Heute ist der 9. November, und wiedereinmal ist ein Gedenktag. Vor 6 Jahren habe ich mal aufgeschrieben, wie ich den 9.11.1989, den Fall der Mauer, erlebte. Hier mein Bericht und meine Bitte, eure Erfahrungen in der Kommentarfunktion zu hinterlegen.
Seit man im Sommer 1989 nichts anderes mehr zu hören bekam als das Wort „Fluchtwelle“, habe ich oft gebannt und interessiert die Meldungen über die Entwicklung in der DDR und über die Menschen verfolgt, die in westdeutschen Botschaften Zuflucht gesucht hatten. Seit über anderthalb Jahren gab es Anzeichen für einen stärker werdenden Widerstand in der DDR gegen Honeckers stalinistisches Regime. Richtig deutlich wurde es im Januar 1989 bei den offiziellen und inoffiziellen Feiern anläßlich des 70. Todestages von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Demonstranten wurden festgenommen, und das, obwohl oder gerade weil Michail Gorbatschow in der Sowjetunion die Zügel lockerer ließ. Und diese „Fluchtwelle“, die entstanden war, nachdem Ungarn die Grenzen zum Westen geöffnet hatte, war ein deutliches Zeichen dafür, daß immer mehr Menschen in der DDR unzufrieden waren, freie Reisemöglichkeiten, freie Wahlen und westlichen Lebensstandard wollten. Und sie hatten recht, meiner Meinung nach.
Aus diesem Grunde, so erinnere ich mich, habe ich mit einigen meiner Freunde die 40-Jahr-Feier der DDR, die mit einem Festakt am 6. Oktober 1989 gefeiert
wurde, am Radio verfolgt, und zwar über einen DDR-Sender. Wir hörten Honeckers Rede vom Klassenfeind, der gerade jetzt wieder Attacken gegen die DDR führe, wir hörten aber auch Gorbatschows Rede, die man nicht zensieren konnte, die auch live im Radio übertragen wurde. Den berühmten Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, hat er übrigens nie gesagt. Einen Tag später, am tatsächlichen vierzigsten Jahrestag der DDR, sagte er lediglich: „Ich glaube,
Gefahren warten nur auf Jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ Damals war ich mir sicher, daß die DDR sich bald würde der sowjetischen Perestroika anschließen müssen. Im Gegensatz zu vielen Anderen war mir klar, daß es eine Veränderung geben mußte.
Am 18. Oktober war ich in den Niederlanden in den Herbstferien. Zwar hatte ich immer mal wieder über Kurz- und Langwelle die „Stimme der DDR“ gehört, um mit meiner Mutter über die Entwicklung dort debattieren zu können, doch war ich in den letzten Tagen nicht immer auf dem Laufenden gewesen. Um 14.30 Uhr kam eine Kurzausgabe der RTL-Plus-Nachrichten, und ich erinnere mich heute noch genau daran, wie seltsam sich das für mich anfühlte. Innerhalb von dreißig Sekunden erzählte uns Peter Klöppel, daß es rund 100 Tote bei einem schweren Erdbeben in San Francisko gab, und daß Honecker zurückgetreten sei und durch Krenz ersetzt wurde. Das ist die Wende, dachte ich mir. Das ist der Umschwung zur Perestroika, denn Krenz ist jung genug, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Mit offenem Mund und hinterherhinkendem Gefühl verfolgte ich in den nächsten Wochen das Hin und Her zwischen der Staatsmacht und dem „Neuen Forum“, versuchte, jede offizielle Sendung, jede Übertragung von Veranstaltungen aus der DDR mitzubekommen. widerum glaubte ich nicht und wollte es nicht glauben, daß die DDR sich demokratisierte. Sicher: Es würde Lockerungen geben, irgendwann würde man das „Neue Forum“ auch offiziell zulassen, aber nach der anfänglichen Euphorie schwand doch langsam nach dem ewigen Tauziehen mein Vertrauen in eine neue, jüngere SED-Führung. Mit einer Öffnung der Grenze habe ich nie und nimmer gerechnet.
