Wollten sie auch immer mal eine Regierung bilden? Wenn ja, dann kann ich Ihnen helfen. In den Niederlanden werden nämlich die einzelnen offiziellen Schritte zu einer Regierungsbildung im Internet veröffentlicht. Manches erfährt man zwar erst später und muss nachgereicht werden, aber die Dokumentation ist recht ausführlich.
Stellen wir uns also vor, es ist Wahltag, Mittwoch der 22. November 2006. Der Ministerpräsident geht auch wählen, Jan Peter Balkenende wählt natürlich den CDA, seine ureigene Partei, und er hofft auf eine Fortsetzung der Koalition mit der rechsliberalen VVD. Auch die anderen Spitzenkandidaten gehen wählen, natürlich von den Medien begleitet. Wouter Bos, der Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen PVDA, bringt eine falsche Wählerkarte mit und muss noch einmal nach Hause, bevor er seine Stimme abgeben kann. Im Palast Noordeinde sitzt Königin Beatrix. Auch sie hat natürlich eine politische Meinung, denn sie ist ein Mensch, aber sie geht nicht wählen, denn sie steht über den Parteien.
Nach der Erledigung seines Wahlgeschäftes geht der Ministerpräsident zurück in sein Büro und verfasst einen Brief an die Königin. Ungefähr so: „Eure Majestät: Im Zusammenhang mit den Wahlen zur zweiten Kammer der Generalstaaten biete ich Euch hiermit den Rücktritt meines Kabinetts an, um den Weg frei zu machen zur Bildung einer Regierung, die auf eine breite Unterstützung in der neuen zweiten Kammer bauen kann.“ Mit diesem Brief geht er zur Königin, die ihn offiziell empfängt. Die Königin erklärt, dass sie das Rücktrittsgesuch zur Kenntnis nimmt und darüber nachdenkt. „Inzwischen ersuche ich Sie, die Minister und Staatssekretäre, alles zu tun, was für das Land notwendig und von Belang ist“, antwortet sie Ministerpräsident Balkenende. Der geht daraufhin zu seiner Partei und wartet das Wahlergebnis ab. Es ist gute alte Tradition, dass der Ministerpräsident am Wahltag seinen Rücktritt erklärt. Ganz anders als in Deutschland, wo der Rücktritt der Regierung nur durch die Wahl eines neuen Bundeskanzlers erfolgt, ist die Regierung offiziell in den Niederlanden nicht vom Parlament, sondern von der Ernennung durch die Königin abhängig.
Der Wahlabend nimmt seinen Lauf, wie ich ihn in meinen Artikeln Wahltag in den Niederlanden und Das machen wir gleich noch mal – Der Wähler hat sich falsch entschieden beschrieben habe. Die Katerstimmung ist groß, alle wissen, dass es schwierige Regierungsverhandlungen geben wird.
Donnerstag, 23. November 2006
Gegen Mittag treffen sich im Gebäude der zweiten Kammer in Den Haag die Fraktionen des neuen Parlaments zu ersten Beratungen, also zu ihren konstituierenden Sitzungen. Alle Spitzenkandidaten bei den Wahlen werden zu Fraktionsvorsitzenden gewählt, auch Mark Rutte von der VVD, und zwar einstimmig, obwohl die VVD 6 Sitze und wahrscheinlich die Regierungsbeteiligung verloren hat. Auch Rita Verdonk stimmt für Rutte, obwohl sie bei der Wahl zum Spitzenkandidaten vor der Wahl seine schärfste Gegnerin gewesen war und vermutlich in ihrem Hinterkopf daran denkt, ihn bald in dieser Funktion zu beerben. Deshalb lässt Rutte die Niederlage seiner Partei auch von einer parteiinternen Kommission untersuchen. Die Fraktion zeigt aber Geschlossenheit, was für den Fortgang der Regierungsbildung ja auch wichtig ist.
Auch die PVDA wählt ihren Spitzenkandidaten Wouter Bos wieder, obwohl sie mit ihm 9 Sitze verloren hat. Alle wissen aber, das Bos eigentlich sehr beliebt ist und argumentativ derzeit dem CDA und Balkenende am besten gewachsen ist. Andererseits könnte Wouter Bos einer möglichen Koalition mit dem CDA im Wege stehen. Darum erfahren wir auch nichts über das Wahlergebnis, und auch Wouter Bos lässt die Niederlage der Sozialdemokraten intern untersuchen.
