Den folgenden Kommentar habe ich für ohrfunk.de am 11.03.2010 geschrieben und dort veröffentlicht.
Es gibt Momente, die vergisst man nicht, und es gibt Momente, die muss man sich nachträglich erst wieder ins Gedächtnis rufen, wenn man begriffen hat, wie bedeutsam sie waren. So ein Moment trat ein, als ich, sechzehnjährig und politisch interessiert, am Mittag des 11. März 1985 aus der Schule kam und das Radio im Wohnzimmer meiner Internatswohngruppe einschaltete. Der hessische Rundfunk verkündete in seinen 13-Uhr-Nachrichten, der 54jährige Ökonom Michail Sergejewitsch Gorbatschow sei als Nachfolger des tags zuvor verstorbenen Konstantin Tschernenko zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden. Damit habe ein Generationswechsel stattgefunden, der möglicherweise wieder für mehr Bewegung in den Abrüstungsverhandlungen der Großmächte sorgen könne. Ich fand die Meldung spannend, hatte den Namen zuvor nur einmal gehört, konnte mir aber ansonsten nicht vorstellen, dass sich viel bewegen würde. Ich war Mit Breschnew aufgewachsen, einem verlässlichen Hardliner, der den kalten Krieg dogmatisch aber berechenbar geführt hatte. Ich will nicht sagen, dass ich Nachricht und Namen gleich wieder vergaß, aber ich begriff nicht die Tragweite dieses Ereignisses. Und dann stand ich, wie die ganze unvoreingenommene Welt, staunend da und beobachtete, mit welcher Anfangsenergie der neue starke Mann in Moskau an die Umgestaltung des verkrusteten Systems ging. Innerparteiliche Demokratie wurde eingeführt, nach und nach eine Art von Pressefreiheit geschaffen, die ersten politischen Gefangenen und Verbannten wurden rehabilitiert, den Ostblockstaaten wurde mehr innere Autonomie gestattet. Während die westliche Bevölkerung den neuen Mann bewunderte, vor allem auch deshalb, weil er sich bei seinen Auslandsaufenthalten so aufgeschlossen gab, blieben die Politiker skeptisch, allen voran US-Präsident Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl. Der erklärte 1986, Gorbatschow verstehe halt eine Menge von PR, genau wie Goebbels. Der amerikanische Präsident reagierte auf die im Monatstakt eingehenden Abrüstungsvorschläge aus Moskau zurückhaltend oder ablehnend, er wollte sein Lieblingsspielzeug, die Verteidigung im Weltraum, nicht aufgeben. Diese zögerliche Haltung und die Gipfelkonferenzen, die zwar freundlich aber ohne Ergebnis verliefen, brachten Gorbatschow zunehmende Kritik auch unter seinen eigenen Anhängern ein. Zumal die innerparteiliche Offenheit und Demokratisierung natürlich auch zu einer Lockerung der Parteidisziplin führte. Gorbatschow wurde wegen schlechter Wirtschaftsbilanzen immer mehr bekämpft. Die hatte er zwar nicht selbst verursacht, und er versuchte ja auch, durch die Abrüstung mehr Freiheit in der Wirtschaftspolitik zu bekommen, aber die schlechte Versorgungslage, die steigenden Preise und die Unterbezahlung in den Betrieben wurden ihm negativ angerechnet. Die vorsichtige Öffnung hin zu marktwirtschaftlichen Strukturen sorgte eben auch für steigende Preise und mehr internationale Konkurrenz.
Erst als Michail Gorbatschow den baldigen Abzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan verkündete, als er große Teile der alten Garde abserviert hatte, und nachdem er ganz offiziell den osteuropäischen Staaten volle Souveränität zugesichert hatte, konnte Reagan die Zeichen der Zeit nicht mehr länger ignorieren. Im Dezember 1987 schlossen er und Gorbatschow in Washington den sogenannten INF-Vertrag, der den Abbau der Mittelstreckenwaffen festlegte, um die wenige Jahre zuvor so hart gerungen worden war. Daraufhin verkündete Gorbatschow vor den Vereinten Nationen weitere, diesmal einseitige, Abrüstungsschritte.
