Den folgenden Kommentar über 25 Jahre E-Mail in Deutschland habe ich am 04. August 2009 für Ohrfunk.de geschrieben und in der Sendung „17-20, der Soundtrack zum Tag“ veröffentlicht.
Mögest du in interessanten Zeiten leben! Dieser chinesische Fluch betrifft uns alle, denn wir leben in einer schnelllebigen Zeit mit geradezu revolutionären Umwälzungen. Und oft bemerken wir sie nicht einmal. Jedenfalls sind wir uns längst nicht immer einig, ob diese Umwälzungen ein Fluch oder ein Segen sind.
Hand aufs Herz: Wie viele von Ihnen lesen täglich ihre E-Mails? Und noch eine Hand: Wieviele von Ihnen erhalten von Ihren Freunden und Verwandten hin und wieder noch einfache Postbriefe? Sehen Sie, was ich meine? Und wir haben es kaum bemerkt, es passierte einfach.
Am Morgen des 3. August 1984 um 10:14 Uhr sah Michael Rotert, er war so etwas wie Netzwerkadministrator bei der Universität in Karlsruhe, einen kleinen Text auf seinem Computerbildschirm. Überschrieben war der Text mit „Wilkomen (mit einem l und einem m) bei CSNet“. Es handelte sich um die erste E-Mail, die Deutschland erreichte. Weder Michael Rotert, noch sein Professor Werner Zorn ahnten damals, wie sehr die E-Mail die Alltagskultur der Menschen verändern würde. Denn zu diesem Zeitpunkt ging es lediglich darum, mit einem der Wissenschaftsnetze in den USA verbunden zu sein. Von einer privaten Nutzung der E-Mail war man so weit entfernt wie vom Mond. Erst langsam entwickelten sich in einzelnen Ländern kleine Netzwerke zusammengeschlossener Mailboxen, bei denen es auch möglich war, Nachrichten zwischen den Nutzern dieses kleinen Netzwerkes hin und her zu senden. Es war eine Spielerei für Leute, die Zeit und Geld hatten, sich eines dieser Computerdinger zu kaufen, es ans eigene Telefon anzuschließen und dann eine Nachricht zu schreiben, nur um zu beweisen, dass man so was auch kann. Praktischen Nutzen hatte die Spielerei nicht. Man war halt auf der Höhe der Zeit, das war alles.
Das änderte sich Anfang der neunziger Jahre, als das Worldwide Web erfunden wurde und sich immer mehr ausbreitete. Viele der Netze in den einzelnen Ländern wurden jetzt zusammengeschlossen, die Universitäten stellten ihren Studenten die Möglichkeit zur Verfügung, einen Internetzugang zu bekommen, um auf Lehrmaterialien und Forschungsdaten zugreifen zu können. Unternehmen nutzten langsam die Möglichkeit, eine eigene Webseite ins Netz zu stellen, und da war es doch praktisch, auch eine E-Mail-Adresse zu besitzen, zur Kommunikation mit anderen Unternehmen und mit den Kunden. Erst dann kamen die privaten Homepages und die privaten E-Mail-Adressen. Und langsam bemerkten wir, dass nichts mehr so war, wie vorher.
Sprachpsychologisch betrachtetkommt den meisten Menschen eine E-Mail härter und oft beleidigender vor als der alte Postbrief. Der Ton zwischen den Menschen hat sich verschärft, sagen einige. Wenn man eine E-Mail schreibt, dann kann man heute wegen der extrem kurzen Übertragungszeiten sehr kurze und knappe Nachrichten verfassen. Es ist üblich, dass die meisten Menschen ihre Mails mehrmals am Tag abrufen. Eine E-Mail ist also so eine Art in die Länge gezogenes Gespräch. Eine kurze, knappe Nachricht, und kurz darauf erscheint eine kurze, knappe Antwort. Bei einem Postbrief, der mehrere Tage unterwegs war, hat man sich, so die Sprachpsychologen, mehr Zeit gelassen, länger überlegt, was man schreibt, seine Worte sorgfältiger gewählt. Das Niveau der zwischenmenschlichen Kommunikation sei gesunken, behaupten Einige.
Es gibt aber auch die andere Meinung, die besagt, dass die E-Mail zu einer Renaissance des Schriftlichen geführt habe, und dass dies der menschlichen Kommunikation sehr zuträglich sei. Wie sehen Sie das? Eine solche Frage kann eigentlich nur jeder Mensch für sich selbst beantworten. Wer täglich 200 E-Mails bekommt, was heute ganz normal ist, geht jedenfalls mit Sicherheit anders damit um, als ein Mensch, der jede Woche einen Brief von einem engen Freund oder verwandten im Briefkasten findet.