Die Sozialisten haben kein Problem damit, ihren Parteivorsitzenden Jan Marijnissen zum Fraktionsvorsitzenden zu wählen, und er fordert denn auch gleich öffentlich eine Regierungsbeteiligung seiner partei, die bei den Wahlen 16 Sitze hinzugewann.
Alle Fraktionen beraten in ihren konstituierenden Sitzungen darüber, wen sie der Königin als Informateur vorschlagen, und welche Form von Regierung sie wollen, und ob sie sich vorstellen können, an einer Regierung teilzunehmen.
Etwa zu diesem Zeitpunkt, so können wir uns vorstellen, reibt sich Königin Beatrix den Schlaf aus den Augen. Sie hat, wie jeder gemeine Bürger, in der letzten Nacht lange am Radio oder Fernseher gesessen, und als in der Staatskunde gebildete Monarchin hat sie sich die Haare gerauft angesichts des Wahlergebnisses. Jetzt ist es Zeit zu arbeiten und den eigenen Teil zum Gelingen der Regierungsbildung beizutragen. Also lässt die Königin drei Menschen zu sich bitten, die immer zuerst bei ihr auftauchen, wenn die Neuwahl erledigt ist. Da sind die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern, in diesem Falle noch der Vorsitzende der alten zweiten Kammer, denn die neue hat sich ja noch nicht konstituiert, und da gibt es den Vizepräsidenten des Staatsrates. Der ist ein beratendes Organ der Regierung und der Königin, sie ist selbst offiziell die Vorsitzende, aber die täglichen Geschäfte leitet der Stellvertreter. Er ist ein Politiker mit hoher Erfahrung, juristisch gebildet und in der Regel hoch geachtet. Diese drei, in diesem Falle Herr Tjeenk Willink, der Vizepräsident des Staatsrates, Frau Timmerman Buck, die Vorsitzende der ersten Kammer, und Frans Weisglas, der Vorsitzende der alten zweiten Kammer, sprechen gemeinsam bei der Königin vor. Was sagen sie ihr an diesem Tag? Ich kann es nur vermuten, denn darüber gibt es tatsächlich keine Dokumente.
„Majestät“, sagt Tjeenk Willink, „ein verzwicktes Wahlergebnis, gewiss. Aber bedenkt, was geschieht, wenn wir keine Regierung zustande bringen und noch einmal eine Wahl durchführen müssen. Die Radikalen Parteien werden noch mehr Stimmen erhalten. Es ist so schon schwierig genug. Ich halte es für besser, jede nur mögliche Koalition auszuloten. Dazu braucht Ihr einen Informateur, der nicht zum Wohle einer einzelnen Partei entscheidet. Wie wäre es mit einem Mitglied des Staatsrates? Eine überparteiliche Figur, die trotzdem in Beziehung zur stärksten Fraktion der Kammer, dem CDA, gesetzt werden kann? Ich denke da an Herrn Ruud Lubbers beispielsweise.“ Lubbers war von 1983 bis 1994 Ministerpräsident und hat eine Menge Erfahrung und Ansehen, auch beim politischen Gegner. Frau Timmerman Buck stimmt Tjeenk Willink zu und weist darauf hin, dass sie auch Sorge hat, was die Mehrheitsverhältnisse in der ersten Kammer betrifft, die im kommenden Jahr neu definiert werden müssen.
„Majestät“, sagt dann Frans Weisglas in seiner bedächtigen Art, „wie Ihr wisst habe ich schon vor den Wahlen meine Befürchtungen und Bedenken bezüglich der Arbeitsweise der zweiten Kammer geäußert, und wie das Parlament von vielen Abgeordneten und Parteien gesehen wird. Wir brauchen unbedingt eine stabile Regierung. Ein rechtes oder linkes Kabinett, so sehr die Gedankenspiele auch noch in den Köpfen geführt werden mögen, ist völlig unmöglich. Ich schlage vor, dass Ihr euch auf eine Koalition festlegt, an der die beiden stärksten Fraktionen beteiligt sind. Ich persönlich würde als dritte Partei entweder die Christenunion, die VVD oder die SP für möglich halten, vermutlich ist eine Beteiligung der Christenunion am Wahrscheinlichsten. Bitte benennen Sie zum Informateur den ehemaligen Justizminister Donner vom CDA, der schon einmal eine schwierige Formation gemeistert hat im Jahre 2002.“
Die Königin, so stellen wir uns vor, hat alles fein säuberlich mitgeschrieben oder mitschreiben lassen, obwohl man annehmen kann, dass es gerade bei diesem Treffen weniger auf den offiziellen Charakter ankam, als vielmehr auf das, was tatsächlich unter 8 Augen beredet wurde. In der Regel halten sich auch alle Beteiligten daran, das Geheimnis dieses Gesprächs zu wahren.
