Für einen Augenblick schien es so, als wäre Hessens Ministerpräsident Roland Koch am Ende gewesen. Aber dieser Augenblick ging vorüber, und Koch war der Triumphator. Leider haben die Zerstrittenheit und die zögerlich-antiprogressive Haltung der Sozialdemokraten Tradition, und jetzt bekommen sie nach 100 Jahren Anbiederei die Quittung.
In fünf Jahren wird die deutsche Sozialdemokratie ihr 150jähriges Bestehen feiern, wenn es dann überhaupt noch etwas zu feiern gibt. Allerdings könnte die einstmals große Volkspartei bis dahin fast zur Bedeutungslosigkeit verkommen sein. Der berühmte „kleine Mann“, von denen es gerade in der neoliberalen Ära wieder viele gibt, wird sich hüten, die Partei zu wählen, die ihm die Agenda 2010 und den Verlust der Menschenrechte eingebrockt hat. Stattdessen wird er die Linke wählen, weil sie Rückkehr zum sicheren Sozialstaat der sechziger und siebziger Jahre zu versprechen scheint, oder rechte Parteien, die einen Sündenbock suchen und finden. So wird die Sozialdemokratie zum Totengräber der gemäßigten Linken, die sie selbst einst verkörpern wollte. Aber diese Schuld trägt sie im Grunde fast von ihrer Gründung an in sich.
Der Sündenfall lag vermutlich im Jahre 1915. Die Sozialdemokraten wurden von der kaiserlichen Regierung gerade nicht mehr verfolgt und gewannen immer mehr Zulauf. Ein wenig betrachtete man sie wegen ihrer Hinwendung zu einem gemäßigten Internationalismus als vaterlandslose Gesellen. Doch die junge Partei wollte Anerkennung durch die herrschende Klasse, viele Menschen duckten sich unter dem Vorwurf, keine echten deutschen Patrioten zu sein. Um ihre Loyalität zu beweisen, stimmte die SPD den Kriegskrediten der kaiserlichen Regierung im Reichstag zu und finanzierte so den ersten Weltkrieg mit. Darüber kam es zur Spaltung der Partei, und der Nährboden für eine linke alternative, eine radikalere kommunistische Partei, war bereitet.
Wenige Jahre später, Ende 1918, wiederholte sich das Geschehen mit grausamerem Hintergrund. Die SPD erlangte nach der Kriegskatastrophe die Macht, geschickt von Ludendorf und Hindenburg hingestellt als Diejenigen, die die deutsche Niederlage herbeigeführt hatten, weil die Armee im Felde ja unbesiegt war. In Deutschland herrschte Revolution, eine neue Ordnung musste her. Anstatt auf die Kraft der Worte zu vertrauen und nur militärisch einzugreifen, wo es aufgrund gewaltsamer Vorkommnisse unbedingt erforderlich war, verbündete sich der ansonsten durchaus honorige Friedrich Ebert als neuer Reichspräsident mit der Armee in Gestalt von General Groener. Man beließ der Armee ihre elitäre und fast unkontrollierte Stellung, und die Armee schlug für die SPD die Aufstände der Kommunisten nieder, und zwar mit gewohnt brutaler Härte. An die Spitze der Scharfmacher stellte sich Gustav Noske, Kriegsminister und Mitglied des SPD-Führungszirkels. Zum Zwecke des Machterhalts ging er buchstäblich über Leichen, er bekämpfte genau die Arbeiter und Soldaten, die ihn erst zu seiner Machtposition geführt hatten. Sicher war es richtig, eine parlamentarische Ordnung anzustreben, der Terror der entstehenden Sowjetunion war ein abschreckendes Beispiel. Aber auch diese demokratische Ordnung entstand durch Terror, Mord und Folterung.
Als 14 Jahre später diese erste deutsche Republik am Ende war, bedroht von den braunen Horden, verweigerte die SPD den von den Kommunisten geforderten, gemeinsam organisierten Generalstreik. Vielleicht hatten die gemäßigten Genossen angst, als radikal hingestellt zu werden. Man wollte nicht mit den Kommunisten in einen Topf geworfen werden, wollte das Problem der NSDAP auf demokratischem Wege lösen und nicht mit den Mitteln der Straße. Es gibt aber Augenblicke im Leben, in denen jede politische Feindschaft in den Hintergrund gestellt werden muss, in dem es um den Erhalt einer gerechten Ordnung an sich geht. So versperrte die SPD den Nazis auf jeden Fall den Weg zur Macht nicht. Dies soll übrigens nicht heißen, dass die SPD die Nazis billigend in Kauf genommen häte. Man war einfach nur zu zögerlich. Im Reichstag selbst, dem Ort, den man sich für die Auseinandersetzung auserkoren hatte, kämpften die Sozialdemokraten mit beachtenswertem Mut bis zur letzten Sekunde, bis sie in die Mündungen der Gewehre der SA blickend über das Ermächtigungsgesetz abstimmten und Otto Wels, der damalige SPD-Vorsitzende, seine mutige Rede gegen die Nazis und das Ermächtigungsgesetz hielt: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Wels und seine Genossen nahmen Tod und Folterung hin, aber vielleicht hätte man den braunen Aufstieg mit einer gemeinsamen Vorgehensweise aller linken Kräfte ja stoppen können? Man hat es jedenfalls nicht versucht, und die SPD handelte sich den unverbrüchlichen Hass der Kommunisten ein. Sozialfaschisten wurden die demokratischen Genossen von nun an von den Kommunisten geschimpft.
