Manchmal ist es ganz nützlich, Verfassungsgerichtsurteile bis zum Ende zu lesen. Dann kann man nämlich herausfinden, dass die Neuwahlen doch nicht so unwahrscheinlich sind, wie ich erst angenommen hatte.
Am letzten Freitag, dem 1. Juli 2005, habe ich mir intensiv und genau die Bundestagsdebatte über die Vertrauensfrage angehört, die Bundeskanzler Schröder angestrebt hatte, um damit Neuwahlen im Herbst zu erreichen. Neben dem Wortgeklingel der sich wie immer gegenseitig beschuldigenden Partei- und Fraktionsvorsitzenden, das so einfallslos wie überflüssig war, kam es insbesondere auf die Begründung Schröders an, warum er glaubte, seine Regierung werde nicht mehr vom „stetigen Vertrauen der Mehrheit“ des Bundestages getragen. Dabei war diese Rede eigentlich nicht für den Bundestag oder die Öffentlichkeit gedacht. Sie diente als Stütze für die Entscheidung des Bundespräsidenten und ein später mögliches Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Und sie musste einen Fauxpas ausbügeln, den sich Schröder und Müntefering am Tag nach der verhehrenden NRW-Wahl geleistet hatten. Dort nämlich hatten sie erklärt, die Regierung könne nicht mehr weiter machen, weil die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat und die verantwortungslose Haltung der unionsgeführten Länder eine gestalterische Politik unmöglich machten. Die CDU-CSU-geführte Bundesratsmehrheit blockiere alle wichtigen Vorhaben nur aus machtpolitischen Erwägungen heraus. Daran mag politisch durchaus etwas dran sein, wir kennen alle die offenbar zum regieren geborene Staatspartei CDU, die unter Kohl eine nie gekannte Arroganz erreichte. Aber verfassungsrechtlich ging das an den Erfordernissen vorbei, und deshalb dachte ich vor der Bundestagsdebatte vom 1. Juli, der Bundespräsident habe gar keine andere Wahl, als den Bundestag nicht aufzulösen und die Neuwahlen zu verhindern. In seinem Urteil zur Bundestagsauflösung 1983 hatte das Bundesverfassungsgericht klar gemacht, dass nur der Verlust des stetigen Vertrauens der Mehrheit im Bundestag für die Auflösung entscheidend sei, nicht die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Diesem Umstand, diesem Erfordernis des Urteils, das der Bundespräsident unbedingt berücksichtigen muss bei seiner Entscheidung, musste auch Schröder Rechnung tragen. Deshalb hat er ziemlich deutlich gesagt, und vielleicht eine Spur übertrieben, was die Medienspatzen schon seit Wochen von den Dächern von Reichstag und Kanzleramt pfiffen. Die Gewähr für eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit im Bundestag getragene Regierung wurde nicht nur von der Union in Frage gestellt, die das natürlich als Aufgabe in ihrer Rolle als Opposition ansieht. Vor allem wurde das stetige Vertrauen gefährdet durch die Abweichler in den eigenen Reihen. Weniger bei den Grünen, als vielmehr beim linken Flügel der SPD. Dort nämlich gebe es trotz aller anderslautenden Lippenbekenntnisse kein Vertrauen mehr zur jetzigen Regierung, meinte der Bundeskanzler. Die Kritik, und auch die Wahlniederlagen in den Ländern, richteten sich gegen die Agenda 2010, wie alle Welt wisse, und so sei es nur geboten, diese Agenda einem Votum der Wählerschaft zu stellen. Damit versuchte der Kanzler, sich der Argumentation anzunähern, die bei der Verfassungsgerichtsentscheidung 1983 gegriffen hatte.
Damals verfügte Bundeskanzler Kohl nach dem Sturz von Helmut Schmidt mit Hilfe der F. D. P. über eine stabile parlamentarische Mehrheit und konnte es sich sogar leisten, dass einige FDP-Abweichler sich aus der Fraktion zurückzogen. Trotzdem wollte er Neuwahlen herbeiführen, um klare Verhältnisse zu schaffen, und um auch der F. D. P. die Möglichkeit zu geben, ihre Zerrüttung zu beenden und wieder zu sich selbst zu finden. So verlor auch er programmgemäß eine Vertrauensfrage, und der Bundespräsident löste den Bundestag auf. Einige Abgeordnete waren damit nicht einverstanden und zogen gegen den Bundespräsidenten im Organstreitverfahren vor das Bundesverfassungsgericht. Die Vertrauensfrage werde ja eigentlich mit dem Ziel gestellt, zu erreichen, dass das Parlament dem Kanzler das Vertrauen ausspreche. Alles andere sei eine „unechte Vertrauensfrage“, die dem Geist der Verfassung widerspreche.