Dann rücken nacheinander, sortiert nach der Stärke im neuen Parlament, die Fraktionsvorsitzenden an. Zunächst Jan Peter Balkenende vom CDA:
„Es freut mich, Majestät, euch die Einschätzung meiner Fraktion zur derzeitigen Lage mitteilen zu dürfen. Die CDA-Fraktion betrachtet mit Sorge die zunahme radikaler Strömungen in der zweiten Kammer. Die größten Parteien haben allesamt Stimmen verloren. Allerdings möchte ich Eure Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Stimmenverluste des CDA mit drei Sitzen am Geringsten waren. Daher halten wir die Benennung eines Informateurs aus unserer Partei für zweckdienlich und geboten. Was den Auftrag dieses Informateurs angeht, so würden wir eine Vorverhandlungsphase sehr begrüßen, in der zunächst einmal ausgelotet wird, welche Möglichkeiten überhaupt bestehen, eine stabile Regierung zu bilden, die die vollständige Legislaturperiode zusammenbleiben kann. Es hat in dieser ersten Phase nach meiner Meinung noch gar keinen Sinn, über inhaltliche Fragen zu sprechen. Allerdings sollte es eine Aufgabe in dieser ersten Phase sein, herauszufinden, unter welchen Bedingungen welche Parteien bereit sind, miteinander in ernsthafte Verhandlungen einzutreten. Ich lege die Wahl des Informateurs vertrauensvoll in Eure Hände und möchte euch in diesem punkt nicht vorgreifen. Es versteht sich von selbst, dass es für mich zu früh ist, eine Meinung darüber zu äußern, welche Koalition meine Fraktion für die wünschenswerteste hält. Das muss sich erst in den folgenden Gesprächen zeigen.“ Ganz der Staatsmann geht der Noch-Ministerpräsident ab und überlässt das Feld Wouter Bos von den Sozialdemokraten.
„Majestät, wie sie zweifellos wissen, hat die derzeitige Regierungskoalition 9 Sitze verloren, während eine mögliche Linkskoalition 9 Sitze hinzugewonnen hat. Trotz der Tatsache, dass meine Partei selbst einige Sitze verloren hat – es waren 9, aber das ist nicht so wichtig -, glauben wir, dass wir so schnell wie möglich eine breite Regierung bilden müssen. An dieser Regierung müssen der CDA, meine Partei, also die PVDA, und die Sozialisten beteiligt werden, denn sie sind die größten Gewinner der Wahlen und müssen entsprechend berücksichtigt werden. Unser Land kann es sich nicht leisten, lange auf die Bildung dieser Regierung zu warten, daher schlage ich im Namen meiner Fraktion vor, so schnell wie möglich einen Informateur zu benennen, der keiner Partei angehört, vielleicht ein Staatsrat, ein Jurist oder ein sonst verdienter Staatsbeamter, der die Koalition zwischen CDA, PVDA und SP so schnell wie möglich herbeiführen muss. Wir brauchen eine Änderung des derzeitigen Regierungskurses, sonst ist das Land auf viele Monate unregierbar.“
Der nächste im Reigen der Fraktionsvorsitzenden ist Jan Marijnissen von den Sozialisten. Die Königin weiß, dass sie diesem Mann, der vermutlich irgendwie in der künftigen Regierung sitzen wird, gut zuhören sollte.
