Also jetzt noch mal ganz ohne Radio und nur für meine Leserinnen, Leser und mich. Hier sind noch ein paar Nachtragsgedanken zum Thema „Kulturrevolution Internet“. Gedanken, die meinen ganz persönlichen Umgang mit dem Netz der Netze betreffen, und die Widerum von Alex Rühles Buch „Ohne Netz – ein halbes Jahr offline“ inspiriert wurden.Ich verbringe täglich viel Zeit am Rechner. Klar: Dass hat mit meiner Arbeit für den Sender zu tun, aber längst nicht nur. Die Hobbys, die ich früher hatte, Musik hören, Geschichten schreiben, mit Freunden plaudern, haben sich ziemlich reduziert. Musik höre ich außerhalb des Ohrfunks eigentlich fast gar nicht mehr, zum Schreiben komme ich kaum noch, und die Besuche bei Freunden, oder deren Besuche bei uns, werden seltener. Okay, ich lese mehr, wegen der Möglichkeit, Hörbücher am Rechner zu lesen, oder auch Bücher in Dateien mit Sprachausgabe. Früher gab es viele Einzelereignisse, an die ich mich jahrelang erinnerte und bis heute Erinnere. Ich kann sie mit Datum und teilweise mit Wortlaut in Erinnerung rufen. Schleichend nehmen solche Ereignisse seit meiner Internetzeit ab. Ich konzentriere mich mehr und mehr auf das hierr und jetzt, auf das Wesentliche eben. Erinnerungen, so sagt Alex Rühle in seinem Buch, sind das letzte Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Stimmt: Aber wer im Tagesfokus lebt, im hier und jetzt der beschleunigten Nachrichtenära, der blendet alles Andere mehr und mehr aus, exportiert die Erinnerungen ins Netz, hört auf, ein persönliches Tagebuch zu schreiben, lässt die Erinnerungen verkommen. Das Netz umgibt uns, es durchdringt uns, es scheint die Welt zusammenzuhalten und ist doch löchrig wie ein schweizer Käse, wenn es um persönliche Erinnerungen und Gefühle geht, um Erlebtes, das man von sich aus nicht vergisst. Die Schrumpfung der Zeit auf den Hier-und-jetzt-Punkt, die hinterlässt mich hin und wieder mit dem Gefühl, in den letzten Jahren sei nichts nennenswertes passiert, ich hätte fast immer gearbeitet und hätte keine Erinnerungen, an denen ich mein Leben festhalten kann. Ein Erdrutsch meiner Gedanken beginnt, der erst vor den ehernen Erinnerungen der vordigitalen Epoche aufgehalten wird.
Nun ist es ja nicht so, dass ich ein unglücklicher Mensch wäre. Ich fühle nur diesen Widerspruch, der in der Rückschau hin und wieder eine unerklärliche Leere hinterlässt. Ich weiß mehr als früher, ich tue mehr als früher, ich bin viel besser informiert als früher. Aber weil ich mich in der trügerischen Sicherheit der Unvergesslichkeit des digitalen Weltgeistes sicher wähne, vergesse ich viel mehr Dinge, die eine längerfristige Aufbewahrung verdient hätten. Im Hier und Jetzt leben bedeutet eben auch, das Erinnerungs- und Ereignisnetz, in das man eingewoben ist und das einem Halt gibt, nach wenigen virtuellen Gedächtnismetern achtlos zu zerschneiden. Dabei erinnert das Netz nichts persönliches, nichts wirklich persönliches. Intimes ja, peinliches ja, aber nichts subjektiv gefühltes und erlebtes. Man stellt ja schließlich nicht sein Tagebuch ins Netz. Aber ich zum Beispiel schreibe auch viel weniger, und wenn, dann viel oberflächlicher, in mein Tagebuch hinein. Das ist eine digitale Gegenwartsfalle.
