Eigentlich bin ich ein richtiger Frühaufsteher. Ich mag es nicht, ganze Tage zu verschlafen. Aber in den Herbstferien 1989
war das offenbar anders. Es war das Jahr, in dem mein Vater gestorben war, in dem ich ziemlich aus der Bahn geriet. Es waren
Herbstferien, und ich war mit meiner Mutter allein in unserem kleinen Ferienhäuschen in den Niederlanden, als die Nachrichten
anfingen, sich zu überschlagen.
Meine Mutter liebte das Fernsehen, vor allem einen gewissen Privatsender aus einem kleinen westlichen nachbarland. Deshalb
war ich schon darauf eingestellt, den ganzen Tag irgendwelche Serien zu hören, die dauernd von Werbung unterbrochen wurden,
irgendwelche Shows und nichtssagende Nachrichten. Warum ich an diesem Tag so lange in meinem Zimmer schlief, kann ich beim
besten Willen nicht mehr sagen. Es war der Mittwoch der Herbstferien, der 18. Oktober 1989.
Zu meinem grenzenlosen Erstaunen war das Erste, was ich beim Wachwerden hörte, das Jingle der Nachrichten des genannten
Privatsenders. Gleich darauf teilte mir meine Uhr mit, dass es 14:30 Uhr sei. Es war eine kurze Nachrichtensendung. Zuerst
kam die Meldung, dass ein schweres Erdbeben die Stadt San
Francisco heimgesucht habe. Es sei von 60 Toten auszugehen, der Sachschaden betrage Millionen. Und dann, man hatte diese
Nachricht gar nicht verdauen können, kam die Sensation des Tages. ADN habe vor kurzem eine Meldung verbreitet, in der es
hieß, dass Erich Honecker von all seinen Ämtern aus
gesundheitlichen Gründen zurückgetreten sei. Der Nachfolger des greisen DDR-Führers sei Egon Krenz.
Sofort schaltete ich das Radio ein. Natürlich habe ich mich von der ersten Sekunde an gefragt, ob es wirklich gesundheitliche
Gründe waren, die Honecker zum Rücktritt bewogen hatten. Ich zweifelte daran. Aber immerhin stimmte es, dass sich Honecker
vor wenigen Wochen einer schwierigen Operation unterziehen musste. Trotzdem glaubte ich von Anfang an daran, dass das Ende
der Ähra Honecker mit der Krise der DDR zusammenhing.
Wurde nun Krenz der neue Gorbatschow der DDR? Wer war dieser Egon Krenz
überhaupt? In den letzten Monaten hatte ich seinen Namen häufiger gehört, aber ehrlich gesagt nicht gerade in einem
ermutigenden Zusammenhang. Krenz hatte die brutale Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung begrüßt. Das war kein
gutes Zeichen. Deshalb wunderte ich mich nicht darüber, dass in westlichen Medien sehr zurückhaltend auf seine Wahl reagiert
wurde. Im Rundfunk der DDR wurde eine Rede für den späten Nachmittag angekündigt. Die wollte ich mir natürlich nicht entgehen
lassen, denn es würde ja vermutlich eine historische Rede sein. Eine Rede, die das Ruder in der DDR herumriss, eine Rede, die
die angespannte Lage beruhigte und die DDR auf einen demokratischen Weg führen würde. Ich hatte das Gefühl, etwas ganz
großartiges mitzuerleben.
Als Egon Krenz dann schließlich im Radio zu hören war, fiel mir auf, dass er jünger war als Honecker, dass er irgendwie
medienwirksamer sprach. Aber der Inhalt der Rede unterschied sich kaum von den Reden vor der Wahl von Egon Krenz. Gut: Krenz
gab zu, dass rund 100.000 Menschen der DDR den Rücken gekehrt hatten. Aber das war auch alles. Die SED sei auf dem richtigen
und guten Weg, sie führe die Entwicklung in der DDR an, die Wünsche der Arbeiter nach besseren Arbeitsbedingungen und mehr
Leistungsprinzip würden erfüllt werden. Sogar ein neues Reisegesetz kündigte Krenz an, aber zu Reisen in die Bundesrepublik
sagte er, es könne dort kaum Fortschritte geben, solange die BRD die Staatsbürgerschaft der DDR nicht anerkenne. Im Grunde
gab er zu, dass er Angst davor hatte, dass es noch mehr DDR-Bürger geben könnte, die einfach drüben bleiben würden. Ich muss
zugeben, dass ich von der Rede enttäuscht war. Eine Annäherung an die Sowjetunion war zu bemerken, allerdings auch dort mit
Einschränkungen. „Kontinuität und Erneuerung“ hieß das Stichwort der Rede. Vom neuen Forum, von Demonstrationen für mehr
Freiheit und gegen die Wahlfälschung bei der Kommunalwahl, die Krenz als Leiter der staatlichen Wahlkommission mit zu
verantworten hatte, fehlte jedes Wort. Immer wieder wurde betont, dass die Hetzcampagne der westlichen Medien gegen den
Sozialismus die DDR nicht in die Knie zwingen werde. Eine Rede für einen Parteitag, aber nicht fürs Volk. Tatsächlich war es
genau der Wortlaut der Rede, die im Plenum des Zentralkomitees gehalten worden war, eine Rede also, die sich an die engsten
Genossen richtete und zum Durchhalten aufforderte, nicht aber an das Volk. Es sollte sich herausstellen, dass so kein
Vertrauen zurück zu gewinnen war.
Eine Weile lang habe ich diesen 18. Oktober 1989 für einen historischen Tag gehalten, aber das legte sich, als wenige Wochen
später die Mauer fiel. Viele Jahre habe ich gar nicht gewusst, wie es zu diesen Ereignissen gekommen war, und wie sie in den
Augen der handelnden Personen wirkten. Erst eine Dokumentation über das Ende der SED, die 2 Jahre später ausgestrahlt wurde,
ließ einige Hintergründe erkennen. So erfuhr ich, dass die entscheidende Auseinandersetzung bereits einen Tag vorher im
Politbüro stattgefunden hatte. Wir sind heute in der glücklichen Lage, Dokumente über diese Zeit zu besitzen, in der alles so
schnell geschah, dass man kaum mitkommen konnte. Darum möchte ich am Schluss dieses Beitrages auch ein paar wirklich
interessante Links präsentieren:
- Egon Krenz über die Sitzung des Politbüros
am 17.10.1989, auf der Erich Honecker gestürzt wurde
- Stenographische Niederschrift der Sitzung
des Zentralkomitees der SED vom 18. Oktober 1989, auf der Erich Honecker seinen Rücktritt bekannt gab
- Egon Krenz über den Tag des Rücktritts von
Erich Honecker und seine Rede
- Lageeinschätzung desDDR-Experten,
Ministerialdirigent Duisberg gegenüber Bundeskanzler Kohl nach der Wahl von Krenz
- Der Putsch im
Politbüro
, ein interessanter Artikel im hamburger Abendblatt zur Rekonstruktion des Sturzes von Erich Honecker
© 2009, Jens Bertrams
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