„Majestät, Sie wissen, dass die Wähler eine andere Politik wünschen als die bisherige. CDA und VVD haben keine Mehrheit mehr, und es wäre schwierig für sie, sich eine solche zu beschaffen. Meine Partei ist bereit, an einer Regierung teilzunehmen, wenn diese programmatisch menschlicher und sozialer ausgerichtet ist als die Kabinette von Herrn Balkenende. Mein Vorschlag ist denn auch ein Kabinett aus CDA, PVDA und meiner SP, was aber nur geht, wenn man die programmatischen Hindernisse überwindet, die zweifellos zwischen unseren Parteien bestehen, vor allem zwischen PVDA und SP auf der einen und dem CDA auf der anderen Seite. Als Informateur schlage ich Ihnen deshalb Hans van Mierlo von der Partei D66 vor. Er ist alt, hat sich schon lange aus der aktiven Politik zurückgezogen, und er kann von einem unabhängigen Standpunkt aus beurteilen, ob die von uns ins Auge gefasste Koalition möglich ist.“
Mark Rutte, der junge, dynamische Verlierer der VVD, kommt zum erstenmal zu der Ehre, als Fraktionsvorsitzender die Königin zu besuchen. Sicherlich hat er sich hervorragend herausgeputzt, als er der hohen Dame gegenübersitzt.
„Eure Majestät: Die VVD sieht es als notwendig an, die bisherige Politik fortzusetzen. Die Wähler scheinen das derzeit leider anders zu wollen, darum würde ich Euch empfehlen, einen Informateur zu benennen, der dem CDA nahesteht und am besten Mitglied des Staatsrates ist. Welches Kabinett wir bevorzugen würden, lässt sich derzeit für uns nicht sagen. Natürlich wäre es uns am liebsten, wenn wir selbst eine Rolle in der neuen Regierung spielen könnten, das Wahlergebnis lässt allerdings die Wahrscheinlichkeit einer Regierungsbeteiligung unserer Fraktion gering erscheinen, darum wollen wir vorläufig auch nicht an Regierungsbildungsgesprächen teilnehmen.“
Den Abschluss der heutigen Besuchsreihe bei der Königin bildet Geerd Wilders. Der Chef der Partei der Freiheit und rechtsnationale Politiker ist selbstbewusst, denn er hat immerhin 9 Parlamentssitze errungen.
„Eure Majestät, es ist mir ein Vorrecht, euch in dieser Stunde mit meiner Meinung beehren und euch beraten zu dürfen. Auffallend am Wahlergebnis ist, dass die drei größten Parteien mehr oder weniger die Wahl verloren haben, und dass SP und meine Partei, die PVV, in hohem Maße Stimmen hinzugewonnen haben. Darum denke ich auch, dass unter einem CDA-Informateur beide Parteien, die die Wahl gewonnen haben, bei Gesprächen über eine Regierungsbildung beteiligt werden müssen. Obwohl ich weiß, dass es vermutlich nicht die erste Option ist, möchte ich Euch mitteilen, dass meine Fraktion bereit ist, jederzeit einem mitterechtsKabinett beizutreten, um eine stabile Regierung zu formen, die die dringenden Probleme unseres Landes lösen kann.“
Gott sei Dank haben die Herren die Freundlichkeit besessen, der Königin Briefe mit ihrer ansicht zurückzulassen, sodass sie während der langen Nachtstunden noch einmal nachlesen kann. Schon jetzt ist aber klar, ein Informateur wird wohl aus den Reihen des CDA kommen.
Freitag, 24. November 2006
Fünf weitere Gespräche stehen heute auf dem Programm der Königin. Ob sie nach 10 Vorschlägen schlauer ist als nach fünf, wagt sie zu bezweifeln. Trotzdem ist sie natürlich interessiert daran, die Einschätzung aller in der Kammer vertretenen Fraktionen zu erfahren. Es ist einer der wenigen Augenblicke im niederländischen Staatsleben, wo die Königin echten Einfluss hat, und sie will ihre Aufgabe und ihre Berufung mit bestem Gewissen erfüllen. also empfängt sie als erstes an diesem Tag die Vorsitzende der Grünen-Fraktion, Femke Halsema.