Der 9. November 1989 war für mich ein normaler Schultag. Als ich nachmittags nach Hause kam, hörte ich noch schnell die DDR-Nachrichten – es gab ellenlange Berichte von einer Tagung des ZK -, und dann legte ich mich für eine Weile aufs Ohr, denn ich war damals in der 12. Klasse und oft ziemlich müde nach der Schule. Auch zum Abendessen gegen sieben Uhr hatte ich noch nichts gehört, von der Pressekonferenz Schabowskis, die vor wenigen Minuten zuendegegangen war, wußte ich nichts. Erst zwei Stunden später schaltete ich wieder das Radio ein, nachdem ich eine Weile lang mich mit ein paar Freunden unterhalten hatte, und da hörte ich die Übertragung einer Bundestagssitzung. Wunderlich fand ich, daß man dort so spät noch tagte, oder zumindest, daß so spät noch übertragen wurde. Die Stimme von Rudolf Seiters, Kanzleramtsminister seinerzeit, gab bekannt, daß nach den jüngsten Berichten von einem historischen Schritt gesprochen werden konnte. Dann sang der Bundestag geschlossen die Nationalhymne. Nur wenige minuten später erfuhr ich dann von unserer Betreuerin, daß die Grenze offen sei. Mit allen anderen setzte ich mich ins Fernsehzimmer und lauschte den sich plötzlich überschlagenden Berichten. „Das glaub ich einfach
nicht“, sagte ich damals, und mein Freund Mario, der in den letzten Wochen die Entwicklung mit mir verfolgt hatte, stimmte mir zu. Bis morgens früh, bis
Walter Momper vor die Presse trat, völlig übermüdet, hörten wir zu. Wir verfolgten den Freudentaumel in Berlin und anderswo, begrüßten freudig am Fernsehschirm die ersten Trabbis, und keiner wollte ins Bett gehen. Erst gegen Morgen gönnten wir uns ein paar Stunden schlaf, ließen die Erkenntnis einsickern, daß die Grenze zwischen den Blöcken nun in Deutschland endlich durchlässig geworden war. An eine Wiedervereinigung glaubte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber ich bedauerte schon, früher als so manch anderer in meiner Umgebung, die DDR-Oppositionellen, die eine neue DDR wollten, die nicht vom Westen geprägt wurde. Für mich war sonnenklar, daß der Westen eine unglaubliche Anziehungskraft auf die Menschen im „anderen Teil Deutschlands“ ausüben würde. Ich konnte mir die Trabbikolonnen schon vorstellen, die dann am Wochenende sämtliche Straßen bevölkern würden. Und wahrhaftig, das taten sie auch. Am Samstag konnte man in Marburg kaum noch etwas kaufen oder sich in ein Restaurant oder eine Kneipe setzen. Und in den Adventswochen war selbst in so einer Stadt, die ja verhältnismäßig klein ist, kein Durchkommen mehr.
Am 10. November nachmittags fand jene Veranstaltung vor dem Schöneberger Rathaus statt, die für mich einen erschreckenden Ausgang nahm. Während Willy Brand seiner Freude ausdruck gab, daß nun endlich zusammenwachse, was zusammengehöre, während Walter Momper diesen letzten Tag und die Nacht in den schillernsten Farben malte, begann Kohl offen über eine Einheit Deutschlands zu reden, wenn er das auch nicht wörtlich sagte. Sein Ton war dermaßen anmaßend, daß sich viele Menschen, die aus dem Ostteil Berlins gekommen waren, mit Pfeifkonzerten Gehör verschafften. Man hört auf der Aufnahme den Bundeskanzler vom Pöbel reden, und Brand und Momper beschimpfen, zumindest letzteren. Das war der Moment, in dem ich mir klar machte, daß Kohl die Einheit mit allen Mitteln wollte. Und ich begann zu fürchten, daß er die DDR und all die Dinge, die den Menschen dort wichtig und lieb waren, überrennen würde mit Versprechungen, Arroganz und Hochmut. Was den meisten Anderen von dieser Veranstaltung in Erinnerung blieb, war Kohls und Wohlrabes Gesang der Nationalhymne, der schauerlich und forsch über alle Mikrofone klang.