In der Nachkriegszeit, finde ich, schlug sich die SPD einigermaßen tapfer. zwar grenzte sie sich auch unter Kurt Schumacher von den Kommunisten ab, aber man folgte dem Ziel, eine Arbeiterpartei zu sein, die auf dem Boden einer demokratischen Verfassung stand. Ob das Goedesberger Programm notwendig war, ist eine Frage, über die man vermutlich bis in alle Ewigkeit debattieren kann. Es rückte die Partei in die Mitte des Volkes, machte sie auch für Linksliberale Kreise wählbar, oder auch für christliche Arbeitnehmer. Denn die Partei legte nun ein klares Bekenntnis zur Westintegration und zur sozialen Marktwirtschaft ab. Dass man sich aber 1966 auf die große Koalition mit der CDU unter Kiesinger einließ, enttäuschte die jugendlichen SPD-Wähler ganz gewaltig, denn nun saß der Exildeutsche Willy Brand mit dem Nazifunktionär Kiesinger an einem Kabinettstisch. Ein Makel, den die SPD nicht leicht wieder los wurde, und der die Studentenproteste förderte. Und als die SPD schließlich die sozialliberale Koalition mit der F. D. P. einging, und als man daran ging, mit den osteuropäischen Staaten Versöhnungsverträge zu schließen, griff die Angst um sich, im Inland wieder für Kommunisten gehalten zu werden. Diese Urangst der Sozialdemokraten führte zum Radikalenerlass, der nicht kommunistische Agitatoren, sondern einfache linke Idealisten traf und mit Berufsverbot belegte. Immer wieder fügte die SPD den schwarzen Flecken auf ihrer weißen Weste einen neuen hinzu. Mit schöner Regelmäßigkeit griff die Angst vor der roten Fahne um sich. Volkspartei wollte man sein, nicht mehr Arbeiterpartei.
Spätestens mit dem Amtsantritt von Gerhard Schröder und seiner Propagierung der „neuen Mitte“ war klar, dass die SPD die Vokabel der „sozialen Gerechtigkeit“ aus ihrem Wortschatz gestrichen hatte. Die SPD wurde zum Wegbereiter der neoliberalen Politik in Deutschland, die selbst Helmut Kohl nicht zur Gänze forciert hatte. Wieder enttäuschten die Sozialdemokraten die in sie gesetzten Erwartungen. Die Entstehung der Linkspartei war nach der Hartz-Gesetzgebung eine geschichtliche Notwendigkeit. Immer breitere Schichten des Volkes leiden unter der Agenda-Politik, die Tafeln haben immer mehr Zulauf. In dieser Situation war es der hessischen SPD möglich, zusammen mit der Linkspartei die Regierung zu übernehmen, natürlich ebenfalls gemeinsam mit den Grünen. Aber daraus wurde nichts. Lieber tot als rot schienen einige Sozialdemokraten zu denken, nur nicht mit Menschen zusammenarbeiten, die Ideale besitzen. Man könnte ja in dieselbe Ecke gedrängt werden. – Nicht auszudenken!
Nächstes Jahr sind Bundestagswahlen. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie die Mehrheitsverhältnisse dann aussehen werden. Vielleicht gäbe es ja noch einmal eine Mehrheit links von der CDU, aber ich wage nicht darauf zu hoffen. Und wenn schon: Es würde ja sowieso nichts bringen. Die SPD hat ihren Standpunkt links von der CDU ja längst aufgegeben. So erscheint denn die Fortsetzung der jetzigen Koalition eher wahrscheinlich, oder vielleicht reicht es ja für CDU und F. D. P. Schuld ist dann die irrationale Angst vor der roten Fahne, die umgeht bei Leuten, die selbst einmal aus einer Arbeiterpartei kamen.
Für mich, der ich aus einer Arbeiterfamilie stamme, die immer SPD gewählt hat, ist diese Partei heute nicht mehr wählbar.
© 2008, Jens Bertrams.