Als die osteuropäischen Staaten 1989 begannen, die neue Freiheit auszutesten, als Mauern fielen und Grenzen verschwanden, hielt Gorbatschow sein Wort. Er ließ keine Panzer rollen, er hielt die Hardliner zurück. Im Westen war er ein Held geworden, für die Bevölkerungen der osteuropäischen Staaten war er für kurze Zeit der Befreier, bis westliche Politiker ihm den Rang abliefen und den Ruhm einheimsten. Als sich Gorbatschow für die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten aussprach, brach das Sowjetimperium endgültig zusammen, und dafür wurde der moskauer Staatsmann mit dem Friedensnobelpreis belohnt. Dabei saß er auf einem durchgehenden Tiger, an dessen Ohren er sich so gerade noch festhalten konnte. Er hätte besser auf seinen eigenen klugen Ausspruch gehört: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Denn als die baltischen Staaten sich im März 1990 für von der Sowjetunion unabhängig erklärten, im Einklang übrigens mit den prinzipien der sowjetischen Verfassung, ließ Gorbatschow zunächst Panzer rollen. Am Blutsonntag von Vilnius kamen mehrere Menschen durch Sowjetwaffen ums Leben, und der in ganz Europa gefeierte Friedensnobelpreisträger gilt im Baltikum seither als Verbrecher. Dabei beugte er sich schnell dem Volkswillen, es nützte ihm aber nichts. Denn durch seine zögerliche und dann nachgiebige Haltung verspielte er sich den letzten Respekt, den er beim Parteiapparat noch hatte. Immer mehr Sowjetrepubliken erwogen die Unabhängigkeit. Gorbatschow wollte dies durch einen neuen Unionsvertrag verhindern, der den einzelnen Sowjetrepubliken mehr Befugnisse einräumte. Doch das ging der alten kommunistischen Garde endgültig zu weit. Im August 1991 putschten sie Gorbatschow aus dem Amt. Dem Widerstand der Volksmassen unter Führung von Boris Jelzin ist es zu verdanken, dass der Putsch nach drei Tagen niedergerungen werden konnte. Formal kehrte Gorbatschow an die Macht zurück, doch er musste sich von Jelzin öffentlich demütigen lassen, als der live im Fernsehen die KPdSU verbot. 4 Monate versuchte Michail Gorbatschow noch, die Sowjetunion als lockeren Staatenbund zu retten, aber ohne Erfolg. Alle Teilrepubliken erklärten nach und nach ihre Unabhängigkeit. Am 25. Dezember 1991 trat Gorbatschow als Präsident der UdSSR zurück, und 6 Tage später wurde der Staat für aufgelöst erklärt.
Das Verdienst Michail Gorbatschows ist es, dass die beim Zusammenbruch des Sowjetimperiums frei werdenden Energien nicht zu einem Krieg führten, sondern sich nach innen entluden. Doch dies ist gleichzeitig auch sein Verderben. Denn für die Bevölkerung der ehemaligen Sowjetunion ist Gorbatschow für die Entwicklung zur Marktwirtschaft, für die zunehmende Verarmung der Bevölkerung, den zunehmenden Reichtum einer kleinen Oligarchie und die schlechten Lebensverhältnisse im einsmals modernen Sowjetstaat verantwortlich. Als er sich 1996 in Russland zum Präsidenten wählen lassen wollte, erreichte er nicht einmal 1 Prozent der Stimmen. Der Mann, dem die Menschen in der ganzen Welt millionenfach zujubelten, ist heute nur noch im kapitalistischen Ausland, das vom Ende des kalten Krieges profitierte, gern gesehen.
Für mich war Michail Sergejewitsch Gorbatschow ein Held. Er hat viel für die Völker Osteuropas getan, und dass die russische Bevölkerung heute größtenteils in bitterster Armut lebt, ist nicht seine Schuld. Er hat die explosive Sprengkraft seiner eigenen Reformen wohl unterschätzt, den Tiger nicht bändigen können. So wurde aus dem Helden einer ganzen Generation eine tragische Gestalt, der wir trotzdem viel zu verdanken haben.
Ich bin in den 80er Jahren mit dem üblichen Feindbild des kalten Krieges aufgewachsen. Ich erinnere mich gut, als ich zum ersten mal 1983 (9jährig) das Wort „Mittelstreckenraketen“ in den Nachrichten hörte. Ich fragte meinen Vater was das sei! Seine Antwort hat mein Weltbild erschüttert und dafür gesorgt, dass ich lange Zeit große Angst hatte. „Die Russen drohen uns mit Atomwaffen, Krieg und Tod!“ Oh Schock! Es schien mir als hätte ich das Böse schlechthin getroffen! Im Religionsunterricht sprachd er Lehrer vom „Pulverfaß Deutschland!“. Es könne jeden Moment explodieren und dann wären wir die ersen, die hoch gingen! Wir müßten uns bewußt sein, dass der Krieg offiziell noch nicht beendet sei und wir lediglich einen Waffenstillstand hätten! Was eine schwere Last!!!
Irgendwann kam ich nach Marburg und lernte Lehrer kennen, die behutsam meine in der vorhergegangenen Zeit aufgebauten Vorurteile aufbrachen und mich mit einem anderen Weltbild in Kontakt brachten. Und so war meine erste Wahrnehmung von Gorbatschow 1989 die Bestrebungen bezüglich der Grenzöffnungen. Meine empfundene Erleichterung war groß, als ich lernen durfte, dass die Welt nicht schwarz und weiß ist! Wenn ich auch nicht alles mitbekommen habe, so hatten die Vorgänge der damaligen Zeit einen enormen Einfluss darauf, wer ich heute bin! Die Auseinandersetzung mit der gelebten Geschichte hat mehr Einfluß auf den/die Einzelne als mancher Mensch glaubt. Und so war es ein russischer Präsident, der in gewisser Weise auch mich befreit hat! Aus meinem ganz persönlichen Gefängnis von Todesangst! Danke Michail Gorbatschow! Ich hoffe er kann dennoch die Früchte seiner Arbeit genießen!