„Majestät: Sie werden mir sicher recht geben, wenn ich sage, dass die Wähler die bisherige Politik abgestraft haben. Die alte Koalition hat insgesamt weit über 10 Sitze verloren. Dieses Programm soll in jedem Falle verändert werden. Leider hat auch die Arbeitspartei verloren, was darauf hindeutet, dass es andere Aspekte linker Politik sind, die heute mehr gefragt sind. Der schwache Verlust meiner grünen Partei und die Gewinne der Sozialisten und der Christenunion deuten darauf hin, dass die künftige Regierungspolitik sozial ausgewogener und grüner sein muss. Auch der Einzug der Tierschutzpartei in die zweite Kammer ist ein Indiz hierfür. Daher sollten der CDA als stärkste Fraktion, die PVDA als klassische sozialdemokratische Partei und die Sozialistische Partei als soziale Partei, die als Sieger aus den Wahlen hervorgegangen ist, eine Verstandesehe zum Wohle des Landes eingehen. Wenn Sie mich jetzt fragen, wen ich für den besten Informateur in diesem Augenblick halte, so würde ich Doekle Terpstra, den ehemaligen Vorsitzenden der Christlichen Gewerkschaft CNV benennen. Der hätte sowohl Abstand als auch Sachverstand genug, diese Aufgabe zu erfüllen.
Leider muss ich feststellen, dass der Einzug von Herrn Wilders zeigt, dass die Polarisierung unserer Gesellschaft, vor allem die Ablehnung gegenüber Menschen muslimischen Glaubens, noch nicht vorbei ist. Allerdings stimmt es mich etwas hoffnungsfroher, dass die linken Parteien zusammen, die Christenunion, die Tierschutzpartei, D66 und die drei anderen Parteien, also Sozialdemokraten, Grüne und Sozialisten, eine Mehrheit in der Kammer haben, die vielleicht in Zukunft etwas gastfreundlichere Verhältnisse in unserem Land schaffen kann.“
Danke, Frau Halsema, sagt die Königin und empfängt André Rouvoet, den Vorsitzenden der Fraktion der Christenunion.
„Eure Majestät: Die Wahl vom Mittwoch hat einige überraschende Tatsachen mit sich gebracht. Zum Ersten ist es so, dass nur eine Koalition aus mindestens drei Parteien überhaupt möglich ist. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten, die man aber nicht alle überprüfen muss, denn es darf bei der Regierungsbildung nicht vor allem um die zahlenmäßige Mehrheit gehen. Inhaltlich muss ein künftiges Kabinett auf stabilem Grund gebaut sein. Daher brauchen wir
einen Informateur, der die gegebenen Möglichkeiten ernsthaft untersucht. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Rein Jan Hoekstra vom CDA dies übernehmen würde. Er hat schon die Koalitionsverhandlungen 2003 erfolgreich zum Abschluss geführt und hat gute Kontakte. Meine Fraktion und ich wünschen Euch Gottes Weisheit, um Eure Aufgabe zu erfüllen.“
Die Königin seufzt. Drei Parteiführer muss sie noch empfangen, und dann muss sie sich entscheiden, was sie tut. Das wird sehr mühsam. Mal sehen, was Alexander Pechtold, der Fraktionschef der Partei D66 zu melden hat. Er war eine Weile Minister für eine Verwaltungsreform im Staat, und er hatte auch einige Ideen zur Reform des Wahlrechts.
„Majestät, die Situation ist denkbar kompliziert, und der Wähler hat uns nicht helfen können, seinen Willen für ein stabiles Kabinett beispielsweise durch eine zweite Stimme auszudrücken, wie wir es schon seit langem vorschlagen. Leider hat die Verwahrlosung der Debatte um die Integration ausländischer Mitbürger zu einer so instabilen Situation innerhalb des Parlaments geführt, dass wir den langen Weg gehen müssen. Erst einmal brauchen wir einen möglichst unparteiischen Informateur, der ermittelt, welche Parteien überhaupt miteinander eine Regierung bilden wollen, und auch, unter welchen Voraussetzungen das möglich ist. Wir könnten uns hier zum Beispiel Hermijn Wijffels vom CDA vorstellen. Dann könnten wir eine Debatte im Parlament über die weiteren Schritte führen, deren Ergebnisse wir Euch als Ratschlag übermitteln würden. Damit hättet Ihr eine Handlungsbasis, die von einer Parlamentsmehrheit getragen wird.“
Es nutzt nichts, weiß die Königin, jetzt über nicht erfolgte Wahlrechtsänderungen zu lamentieren. Viele Politiker sagen nachher immer: „Das haben wir schon vorausgesehen, wenn man auf uns gehört hätte, wäre das nicht passiert.“ Hier, im Gespräch mit der Königin, ist aber für solche Propaganda der falsche Platz und der falsche Zeitpunkt. Hier kann es nur um die klaren Fakten und eine möglichst sorgfältige Einschätzung der gegenwärtigen politischen Lage gehen.
