter welchen Umständen diese möglich ist. Die Regierung sollte nicht in der Lage sein, sich durch die Auflösung des Parlaments einen Neuwahltermin aussuchen zu können. Nur eine Parlamentsauflösung, die von mindestens zweidrittel der gesetzlichen Mitglieder des Bundestages mitgetragen wird, kann die Gewähr bieten, dass eine gewisse Notwendigkeit für diese Maßnahme besteht. Vielleicht wäre es auch eine gute Idee, Voraussetzungen festzulegen, bei deren Erfüllung überhaupt erst über das Thema verhandelt werden kann. Vielleicht sollte eine Selbstauflösung nur in Betracht gezogen werden können, wenn eine politische Situation entstanden ist, die eine effektive Arbeit bei der Ausarbeitung und Verabschiedung von Gesetzen praktisch verhindert. Dann wäre eine Situation wie heute bestimmt legitimiert, zu einer Auflösung des Bundestages zu führen.

Andererseits übt der Bundestag die Funktion des Souveräns aus, er repräsentiert das gesamte deutsche Volk. Es muss in einer repräsentativen Demokratie eigentlich sein eigenes Recht sein, jederzeit seine Legislatur zu beenden, zumindest dann, wenn im Parlament große Einigkeit über diesen Schritt herrscht. Bei zweidritteln der Abgeordneten könnte man davon in der Regel ausgehen. Dass dieses Instrument auch mit einer so großen Mehrheit noch für wahlkampftaktische Zwecke missbraucht werden kann, ist jedem bewusst, aber von einer Demokratie im 56. Jahr ihres Bestehens sollte man erwarten können, dass sie verantwortungsvoll mit den Möglichkeiten ihrer Verfassung verfährt.

Die Selbstauflösung für den Bundestag würde uns bestimmt nicht in die Weimarer Republik zurückwerfen. Anders als einige Unionspolitiker halte ich es aber für falsch, jetzt schnellstmöglich eine Grundgesetzänderung durchzudrücken, die auch diesem Bundestag schon die Selbstauflösung gestatten würde. Eine solche Entscheidung hätte nach meinem Dafürhalten einen faden Beigeschmack der Willkür.

Copyright © 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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