Nun muss man sich auf die schwierigen Pfade der Verfassungsgerichtsbarkeit begeben, um zu verstehen, warum der Fall so schwierig liegt. Das Bundesverfassungsgericht darf nur Begrenzt politische Entscheidungen treffen. Es muss nach Buchstaben und Geist des Grundgesetzes entscheiden, muss dazu die alten Protokolle des parlamentarischen Rates durchackern und manchmal auch eigene Schlüsse ziehen, aus der Formulierung, dem Sinnzusammenhang und der Stellung eines bestimmten Artikels im Grundgesetz. Dabei muss es sorgsam darauf achten, dass es den politischen Organen, die eigentlich die Entscheidungen fällen sollen, diesen Entscheidungsspielraum nicht einengt. Zurückhaltung ist daher das oberste Gebot des Verfassungsgerichts. Damals haben viele geglaubt, im Januar und Februar 1983, das Verfassungsgericht würde der Auflösung des Bundestages widersprechen, doch es hat ihr zugestimt, obwohl die Vertrauensfrage, wie alle wussten, unecht war. Die Tatsache nämlich, dass ein Abgeordneter sich der Stimme enthielt, obwohl er Kanzler und Sachprogramm der Regierung in seinem inneren eigentlich traute, konnte nicht als Hinderungsgrund gelten, denn Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen unterworfen. Niemand kann ihnen in den Kopf gucken und behaupten, sie würden sich gegen ihr Gewissen entscheiden. Wenn keine Erpressung oder Zwang vorliegt, muss man die Entscheidung der Abgeordneten respektieren.
So weit, so gut. Trotzdem gab es damals wie heute eine stabile parlamentarische Mehrheit. Deshalb hätte der Bundespräsident den Bundestag damals trotz der Krise der F. D. P. nicht auflösen dürfen, und er darf es auch jetzt nicht.
Aber wenn man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 bis zum Schluss liest, findet sich auch auf diesen Einwand eine lange und komplizierte Antwort, und die geht so:
Am Prozess zur Herbeiführung von Neuwahlen sind mehrere Verfassungsorgane mit eigenen Ermessensspielräumen beteiligt. Da ist zunächst der Bundeskanzler. Er muss die Überzeugung gewinnen, dass eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages getragene Regierung nicht mehr gegeben ist. Daraufhin stellt er die Vertrauensfrage, unerheblich, ob sie zur Wiedererlangung der Mehrheit oder zur Herbeiführung von Neuwahlen führen soll. Natürlich muss er seinen Antrag vor dem Bundestag begründen und schlüssig darlegen, warum er der Meinung ist, dass seine Person oder sein Sachprogramm die schon oft erwähnte Mehrheit und das stetige Vertrauen dieser Mehrheit nicht mehr besitzt. Dann kommt der Bundestag an die Reihe. Er muss die Vertrauensfrage beantworten. Mit der negativen Antwort des Parlaments wird der schwarze Peter wieder an den Bundeskanzler zurückgespielt, der dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorschlägt. Auch das ist seine freie Entscheidung. Er kann auch zurücktreten. Und dann hat der Bundespräsident 21 Tage Zeit, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen. Das macht er aber nicht nach Lust und Laune. Er muss zwei Dinge prüfen. Erstens muss er sich vergewissern, dass das bisherige Verfahren formal nach den Regeln des Artikels 68 des Grundgesetzes abgelaufen ist, also ob der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellte, ob 48 Stunden zwischen Antrag und Abstimmung lagen, ob der Bundestag die Frage negativ beantwortete, und ob der Kanzler daraufhin ihm, dem Bundespräsidenten, die Auflösung des Parlaments vorschlug. Zweitens aber muss er auch prüfen, ob die Erfordernisse für die Auflösung materiell gegeben sind, ob also tatsächlich eine Krisensituation besteht, die eine Parlamentsauflösung geboten erscheinen lässt. Das war der Punkt, an dem viele bislang immer dachten, der Bundespräsident könne den Bundestag nicht auflösen, weil er ja wisse, dass