So empfängt die Königin Marianne Thieme, die Vorsitzende der Tierschutzpartei und -Fraktion. Sie ist neu in der zweiten Kammer, und die Königin ist gespannt, was sie zu sagen hat.
„Majestät, die Wähler haben die Mitte verlassen. Das hinterlässt eine schwierige Situation, aber in einem werdet Ihr mir sicher zustimmen: Das bisherige Kabinett und sein Programm sind abgewählt worden. Es soll menschlicher, warmherziger, toleranter, tier- und umweltfreundlicher zugehen in unserem Land. Diesen Wählerwunsch müssen wir umsetzen in eine neue Koalition. Bei vielen Parteien hat es bereits Äußerungen gegeben, dass sie nicht miteinander koalieren wollen oder können. Es scheint uns nicht vernünftig, nach verstandesmäßigen Überbrückungen der Kluft zwischen solchen Parteien zu suchen, um eine traditionelle Regierung zu bilden. Diese kann doch nicht stabil sein. So zum Beispiel eine Regierung zwischen PVDA, CDA und einer dritten Partei. Zwischen den beiden großen Parteien ist die Kluft doch sehr groß. Stattdessen sollte man sich darauf konzentrieren, durch einen überparteilichen Informateur auszuloten, welche Parteien in ihrem Wahl- und Regierungsprogramm den Wählerwunsch am Besten gemeinsam umsetzen können. Dabei kommt, das gebe ich zu, nach unserer Auffassung eine Kombination heraus, die sich die meisten Menschen wegen ihrer Vielschichtigkeit nicht gut vorstellen können. Vielleicht wären vier, fünf oder gar sechs Parteien für eine Regierung notwendig, aber die würde in den wichtigen Punkten dann auch übereinstimmen: Menschlichkeit, Warmherzigkeit, Tierschutz, Toleranz und Umweltschutz. Was den Informateur oder die Informateure betrifft, so schlagen wir Jan Terlouw oder Cnoop Knoopmans vor, beide sind Mitglieder der ersten Kammer und haben genug Abstand zur Tagespolitik, kennen sie aber gut genug, um sich eine Meinung bilden zu können.“
Eine selbstbewusste Frau, denkt die Königin, die ausspricht, was andere nur für unmöglich halten.
Bleibt als Letzter nur noch Bas van der Vlies, der Vorsitzende der SGP, der Christlich-orthodoxen Partei im Parlament. Seine Partei geht davon aus, dass Frauen in der Gemeinschaft zu schweigen haben. Für Königinnen gilt das aber offenbar nicht. Oder?
„Eure Majestät, meine Fraktion bedauert, das der CDA und die VVD ihre Arbeit nicht fortsetzen konnten, jetzt gilt es, die erreichten Ergebnisse festzuhalten und auszubauen, und einige Dinge noch stärker in den Vordergrund zu rücken, vor allem auf moralischem Gebiet. Euthanasie, Abtreibung und ähnliche Punkte sind uns hier besonders wichtig. Da eine Fortsetzung der Regierungspolitik auch mit weiteren Parteien nicht besonders gut möglich ist, plädieren wir für ein Kabinett von CDA und PVDA mit einer dritten Partei. Die kann nach unserer Auffassung nur die Christenunion sein, weil sie mit beiden Parteien genügend Übereinstimmungen besitzt, und weil sie biblische Werte vertritt und zu den Wahlgewinnern zählt. Ein Kabinett kann nur erfolg haben, wenn seine Arbeit sich auf biblische Werte stützt. Der Informateur sollte aus den Reihen des CDA kommen, die Herren Wijffels, Hoekstra und Lubbers können hier genannt werden, und eine solche Koalition möglichst rasch herbeiführen. Wir wünschen Euch die Kraft und Gottes Segen für Eure Aufgabe. Seid versichert, dass die Wähler unserer Partei Euch täglich in ihre Gebete einschließen.“
Das war es, geschafft! Jetzt heißt es auswerten. nachdem sie auch ihren letzten Gast gebührend höflich verabschiedet hat, liest sich die Königin in aller Ruhe die Briefe der Fraktionen und ihre eigenen Notizen durch, füllt diese mit persönlichen Einschätzungen ihrer Besucher auf und telefoniert dann, ja, auch das tun Königinnen hin und wieder, mit Herrn Tjeenk Willink vom Staatsrat, nennt ihm die von den Parteien genannten Kandidaten und bittet ihn, mal höflich bei den Herren anzufragen, wer denn bereit wäre, den Informateursposten zu übernehmen. Dann bittet sie Hern Tjeenk Willink für den nächsten Tag zu einem Gespräch, um eine Entscheidung vorzubereiten, einen Auftrag für den Informateur zu formulieren und eine geeignete Person auszuwählen.