Die E-Mail hat die Kommunikation revolutioniert. Das sagt sich so leicht, und vielleicht fragen sich einige, was das eigentlich bedeutet. Viele Gespräche, für die man sich früher getroffen, und die man von Angesicht zu Angesicht geführt hat, werden heute über eine kurze elektronische Nachricht angestoßen und erledigt. Kommunikation zwischen Menschen findet immer weniger auf der persönlichen, sondern immer mehr auf der virtuellen Ebene statt. Selbst das Telefon wird während der Tagesstunden zunehmend als unhöflicher Störenfried empfunden, im Gegensatz zur E-Mail nötigt es den Adressaten zu einer sofortigen Reaktion. Also findet immer mehr Kommunikation statt, aber offenbar immer weniger persönliche Begegnung? Wo und wann denn auch in einer Welt, in der das Hasten von Arbeit zu Arbeit der einzige Lebenszweck geworden zu sein scheint? Und das übrigens nicht zuletzt auch wegen der elektronischen Revolution der letzten 25 Jahre… Sicher: Ich habe auch schon gehört, dass man sich via E-Mail oder solcher Internetforen wie Facebook oder wer-kennt-wen zu einem Treffen am Abend im Biergarten verabredet. Aber ich denke, dass dies eher die Ausnahme ist.
Diejenigen von uns, die älter sind als, sagen wir, 35 Jahre, können vielleicht rückblickend ermessen, wie viele Veränderungen der Siegeszug der E-Mail im privaten und beruflichen Leben mit sich gebracht hat. Michael Rotert und Werner Zorn, die am 3. August 1984 die erste E-Mail Deutschlands empfingen, ahnten davon mit Sicherheit nichts.
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Autor: Jens Bertrams
Hmmmmm, da muß ich direkt einmal nachdenken, inwiefern die E-mail mein eigenes Leben verändert oder gar revolutioniert hat, bezogen auf mein Kommunikationsverhalten? Spontan gesprochen würde ich sagen „gar nicht“. Und doch: so ganz stimmt es nicht. Manchmal schreibe ich lieber eine E-Mail, weil ich einerseits, vor allem in Streitsituationen, denke: der andere hat so mehr Zeit, über meine Worte nachzudenken und heftige wortwechsel werden so vermieden, andererseits kommt die Nachricht aber auch schnell an, so daß ein Streit doch relativ zügig beigelegt werden könnte… Streit auf dem üblichen Postwege gab es nie. Da war immer mindestens das Telephon dazwischen, solange ich lebe… Aber ist das wirklich ein Vorteil mit dem Vermeiden harscher Wortwechsel, oder nicht vielleicht doch eher ein Vorschub für Feigheit? Verlernen wir nicht dadurch, auch die direkt gesprochenen Worte so zu wählen, daß wir möglichst nichts sagen, was uns später sehr, sehr Leid tun könnte? Ist nicht eher sogar mal eine Spitze in einer E-mail losgelassen worden im Wissen, daß man das direkte Echo nicht ertragen muß, sondern *endlich* mal sagen kann, was man sonnst nicht sagen könnte? Tja, wir werden nicht drum herum kommen: es hat vor- und Nachteile. Eine Revolutionierung des schriftlichen ist die e-Mail leider jedoch auf gar keinen Fall geworden im HDL-Zeitalter, wo ganze Sätze allmählich aus der mOde zu kommen scheinen 🙂
Postbriefe…. Hm, für mich als blinde Frau macht es glaub ich heute nicht mehr so den Unterschied, ob ich einen Postbrief oder eine E-Mail von einem lieben Freund bekomme. Aber ich glaube, sehenden Menschen könnte dabei mehr verloren gehen: eine charakterische Schrift, lieb gewordene eigenheiten an der Handschrift eines anderen… Dazu kommt, daß ich PUnktschrift ungefähr so schnell schreiben kann wie hier am Computer, wenn nicht schneller. Sehende Personen, die einen Brief mit der hand schreiben, kommen vielleicht bei einem handschriftlichen Brief viel eher zu ruhe und Gefühl bei einem Brief als bei der wilden Tipperei einer E-Mail. Dazu würden mich auch noch andere meinungen interessieren.
Dann muß ich noch sagen, daß ich viel eher dazu neige, e-Mails bedenkenlos zu löschen als private Briefe zu zerreißen. Dabei nehmen sie räumlich gesprochen und gut geordnet viel weniger Platz weg. Aber irgendwie, warum auch immer, so stelle ich gerade fest, empfinde ich sie als flüchtiger. Manchmal etwas greifbares in Händen zu halten, fehlt uns allen wohl doch. Schickt euch doch öfter mal wieder ein kleines Päckchen! Das kann das WWW. noch nicht 🙂
Also ich finde deine Reaktion spannend. Zuerst, es hat sich nichts verändert, und dann im Laufe der Zeit kommt raus, dass die E-Mail den Ton schärfer gemacht hat und z. B. Streitkulturveränderungen gebracht hat. Und was mich betrifft: Die E-Mail ist in jedem Falle flüchtiger als ein Brief. Wenn ich wusste, ein Brief kam an, dann bin ich in den Ferien früher jeden Tag zum Briefkasten, ich habe gewartet. Ich habe den Brief mehrfach gelesen, ich habe mir viel genauer als bei der E-Mail die Antwort überlegt. Die E-Mail hat zu mehr Kommunikation, aber nicht zu mehr gutem Inhalt geführt, zumindest bei den meisten Menschen. Findei ch jetzt mal so.