die Krise im Bundestag eigentlich nicht bestehe. Dabei übersieht man – und vielen ist es wohl auch nicht bekannt -, dass der Bundespräsident nicht von der Richtigkeit des Verfahrens persönlich überzeugt sein muss. Er muss lediglich prüfen, ob der Bundeskanzler seine Vertrauensfrage und die Gründe für die Parlamentsauflösung schlüssig dargelegt hat. Der Bundespräsident handelt zwar politisch, aber nicht seine politischen, sondern seine staatsmännischen und staatsrechtlichen Überzeugungen sind entscheidend. Herr Köhler beispielsweise könnte das Verfahren zutiefst missbilligen, dass Gerhard Schröder hier durchzieht. Wenn die Begründungen des Bundeskanzlers in sich schlüssig dargelegt sind, so ist es die staatspolitische Pflicht des Bundespräsidenten, dem Ansinnen des Bundeskanzlers stattzugeben. Der Ermessensspielraum des Bundespräsidenten ist hier sehr gering. Und wenn der Bundespräsident sagt, dass der bundeskanzler nach seiner Ansicht die Krisensituation im Bundestag schlüssig dargelegt hat, dann kann auch das Bundesverfassungsgericht gegen diese Entscheidung nichts unternehmen, wenn nicht Tatsachen vorliegen, die den Präsidenten praktisch einer Lüge überführen würden. Das Gericht hat sich hier ausdrücklich selbst beschränkt.
Es gibt Stimmen, die einwerfen, dass man doch deutlich sehen könne, dass alles eine Farce sei. Zum Einen habe die Koalition noch bis zum letzten Tag Gesetze verabschiedet, und zum Anderen habe Franz Müntefering noch in der Debatte über die Vertrauensfrage zur CDU-Vorsitzenden Merkel gesagt, sie könne ja ein konstruktives Misstrauensvotum anstrengen und werde sehen, dass jederzeit die Kanzlermehrheit auf Seiten Schröders sei.
Gegen das erste Argument hat Schröder selbst Stellung bezogen. Natürlich sind noch bis zur letzten Sekunde Gesetze verabschiedet worden. Aber dabei handelte es sich um Gesetze, die innerhalb der Koalition und auch innerhalb der SPD unumstritten gewesen seien. heiße Eisen seien nicht mehr angepackt worden. Das entspricht in Ungefähr der Argumentation Kohls vor 22 Jahren, seine Regierung habe nach dem gelungenen Misstrauensvotum gegen Schmidt nur einen begrenzten Auftrag erhalten und könne über diesen Auftrag hinaus nicht regieren, wichtige Politikfelder seien in der Koalitionsvereinbarung mit der F. D. P. ausgespart worden. Die Handlungsfähigkeit sei darüber hinaus nicht gegeben.
Das zweite Argument, der Fauxpas Münteferings über die Kanzlermehrheit, wird möglicherweise bei einer Verhandlung vor dem Verfassungsgericht eine Rolle spielen. Wenn man aber davon ausgeht, dass eine unechte Vertrauensfrage unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt ist, und darauf scheint das Urteil von 1983 hinzudeuten, dann wird auch diese Äußerung Münteferings der Auflösung nicht im Wege stehen. Dann kann der Kanzler für seine Amtsführung an sich schon das Vertrauen der Mehrheit des Bundestages haben, es darf eben nur nicht stetig und dauerhaft sein. Und dagegen hat Schröder mit seinem Hinweis auf die eigenen Parteilinken bereits einen guten Keil ins Feld geführt.
Wenn man also das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1983 ganz durchliest, scheint es, als wären die Neuwahlen im Herbst 2005 doch wahrscheinlicher, als ich bislang angenommen habe. Sicher ist für mich, dass der Bundespräsident den Bundestag auflösen wird. Mit Spannung werde ich dann auf ein neuerliches Urteil des höchsten deutschen Gerichts warten, das mit Sicherheit bemüht sein wird, die selbst auferlegte Zurückhaltung nicht aufzugeben. Der kurze Wahlkampf hat dann allerdings schon begonnen, und ich glaube nicht, dass es dann noch einfach sein wird, ihn zu stoppen. Schon jetzt sind die Parteien dabei, immer unsinnigere Versprechen zu machen.
Copyright © 2005, Jens Bertrams.