Samstag, 25. November 2006
Die Medien reden noch immer über die Wahlen. Zwei Koalitionen werden als möglich angesehen, nämlich die zwischen CDA, PVDA und Christenunion, oder stattdessen mit der Sozialistischen Partei. Hin und wieder gibt es mal so eine Nebennachricht. Das ANP, das allgemeine niederländische Pressebüro, veröffentlicht eine Nachricht, derzufolge beim Endergebnis der Sitzverteilung die PVDA einen Sitz mehr erhalten würde, womit sie auf 33 kämen, und wodurch der Sozialistischen Partei ein Sitz abgezogen würde, die damit 25 erhalten würden. Das kommt durch die Auslandswähler, deren Stimmen erst jetzt ausgezählt worden sind.
Gegen Mittag empfängt die Königin Herrn Tjeenk Willink, ihren langjährigen Berater und Vizepräsidenten des Staatsrates. Wir wissen nichts über den Inhalt des Gesprächs, aber ich stelle es mir ungefähr so vor.
„Was meinen Sie, mein lieber Tjeenk Willink, welcher Informationsauftrag würde der derzeitigen Situation am meisten gerecht werden?“
„Ihr wisst, Majestät, dass die meisten Parteien und Fraktionen eine Koalition aus CDA, PVDA und SP bevorzugen und für wahrscheinlich halten. Wir alle wissen, dass für eine solche Regierung, sollte sie stabil sein, eine Menge Vorarbeit geleistet werden muss. Trotzdem ist eine Regierung neuerlichen Wahlen vorzuziehen, wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, einen Koalitionsvertrag zu schließen, der auch wirklich programmatische aussagen enthält und nicht nur als Verwaltungsvereinbarung geschlossen wird.“
„Die großen Parteien, sieht man mal von der PVDA ab, wollen erst einmal eine Runde, in der ausgelotet wird, welche Koalitionsmöglichkeiten es überhaupt gibt. Ich neige dazu, einen solchen Auftrag zu formulieren, der aber durchaus eine Bitte zur Eile enthalten soll“, sagt die Königin. Tjeenk Willink stimmt zu.
„Grundsätzlich sind die Staatsratsmitglieder bereit, einen Informationsauftrag anzunehmen. Darf ich Euch vorschlagen, Herrn Rein Jan Hoekstra zu benennen? Er hat im Jahre 2003 bewiesen, dass er mit einer komplizierten Situation durchaus zurecht kommt.“ Die Königin ist einverstanden. Wir können uns vorstellen, dass die beiden noch mehrere Szenarien durchspielen, frühzeitige Neuwahlen, ein Kabinett mit der Christenunion, ein linkes Kabinett, wie Frau thieme es vorschlägt, ein Kabinett mit CDA, VVD, Geerd Wilders, SGP und Christenunion. All dies muss aber warten, bis der neue Informateur seinen Abschlussbericht vorgelegt hat.
„Ich schlage euch folgenden Informationsauftrag vor“, erklärt der Vizestaatsratspräsident, „Sehr geehrter Herr Hoekstra. Ich ersuche euch hiermit, so schnell wie möglich eine Untersuchung über die Möglichkeiten zur Bildung einer stabilen Regierung anzustellen, die auf eine Fruchtbare Zusammenarbeit mit den Generalstaaten bauen kann. Grundlage ist das Ergebnis der Wahlen zur zweiten Kammer der Generalstaaten vom vergangenen Mittwoch. In dieser ersten Phase sollen Sie untersuchen, welche Fraktionen bereit sind, zu einem Möglichen Kabinett zuzutreten, über welche inhaltlichen Fragen vorher Einvernehmen herrschen muss, und auf welche Weise dieses Einvernehmen in einer zweiten Regierungsbildungsphase hergestellt werden kann.“
Die Königin ist einverstanden, der entsprechende Brief wird in Druck gegeben, und sie lässt Herrn Rein Jan Hoekstra, CDA, für den späten Nachmittag zu sich bestellen.