Sicher: Der 9. November 1989 war auch für mich, der ich die Entwicklung in allen Einzelheiten verfolgte, eine echte Überraschung. Und erst jahre später
habe ich erfahren, daß die Grenzöffnung ein Zufall war. Aber neben der Euphorie, und neben dem Wunsch nach deutscher Einheit, den auch ich hatte, war da
doch auch der Wunsch, mehr aufeinander zuzugehen, mehr gegenseitig voneinander anzunehmen. Dem Versprechen der „blühenden Landschaften“ habe ich angesichts der Weltwirtschaftslage sowieso nicht vertraut, und ich fand es schade, daß viele DDR-Bürger es sofort taten.
Trotzdem war die Euphorie und Spannung in den ersten Tagen groß. Ich fragte mich, wie wohl ein Trabbi aussah, aber es sollte noch fast ein Jahr dauern,
bis ich einen leibhaftig zu Gesicht bekam. Am Silvesterabend 1989 dann, irgendwo mitten in der Kabarettveranstaltung der Münchner Lach- und Schießgesellschaft mit der Leipziger Pfeffermühle, hatte ich irgendwie das Gefühl, daß jetzt die Einheit sehr schnell kommen würde. Viele sprachen von einigen Jahren, aber da die Einheitsrufe immer lauter wurden, mußte über dieses Thema bald gesprochen werden, auch wenn es, wie es immer hieß, noch nichtauf der Tagesordnung stand.
© 2000, Jens Bertrams
Ich weiß noch, daß ich in meinem Zimmer saß und unbedingt Tagebuch schreiben mußte, unbedingt aufschreiben, daß die Mauer offen war. Und ich dachte: „Hoffentlich gibt es keine Wiedervereinigung, oder zumindest nicht so bald, damit die Leute in der DDR die Gelegenheit kriegen, überhaupt mal selber ein Land eigenhändig zu gestalten, daß freier ist. Ein Land mt Demokratie, mit der Möglichkeit, zu sagen, was man denkt, mit der Möglichkeit, sich auszusuchen, ob und wohin man reisen möchte. Aber die meisten haben mich damals für meine sentimentalen Gedanken belächelt und gemeint, daß die DDR wirtschaftlich gar nicht auf eigenen Füßen stehen könne. Vermutlich stimmte das ja auch, aber mit Hilfen, so dachte ich damals, wär doch vielleicht was drin gewesen! Ich hätte den DDR-bürgern mehr Möglichkeiten zum ausprobieren gewünscht, kriegte aber auch oft gesagt, daß es meine westliche Einstellung sei, die mich annehmen ließ, daß sie das überhaupt wollten. Naja, jedenfalls ging es dann alles zu schnell, und der Haufen Verbitterung, der auf beiden Seiten herrscht, hätte meiner Meinung nach nicht sein müssen. von all dem, was Du, Jens beschreibst, den vielen Trabbiis, den Leuten aus dem Osten, habe ich damals aus privaten Gründen so sehr viel nicht mitbekommen. Aber gefreut habe ich mich für die, die da durch die offene Mauer kamen. Gerade die allererste Freude darüber hat mich sehr angesteckt.
@Das Nest: Ich habe mich auch für die gefreut, die da in den Westen fuhren und Familie und Freunde trafen, endlich einmal vernünftig einkaufen konnten, gerade auch vor Weihnachten. Mir gingen sie auch nicht auf die Nerven, aber ich meiner Umgebung war die Freude oft nach drei Wochen oder so wieder weg.
Hallo,
ich lag damals wegen einer Blinddarm-Operation im Krankenhaus. Auf meinem Zimmer lag noch ein Mitarbeiter der Behringwerke, der eher etwas konservativ, aber sehr nett war. Gemeinsam haben wir von morgens bis abends Radio gehört. Deswegen wussten wir alles, was sich ereignete, sehr schnell.
Merkwürdig waren damals die Radio-Interviews im DDR-Kanal, den wir selbstverständlich auch abgehört haben, mit bekannten Zeitgenossen, die angeblich schon immer als „kritische Menschen“ bekannt gewesen sein sollten. Die betrieben dann vorsichtige Abwiegelei.
