Aus des Kanzlers Befreiungsschlag der vorgezogenen Bundestagswahl ist in der Deutschen Politik eine vollständige Katastrophe erwachsen, und keiner hat’s gemerkt, am allerwenigsten der Kanzler.
Jacques Schmitz, der Korrespondent der NOS in Berlin, sagte gestern: „An eine Regierungsbildung mit vielen Parteien, wie das in den Niederlanden üblich ist, müssen sich die Deutschen erst noch gewöhnen.“ Das ist leicht untertrieben, denn es scheint, als wäre das den deutschen Politprofis gar nicht möglich. Die lange Reihe der Unglaublichkeiten und Unwürdigkeiten, die man hierzulande Koalitionspoker zu nennen beliebt, begann schon am Wahlabend mit der Elefantenrunde und reißt seither nicht ab. Unablässig hat man den Eindruck, die „Elefanten“ säßen im Kindergarten und wollten um keinen Preis der Welt miteinander spielen, wenn sie nicht selbst die Führer der Band wären. Ein solch unwürdiges Schauspiel wäre einfach nur lächerlich, würde sich nicht ein Franz Müntefering, seines Zeichens Vorsitzender der SPD, hinstellen und öffentlich eine Änderung der Bundestagsgeschäftsordnung ankündigen, damit die SPD auch weiterhin stärkste Fraktion im Parlament bleibt. Denn im Augenblick sieht es so aus, dass CDU-CSU drei Sitze mehr haben als die Sozialdemokraten. Wenn man aber CDU und CSU trennt, so wäre die SPD plötzlich wieder die stärkste Fraktion, und so könnte auch an sie der Auftrag zur Regierungsbildung ergehen. Aber was bleibt den Parteispitzen in der Hauptstadt anderes als eine große Koalition? Schwampel, Ampel und rot-rot-grün scheinen undurchführbar, immer gibt es zumindest einen, der nicht aus seinem Sandkasten hinaus will, um mit den anderen Kindern zu spielen. Dabei könnten die großen Kinder eine ganze Menge Porzellan zerschlagen, wenn sie sich nicht bald einigen. Zumindest glauben viele, dass der Wahlausgang eine Katastrophe ist, die man schönreden muss. Aber dieses Schönreden hilft ihnen, sich nicht mit den Realitäten auseinandersetzen zu müssen. Eine Mehrheit der Deutschen hat links gewählt, wie immer man es auch dreht und wendet. Und nein, lieber Herr Schröder, Sie sind nicht der große Sieger der Wahl, und sie halten an der Macht fest, wie weiland Ihr Vorgänger Kohl. Und der ging in persönlicher Würde, Sie aber in persönlicher Unwürde, wie man in der „Elefantenrunde“ am Wahlabend gesehen hat.
Auch ich empfinde den ganzen Unsinn, der gerade abläuft, als ziemlich kindisch und unwürdig. Jetzt wäre die Zeit, offen zu sein und neue Konzepte auszuprobieren, was mich betrifft eine rot-rot-grüne Koalition. Aber die halb neoliberal gewordenen Sozialdemokraten wollen das nicht. Ich kann das sogar nachvollziehen. Dann eben eine Ampel? Nein, da ist die F. D. P. dagegen, was ich wieder nicht so nachvollziehen kann. Neoliberalismus hin oder her, es geht jetzt darum, eine tragfähige Regierung zustande zu bringen.
Jacques Schmitz kann sich zurücklehnen. Er hat es bestimmt nicht eilig. In Deutschland muss man sich ja praktisch binnen vier Wochen auf eine Regierung geeinigt haben, in Holland dauert das manchmal vier Monate. Zumindest solche Winkelzüge wie der des Herrn Müntefering sind in den Niederlanden vollkommen unbekannt und können dort nur belächelt werden.
Wenn die Wahl zur zweiten Kammer, dem niederländischen Parlament, erfolgt ist, trifft sich die Königin mit ihren engsten Beratern und fragt sie nach ihrer Meinung. Auch die Spitzenkandidaten der einzelnen Parteien, die „Lijsttrekker“, geben ihre Einschätzung bekannt. Daraufhin benennt die Königin einen sogenannten Informateur, oder auch zwei Informateure. Deren Aufgabe ist das Ausloten einer ganz bestimmten Koalitionsmöglichkeit. Dieser Informateur, der in der Regel nicht der amtierende Premierminister oder der Parteivorsitzende der großen Parteien ist, sondern ein integrer Politiker, verhandelt neutral mit den entsprechenden Verhandlungsführern der Parteien. Die Parteivorsitzenden haben in den Niederlanden sowieso nicht so viel zu sagen, im Parlament geht es um die Fraktionschefs, die das große Wort führen. Und die sind auf keinen Fall Regierungsmitglieder, das ist unvereinbar. nach ein paar Tagen steht meistens fest, ob es überhaupt eine Möglichkeit zu der von der Königin angestrebten Koalition gibt, und der Informateur erstattet seinen bericht. Dann erhält er einen neuen Auftrag, in der Regel führt er oder ein anderer dann die Verhandlungen über ein Regierungsprogramm. Auch diese Person ist ein Informateur. Wenn sich dabei herausstellt, dass diese Koalition nicht funktioniert, gibt er seinen Auftrag zurück, und in der Regel wird dann ein anderer Informateur mit dem Ausloten einer anderen Koalitionsmöglichkeit beauftragt. Das kann schon mal eine Weile dauern, es kann aber auch ganz schnell gehen. Zwar liegt das große politische Leben während der „Formatieperiode“ ziemlich brach, aber die Alltagsgeschäfte gehen weiter. Und kaum jemand regt sich drüber auf, es ist ganz normal, das Abendland geht nicht unter. Immerhin sitzen 10 parteien in der zweiten Kammer, die kleinsten mit knapp einem Prozent der Stimmen, da dauert das schon mal ein wenig.