Als der Kandidat für den Informateursposten bei der Königin vorspricht, informiert sie ihn über das Gespräch, das sie mit Herrn Tjeenk Willink geführt hat, überreicht ihm den Informationsauftrag und gibt in Kopie auch die Briefe der Fraktionsvorsitzenden mit bei.
„Sind Sie bereit, diesen schwierigen Auftrag zu übernehmen?“ fragt sie ihn. Hoekstra bejaht und sagt: „ich nehme aber an, dass ich Euch nicht vor Ablauf einer Woche einen ersten Zwischenbericht geben kann. Auch denke ich, dass diese erste Informationsphase drei bis vier Wochen dauern wird.“
„Tun Sie, was in Ihrer Macht steht, um Ihre Arbeit sorgfältig, aber trotzdem zügig abzuschließen.“
Vielleicht sagt die Königin auch insgeheim ihre Meinung? Was sie sagt, darf nämlich nicht nach außen dringen. So kann sie Einfluss auf die Politik in den Haag nehmen, ohne dass von vorneherein klar wird, dass sie es war, die eine bestimmte Entwicklung angestoßen hat. Die Königin trägt nämlich keine öffentliche Verantwortung, ihre Person ist unverletzlich. Die Minister müssen ausbaden, was die Königin verbockt. Also kann es sein, dass sie Herrn Hoekstra ihre Meinung sagt. Vielleicht lautet diese Meinung: „Ich würde es gern sehen, wenn Sie Ihr Augenmerk auf eine Beteiligung der sozialisten an der künftigen Regierung richten. Sie haben den größten Stimmenzuwachs erhalten.“
Jedenfalls wird, so stelle ich es mir vor, Herr Hoekstra nach einer Stunde mit guten Ratschlägen entlassen, und die Medien, die schon übe seinen Besuch bei der Königin spekulierten, erfahren, dass er zum Informateur ernannt wurde. Jetzt wird es Zeit, erst einmal tief durchzuatmen. Die eigentliche Arbeit beginnt am Montag, der Sonntag, der Tag, den Gott zur Ruhe geschaffen hat, ist dem intensiven Nachdenken vorbehalten.
Und über die nächsten paar Tage will ich in einem nächsten Bericht Auskunft geben.
Hinweis: Zwar sind meine Annahmen über Gesprächsverlauf rein spekulativ, stützen sich aber auf die offiziellen Dokumente, die unter dieser Adresse zu finden sind, und auf die Nachrichten der NOS.
Copyright 2006, Jens Bertrams.
Das ist ja echt lustig, wenn Du so fiktiv und trotzdem fundiert daherschreibst. Hat mir richtig Spaß gemacht. Dabei sind noch Fragen aufgekommen, die Du wahrscheinlich irgendwo in den Tiefen deiner NIederlande-Artikel beantwortet hast. Vielleicht oute ich mich jetzt auch als ignorante Idiotin, aber: Was bedeutet „die Generalstaaten“ und was ist die 1. Kammer? Ist das so was wie der Bundesrat?
@Das Nest: Die Generalstaaten nennt man die Gesamtheit des niederländischen Parlaments, also erste und zweite Kammer zusammen. Genau wie in den USA das Repräsentantenhaus und der Senat gemeinsam „Der Kongress“ heißen.
Die erste Kammer ist so etwas ähnliches wie der Bundesrat, nur wird sie nicht, wie der deutsche Bundesrat, von den Regierungen der Provinzen gewählt, sondern von den Parlamenten der Provinzen, wie es sich gehört.
Und was gibt es nun Neues in der Regierungsbildung?
Ist der Informateuer Wijffels immer noch moderierend unterwegs oder gibt es schon konkrete Ergebnisse zwischen PvdA, CU und CDA?