Solche Herren waren beispielsweise Professoren und wohnten auf dem „Weißen Hirsch“ in Dresden. Da wohnte damals nur, wer sehr systemkonform oder wichtig war.
Wenn ich mich recht erinnere, war es im Frühjahr 1989, als ich mit dem Arbeitskreis „Internationales“ der Grünen Hessen Eisenach besucht habe. Dort trafen wir uns mit Leuten der dortigen Umwelt-Bibliothek. Die erzählten uns damals, bei ihnen gebe es eine Person, die für den Staatssicherheitsdienst (StaSi) spioniere. Aber sie wollten sich nicht gegenseitig verdächtigen.
Als sie später die StaSi-Unterlagen einsehen konnten, erfuhren sie, wer Spitzel gewesen war: In die 24-köpfige Gruppe hatte die StaSi acht Spitzel eingeschleust, die voneinander nichts wussten. So bespitzelten die Spitzel auch einander.
Ob die deutschen Geheimdienste wohl völlig anders arbeiten? Ich glaube, sie sind nicht ganz so paranoid, aber die Methoden dürften denen der StaSi doch irgendwie ähneln. Jedenfalls legt der NPD-Verbotsprozess vor dem Bundesverfassungsgericht das nahe.
Woran ich mich auch noch gut erinnere, sind die Advents-Samstage in Marburg, an denen die Straßen voller knatternder Trabbis waren und der Bus-Parkplatz im Pilgrimstein und der hinter der Elisabethkirche voller Ikarus-Busse aus Eisenach stand.
In den Monaten danach habe ich viele Leute aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR kennengelernt. Teilweise waren sie außerordentlich sympathisch. Aber manche kamen mir auch wie Opportunisten vor, die erst dazugestoßen waren, als die Sache schon klar entschieden war.
Das dürften dann wohl auch mehrheitlich diejenigen gewesen sein, die Bananen und West-Geld wollten.
Ich erinnere mich noch an die gemeinen Witze über Bananen und „Ossis“. Als wir im Frühjahr 1989 nach Eisenach fuhren, hatten wir Kokosnüsse mitgenommen. Die leerten die Gastgeber in Eisenach zunächst sehr vorsichtig, um sie dann möglichst unbeschädigt als eine Art Status-Symbol an die Wand zu hängen.
Ich selbst hatte zuvor noch nie eine Kokosnuss in der Hand gehalten. Ich wusste aber, wie Kokosflocken schmecken.
Einer von der Umwelt-Bibliothek war Ingenieur beim Automobilwerk Wartburg. Da sitzt heute wohl Opel.
Er erzählte, seine Kollegen hätten ein neues Modell mit Viertakter-Motor entwickelt. Es fehle im Werk aber an Ingenieur-Kapazitäten, diese Entwicklung in Serie zu bringen. Alle Kapazitäten würden vielmehr dafür benötigt, die altersschwachen und maroden Produktions-Anlagen zu reparieren. deswegen habe Wartburg dann den Viertakter von VW übernommen, der währen der letzten zwei oder drei Jahre in Lizenz in die Autos eingebaut wurde.
Die Diskussion um eine neue gemeinsame Verfassung und die Aufkleber „Kein Anschluss unter dieser Nummer!“ als Gegenwehr gegen den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik nach Artikel 23 waren weitere Schritte auf dem Weg Helmut Kohls zur Vereinnahmung der DDR. Ich erinnere mich noch an sehr hoffnungsfrohe Treffen mit DDR-Leuten, die mit uns über eine fortschrittliche neue Verfassung debattiert haben. Die „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht stand dabei als Nationalhymne zur Diskussion.
All das war leider nur eine kurze Phase des Aufbruchs. Doch anstatt die DDR aufzubauen und gemeinsam etwas Neues zu schaffen, wurde der Osten ausgeplündert und wirtschaftlich plattgemacht.
Der verbreitete Neofaschismus in manchen Gegenden dort ist eine der Konsequenzen dieser Politik.
All das geistert mir gerade im Kopf herum.
Vielleicht fällt anderen ja auch noch was Interessantes ein?
Auf eine bessere Zeit!
fjh