Wenn dann das Regierungsprogramm im großen und ganzen steht, benennt die Königin den sogenannten Formateur. Er ist es, der die Regierung formt, sich also um die personelle Zusammensetzung kümmert, die Antrittsrede schreibt und dann in der regel auch Ministerpräsident wird. Die Ernennung des Ministerpräsidenten findet dann bei der Königin statt, wenn klar ist, dass der neue Regierungschef das Vertrauen des Parlaments besitzt. Der Ministerpräsident wird aber nicht vom Parlament gewählt, das ist ein Unterschied zu Deutschland, der ganz klar ins auge sticht. Die Niederländer gehen diese Regierungsbildung immer mit sehr viel Ruhe und Gelassenheit an. Der Streit über die Führungsrolle in einer künftigen Regierung wird durch Gewohnheitsrecht entschieden. Der Spitzenkandidat der größten an der Regierung beteiligten Partei wird Ministerpräsident, und die Kammerfraktion dieser Partei muss einen Andern zum Fraktionschef benennen.
Davon könnten sich Schröder und Merkel ein paar Scheiben abschneiden. Anstatt sich in ihre Schmollecken zu verziehen und zu brüllen, dass sie die größten Platzhirsche im Wald seien, wäre es angebrachter, sachlich und ruhig über künftige Inhalte eines Regierungsprogramms zu verhandeln und dafür zu sorgen, dass man die Mehrheit der eigenen Fraktionen dazu bekommt, einem solchen Programm aus Überzeugung zuzustimmen.
Viele Politikerinnen und Politiker begreifen gar nicht, wie groß die Chance ist, die uns der Wahlausgang bietet. Die Niederlande könnten uns ein Beispiel dafür geben, wie man mit mehreren Parteien im Parlament leben und arbeiten kann. Offenheit, Kompromissbereitschaft und Mut sind gefragt. Die Politik kann sich nicht ihr Volk und dessen Wahlentscheidung zurechtbasteln, sie muss mit dem leben, was ihr vorgesetzt wird. Und in einer Krisensituation wie dieser konnten sie es nicht anders erwarten. Sich dann hinzustellen und zu sagen: „Wir haben ein klasse Ergebnis gefahren“, ist nun nicht das, was ich dann tun würde, denn dann würde man mich zurecht für überheblich halten. Aber dass keine Seite, weder rot-grün, noch schwarz-gelb die Mehrheit errungen hat, bedeutet eben, dass die Wählerin und der Wähler eben diese eindeutigen Ausrichtungen nicht wollten. Sie wollten mehrheitlich links, oder eine große Koalition.
Dass Franz Müntefering es nötig hat, dass Ergebnis seiner Partei schön zu rechnen, trägt genau zu der Politikverdrossenheit bei, die im Volk um sich greift. Dabei geht es Deutschland da noch richtig gut mit einer Wahlbeteiligung von knapp 80 Prozent. Doch die Großen wollen nichts lernen, sie haben sich die riesigen Ohren verdeckt, die Elefanten, und tröten was das zdug hält. Das haben sie gelernt. Mit Machtspielchen kennen sie sich aus. Und das alles nur, weil die Personalfrage so wichtig ist, wer auf dem Kanzlersessel platz nehmen wird. Vermutlich wird es ja auf eine große Ioalition hinauslaufen. Wenn dem so ist, dann sollte man jetzt anfangen, inhaltliche Gespräche zu führen, und Gerhard Schröder sollte sagen, dass die Kanzlerfrage erst nach der Nachwahl in Dresden debattiert wird. Dann nämlich wissen wir wirklich, welche Fraktion die Stärkste im Bundestag ist, und einen Herrn Müntefering, der die Geschäftsordnung des Bundestages ändern muss, damit die SPD an der Macht bleibt, hätten wir vielleicht gar nicht mehr nötig. Und selbst wenn die CDU stärkste Fraktion bleiben wird: Aufs Programm kommt es an!
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