Ein Freund sagte einmal, ich würde mich ja die ganze Zeit nur mit Computern beschäftigen. Ich habe das immer von mir gewiesen, denn für mich war und ist der Computer Hilfsmittel zur Erreichung anderer Zwecke, etwas lesen, etwas schreiben, etwas hören, etwas veröffentlichen, sich informieren und so weiter. Trotzdem hat mein Freund recht. Vieles im Alltagsleben dreht sich um das Netz. Hier noch schnell die Mails, da noch schnell Twitter, dort noch schnell die aktuellen Nachrichten über Ägypten lesen. Und wenn der Rechner mal wieder nicht sofort funktioniert, fühlt man sich wie amputiert, oder wie auf Entzug. Ich brauche das Netz zur Organisation der Gegenwart, und als solches will ich es auch gar nicht missen. Aber es soll für mich auch in Zukunft Hilfsmittel sein und bleiben, es soll nicht bestimmen. Und ich will nicht nur im Hier und Jetzt leben, ich will Dinge erleben, an die ich mich in 30 Jahren so gut erinnere, wie an die Wahl zum Klassensprecher in unserer Klasse im Jahre 1981, den Brand in meinem Internat im selben Jahr, oder den Start des ersten Spaceshuttles. Wenn ich drei solche Ereignisse im Jahr 2007 suchen sollte, wäre das bedeutend schwerer.
Und so ist es auch mit der Kommunikation durch E-Mail. Vor 10 Jahren erzählte der britische Singer-Songwriter Harvey Andrews noch, das unheimliche an der E-Mail sei, dass sie so leicht zu schreiben sei, und dass sie dann einfach abgeschickt werde und dann in der Welt sei, ohne dass man sie zurücknehmen könne. Man müsse ungeheuer aufpassen, was man in eine E-Mail schreibe. Er hatte zweifellos recht. Aber inzwischen hat sich der Blick auf die Mail verändert. Alex Rühle beschreibt, dass sich ein Kollege während seiner Offlinezeit unwohl fühlt, ihm etwas ins Büro bringen zu müssen, statt eine Mail zu schreiben. Das wirke immer so, als habe man etwas wichtiges zu besprechen, sagt er. Das ist unangenehm, weil die Mail heutzutage etwas beruhigend vorläufiges hat, denn man kann immer ergänzen, richtigstellen, ändern. Mailen ist permanent unverbindlich und vorläufig, bei einem Brief, so Rühle, schaue einem immer ein Deutschlehrer und ein strenger Notar über die Schulter. Briefe aber werden kaum noch geschrieben. Wir fühlen uns offenbar wohl in der Welt der Uneindeutigkeit und Unbestimmtheit. Ich jedenfalls schreibe viel schnoddriger und, wie ich es lange nannte, lockerer E-Mails als Briefe. Als hätten meine Kommunikationspartner nicht auch heute noch eine klare, gut formulierte, eindeutige und wohl überlegte Antwort verdient. Da nämlich ist das Hier und Jetzt nicht mehr so wichtig, Mails werden eben nur mal so geschrieben. Und da wundern sich die Leute, dass die Sprachkenntnisse von Kindern abnehmen?
Ich sitze nicht hier, um zu jammern. Ich sitze hier, um mir Zusammenhänge bewusst zu machen. Und natürlich soll das auch Konsequenzen haben. Ein Beispiel: Ich mache mir seit gestern täglich ganz kurze Notizen für mein Tagebuch, und abends nehme ich mir 20 Minuten und schreibe es auf, nicht in Stichpunkten, sondern in einem formulierten Text, in dem ich trotz der späten Stunde und der Müdigkeit meine Gedanken und Gefühle unterbringen will. Gestern habe ich eine halbe Stunde gebraucht, um meine Notizen ins Reine zu schreiben. Ich fürchte schon, dass ich die nicht jeden Tag haben werde, aber ich werde es probieren, solange es geht.
Internet ist ein Segen, solange es frei, unzensiert und unkommerzialisiert ist. Aber es braucht wohl eine Weile, bis wir lernen, damit umzugehen.
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