Danke Dir, Jens, für diesen sehr guten und treffenden Artikel! Ich stamme aus Dannenberg an der Elbe in Niedersachsen, welches bis zum Mauerfall im sogenannten Zonenrandgebiet lag. Als 8- oder 9-jähriger Junge bin ich mit meinen Eltern auf der Dömitzer Brücke gewesen, die kurz vor Ende des 2. Weltkriegs von den amerikanischen Streitkräften gesprengt wurde, um der Sowjetarmee ein Überqueren der Elbe unmöglich zu machen. Bis zur Mitte des Flusses konnte man gehen, dann war die Bruchstelle abgesperrt. Wir hatten freien Blick auf einen Wachturm auf DDR-Seite, in dem zwei Soldaten saßen und laut Beschreibung meines Vaters, als sie uns sahen, demonstrativ ihre Kalaschnikovs präsentierten und Drohgebährden vollführten. Dies war ein so unmittelbares Erlebnis, das mir die Teilung Deutschlands sehr drastisch vor Augen führte. Von der DDR und der Grenze hatte ich schon gehört, ich hatte auch schon mal Erich Honnecker reden hören, aber das war trotzdem alles sehr weit weg. Hier stand ich auf der Brücke, vor mir die Absperrung, ich wusste wir waren in der Mitte des Flusses und da geht’s nicht weiter. Und da drüben sitzen zwei, die können auf dich schießen, wenn sie wollten.
Ein Jahr später kam ich nach Hamburg ins Internat. Es war der Sommer 1983, kurz bevor die Welle an Friedensdemonstrationen in Westdeutschland losbrach. Ich selbst nahm als 10-jähriger an einer solchen Friedensdemonstration teil, weil ich nicht wollte, dass die Erde kaputt geht. Wir hatten in der Schule ein sehr plastisches Modell des Sonnensystems, in dem alle Planeten intakt waren bis auf die Erde, die in Fetzen mitten im Nirgendwo hing. Uns wurde erklärt, dass das mit der Erde passiert, wenn die USA und die Sowjetunion ihre Raketen tatsächlich benutzen würden. Und das wollte ich ganz und gar nicht!
Die von Dir geschilderten Vorgänge habe ich natürlich im Radio auch mitverfolgt, und da wir ein politisch sehr engagiertes Betreuerteam auf der Internatsgruppe hatten, wurden uns auch viele Zusammenhänge, meist am Frühstückstisch, erklärt. Als im Dezember 1987 der Abrüstungsvertrag unterschrieben wurde, wurde bei uns nach der Schule mit Sekt bzw. Orangensaft angestoßen!
Tja und zwei Jahre später fiel die Mauer, ganz Dannenberg war auf einmal voller Trabis und Menschen, die sich einfach nur freuten, uns mal besuchen zu dürfen. Meine Eltern und ich sind auch in die DDR gefahren. An der Grenze mussten wir 10 DM bezahlen. Meine Schwester, damals 10 Jahre alt, fragte: „Muss man Eintritt bezahlen, wenn man in die DDR will?“ Wir fuhren nach Salzwedel und haben uns den Ort angeguckt. Wir sind auch an den Ahrendsee gefahren, der im ehemaligen Sperrgebiet lag und völlig unberührt war. Ein sehr beeindruckendes Erlebnis, weil ich wusste, dass in den letzten 45 Jahren hier quasi nie jemand gewesen war.
Für mich ist die erlebte Geschichte des Mauerfalls und der Wiedervereinigung untrennbar mit dem namen Michail Gorbatschow verbunden. Er war es, der keine Panzer geschickt hat, obwohl er es hätte tun können. Helmut Kohl hat anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des Mauerfalls erzählt, dass er von Gorbatschow angerufen wurde, als Willy Brand vorm Schöneberger Rathaus gerade seine Rede hielt, und gefragt wurde, ob es richtig sei, dass in Ostdeutschland die Zivilbevölkerung auf sowjetische Soldaten losgehen würde. Kohl hat ihm, ohne zu zögern, gesagt, dass diese Gerüchte nicht stimmten, laut eigener Aussage ohne es genau selbst zu wissen, und Gorbatschow hat ihm geglaubt und die Panzer nicht losgeschickt. Dieses Vertrauen in einen westlichen Politiker wäre wohl bei jedem Vorgänger Gorbatschows undenkbar gewesen.