Den folgenden Kommentar habe ich am 13.08.09 für www.ohrfunk.de geschrieben und in der Sendung „17-20, der Soundtrack zum Tag“ veröffentlicht.
Sollten Sie es noch nicht bemerkt haben, liebe Hörerinnen und Hörer, in rund anderthalb Monaten ist Bundestagswahl. Da wird es Zeit, langsam mal an den Wahlkampf zu denken. Das dachte sich vermutlich auch Vera Lengsfeld, ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und ehemaliges Mitglied der Grünen, die heute für die CDU kandidiert. Sie tritt im linksalternativen berliner Bezirk Friedrichshain an, den bei den letzten 2 Bundestagswahlen der grüne Linksaktivist und Rechtsanwalt Hans Christian Ströbele souverän direkt gewonnen hat, als einziger seiner Partei übrigens. „Da musste ich mir was einfallen lassen“, erklärte die CDU-Kandidatin und kam mit einem provokativen Wahlplakat. Angela Merkel, aufgenommen bei der Eröffnung der osloer Oper im Jahre 2008, ist darauf mit tief ausgeschnittenem, dunklem Abendkleid zu sehen, daneben Vera Lengsfeld im selben Outfit. Bildunterschrift: „Wir haben mehr zu bieten.“ In ihrem Wahlkampfblog löste dieses Plakat bei vielen Männern einen Sturm der Entrüstung aus. Vera Lengsfeld wurde als „verrückt“ beschimpft. Aber ihre Wahlkampftaktik ging vordergründig auf: Tausende und abertausende besuchten ihr Wahlblog. „Das hätte ich mit konventionellen Plakaten nie geschafft“, erklärte die Politikerin. Weibliche Besucherinnen ihres Blogs fanden das Bild übrigens eher mutig und amüsierten sich über die Tiefgründigkeit der Aussage: „Wir haben mehr zu bieten“. Mehr als Äußerlichkeiten nämlich.
In Internet und Medien wird nun über Freizügigkeit, Sexismus und Prüderie debattiert, der Wahlkampf ist also endgültig eröffnet. Dass die CDU-Spitze nicht begeistert von Lengsfelds Alleingang ist, konnte man allenthalben lesen und hören. „Das war mit uns nicht abgestimmt“, erklärte ein Sprecher der Partei knapp. Vera Lengsfeld hat für den Fall zu großer Kritik noch ein Alternativplakat in der Tasche: Sie im Blazer, Bildunterschrift: „Ich kann auch konservativ“.
Wenn ich die Berichterstattung über deutschlands neues Erregungsthema verfolge, stellen sich mir ganz andere Fragen. Zum Beispiel: Gibt es keine inhaltlichen Dinge mehr, mit denen die CDU im Allgemeinen und Frau Lengsfeld im Besonderen auf sich aufmerksam machen können? Ich höre schon die überall reflexartig ausgestoßenen Antworten: „Man muss doch erst einmal Aufmerksamkeit erregen und einen Blickfang bieten, bevor man über Themen spricht.“ Ich gebe ja zu, dass ein Wahlkampfplakat, auf dem Vera Lengsfeld Angela Merkel die Hand schüttelt, weit weniger Gesprächsstoff geboten hätte. Es war der ursprüngliche Vorschlag der CDU-Wahlkampfstrategen gewesen. Aber wer glaubt denn, dass die Leute, die erst auf ein provokativ sexuelles Plakat reagieren, dann noch über Inhalte sprechen wollen? Die Menschen, die solche Anreize brauchen, um eine möglicherweise interessante politische Persönlichkeit wahrzunehmen, die wählen sie dann vielleicht auch nur wegen ihres Aussehens. Aber möglicherweise ist das Frau Lengsfeld ja egal, Hauptsache, es gibt schön viele Stimmen für die Union? Und wenn man weiter denkt, könnte man sich fragen, ob Frau Lengsfeld glaubt, so die allgemeine Politikverdrossenheit eine Weile übertünchen zu können? Ich finde es erschreckend, dass hier bewusst inhaltsleer Wahlkampf gemacht wird, nur mit den sogenannten weiblichen Reizen, die natürlich bei bestimmten Männern immer ziehen. Und das, ohne dass diese Männer eine Ahnung von der politischen Ansicht von Vera Lengsfeld hätten. Wenn man nur noch so die Menschen hinter dem Ofen hervorlocken und zur Wahlurne bringen zu können glaubt, dann sagt das eine Menge aus über den Zustand unserer Politik, die Kompetenz unserer Politiker und den Bildungsstand unserer Mitbürger.