Den folgenden Bericht habe ich für die Sendung „17-20, der Soundtrack zum Tag“ geschrieben und dort am 6. Oktober auf ohrfunk.de veröffentlicht.
Wieviele Menschen, die damals, im Herbst 1989, an Demonstrationen für Reformen teilgenommen haben, werden sich heute mit Freude daran erinnern? Wieviele werden andererseits vielleicht sagen, dass es ein Fehler gewesen sei, und dass man die DDR unbedingt hätte erhalten müssen mit ihrer Vollbeschäftigung und ihrer sozialen Sicherheit? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass man am Nachmittag des 6. Oktober 1989 nach Ostberlin blickte, weil dort die Festveranstaltung aus Anlass des 40. Jahrestages der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik stattfand. Alle Großen der DDR waren gekommen, angeführt vom „ersten Sekretär des Zentralkommitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates und des nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Genossen Erich Honecker“, wie es in den Medien immer so schön hieß. Nicht wenige erhofften sich von dieser Veranstaltung erste Anzeichen auf einen neuen Kurs der SED-Führung, ein Wort des Einlenkens in Richtung auf die Politik von Umgestaltung und Erneuerung, wie sie seit mehr als 3 Jahren in der Sowjetunion betrieben wurde. Die Jubel- und Feierstimmung der offiziellen Stellen in der DDR wäre möglicherweise ein taktischer Pluspunkt für die SED gewesen, aber sie ließ die Chance vorbei gehen.
Seit Wochen brodelte und gährte es in der DDR. Im August hatten Menschen begonnen, in die westdeutschen Botschaften zu flüchten, in Budapest, Prag und Warschau. Der Protest gegen die am 7. Mai gefälschten Kommunalwahlen nahm immer mehr zu, vor allem im Umkreis der Kirchen in der DDR. Und als in Ungarn plötzlich der eiserne Vorhang durchlässig wurde, der Grenzzaun zu Österreich symbolisch durchschnitten wurde und die DDR-Bürger unbürokratisch in den Westen ausreisen konnten, da fassten immer mehr Menschen Mut, auch in der DDR zu demonstrieren. Seit dem 4. September versammelten sich nach Friedensgebeten erst tausende, später hunderttausende DDR-Bürger zu friedlichen Protestdemonstrationen. Die Staatsmacht war vollkommen überrumpelt. Nun rächte sich, dass die DDR-Führung von einer Erneuerung des Sozialismus überhaupt nichts wissen wollte. Sprachlos stand die Regierung und die SED den Ereignissen gegenüber, die Gründung des Neuen Forums, der ersten Demokratiebewegung, wurde noch offiziell beim DDR-Innenministerium angemeldet und prompt verboten. Nichts sollte die Feiern zum 40. Gründungstag der DDR stören.
All die, die auf ein Zeichen Honeckers gewartet hatten, wurden enttäuscht. Dass man wenige Tage zuvor erlaubt hatte, dass die DDR-Bürger in den BRD-Botschaften in Prag und Warschau ausreisen konnten, war nicht der Anfang einer neuen Politik gewesen. Die Grenzen zur CSSR waren geschlossen worden, damit kein Bürger mehr über Prag in den Westen fliehen konnte. Die Fluchtwelle von mehr als 20.000 Menschen war im Land bereits spürbar geworden. Zum Beispiel waren in die ärztliche Versorgung bereits empfindliche Lücken gerissen. Erich Honecker betonte auf der Festveranstaltung, dass jeder sozialistische Staat, in Abstimmung mit Moskau natürlich, seinen eigenen Weg zum Sozialismus gehen müsse und würde, wie es die sowjetischen Genossen seit Jahren predigten. Er wendete Gorbatschows neue Doktrin der Souveränität der sozialistischen Staaten gegen Gorbatschow selbst. Doch die Menschen auf der Straße sprachen eine andere Sprache. Sie riefen laut in Sprechchören: „Gorbi, hilf uns!“ Und die stramme FDJ jubelte mehr Gorbatschow zu als ihrem eigenen Generalsekretär. Honecker, so berichten Augenzeugen, schäumte vor Wut. Und Genosse Gorbatschow sagte auch etwas dazu. Neben den üblichen Lobpreisungen sagte er unter anderem diesen Satz, im Treppenaufgang einer U-Bahn-Station stehend: „Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ Man kann getrost sagen, dass dieser Satz etwas prophetisches an sich hatte. Wenige Wochen später bewahrheitete er sich im Bezug auf die Führung der DDR und einiger anderer Ostblockstaaten, und zwei Jahre später traf es Gorbatschow selbst, denn auch für die Sowjetunion waren die Reformen zu spät und zu zaghaft umgesetzt worden.
In Prunk und Pomp feierte die DDR ihren 40. Jahrestag, und niemand, der bei Verstand war, glaubte daran, dass das Ende dieses Staates in 362 Tagen gekommen sein würde. Aber es war so, und die Lawine, die die europäische Nachkriegsordnung von Grund auf umkrempeln sollte, war bereits ins Rollen gekommen.
© 2009, ohrfunk.de
Autor: Jens Bertrams