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich habe nichts gegen das Bild oder das Plakat als solches. Als letztes Jahr das osloer Foto von Angela Merkel bekannt wurde und auch verschnupfte Reaktionen hervorrief, kommentierte die Bundeskanzlerin dies völlig zurecht mit den Worten: „Das kommt nur, weil die Bundeskanzlerin eine Frau ist.“ Mit Moral oder mit Schamlosigkeit oder ähnlichen Dingen hat das alles für mich nichts zu tun. Nur mit Wahlkampf, und das ist der Grund, warum ich das Plakat ein so erschreckendes Phänomen finde. Frau Lengsfeld kann tausende solcher Plakate aufhängen, und vielleicht würden sie ja das Stadtbild verschönern, ich kann es nicht beurteilen. Aber nicht im Wahlkampf!
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Autor: Jens Bertrams
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Die Mädchenmannschaft versagt bei der Diskussion zum Thema leider völlig, weil sie Kommentare und ihre Antworten darauf aus dem Blog löschen. Betroffen sind:
http://maedchenmannschaft.net/wir-haben-mehr-zu-bieten/#comment-17123
http://maedchenmannschaft.net/wir-haben-mehr-zu-bieten/#comment-17124
und
http://maedchenmannschaft.net/wir-haben-mehr-zu-bieten/#comment-17127
sowie die Antwort von Susanne darauf zumn Thema “Meinungsressort in der tazâ€.
Ich habe mich dort mit Kommentar 17185 beschwert. Mal sehen, ob sie so sportlich sind und den zulassen.
Also da ich das Plakat nicht gesehen hab, musste ich googeln und ohne da lang herumzusuchen kann ich nur mit Verwunderung feststellen dass das Plakat für teuer Geld sogar bei e-bay angeboten wird.
Also eine bestimmte Publikumswirkung scheint es ja echt zu haben. Ich finds aber erschreckend wie viel Wirbel da gemacht wird. Eigentlich ist die ganze Aktion so was von blöd, dass entweder nur Ignorieren oder eben das Aufzeigen der Lächerlichkeit des ganzen Wahlkampfes dagegen angebracht wäre. Ich find es schlimm was sich da die Politik leistet – und das wird mein Vertrauen in Politik sicher nicht erhöhen.
Gerade, wenn ich den Kommentar vondir, Olaf, hier so lese, der beschreibt, was für dämliche, aber weitreichende kreise dieses schnöde Plakat zieht, dann komme ich auch mehr und mehr zu dem Schluß, daß das ganze die wirklich wichtigen Wahlkampfthemen überdeckt. Ob Frau lengsfeld das nun bewußt getan hat, bezweifle ich zunächst mal, aber vielleicht bin ich da auch zu naiv. Ich glaube, die wollte ein bißchen Pepp um ihre eigene Person erzeugen. Kleine Profilneurose, würde ich sagen. Klar: das ganze als „wir haben mehr zu bieten als Äußerlichkeiten“ wäre ja schon mal ein netter Satz, aber das ist doch eher eine allgemeine Botschaft, um die sich Frauen in der Politik das ganze jahr über kümmern sollten, vor allem in der CDU. als „ahlfang“-ARgument macht es sich überhaupt nicht, sondern bringt echt nur zu Recht die Kritik ein, die wirklich drängenden Themen wegblubbern zu wollen. naja, und das Männer das kritisieren: wer am lautesten über den Einbrecher bellt, frißt schon dessen angebotene Knochen… Wer soll das bei dem offensichtlichen ach so empörten Interesse ernst nehmen? naja, das wenigstens bringt mich an der ganzen Sachezum lachen.