Wenn einem am Beginn eines Kommentars oder Blogeintrages die Worte fehlen, so ist das schlecht für den zu schreibenden Text. Andererseits hebt man sich damit wohltuend ab vom Geschrei mancher Politiker und sogenannter Terrorexperten. Der Journalist Stefan Niggemeier von der FAZ brachte es auf den Punkt: „Wer solche Experten hat, braucht keine Laien mehr.“
Ansonsten möchte ich erst einmal zugeben, wie geschockt und entsetzt ich über die Anschläge in Norwegen vom letzten Freitag war und immer noch bin. Und bevor ich mich den schmerzlichen aber notwendigen Schuldzuweisungen widme, bevor die Politik wieder Einzug hält in auch diesen Text, möchte ich sagen, wie sehr ich mit den Familien der Toten fühle. Viele von ihnen waren Jugendliche, die ein politisches Feriencamp auf einer kleinen Insel besuchen wollten, junge, idealistische Menschen, die noch daran glaubten, dass die Zukunft sich in einer Demokratie mitgestalten lässt. Und jetzt sind viele von ihnen tot, andere ein Leben lang gezeichnet, und die Familien und Freunde bleiben mit dem Schock, der Angst und der Trauer zurück, herausgerissen aus ihrem normalen, menschlichen Alltag mit ihren normalen, menschlichen Sorgen. Vor dieser Trauer hat jede politik erst einmal zu schweigen.
Und dann möchte ich sagen, wie es mir letzten Freitag erging, als ich gegen 15:50 Uhr die ersten Meldungen von einer Bombenexplosion in der Innenstadt von Oslo erhielt. Sie kamen über Twitter, und zunächst wusste niemand, was geschehen war. Doch als sich die Vermutung verdichtete, es könne sich um einen Terroranschlag handeln, hatte ich nur einen Gedanken: „Bitte kein islamistischer Anschlag.“ Auch dieser Gedanke war ein Reflex, einer, für den ich mich schäme, weil die Politik schneller in meinen Gedanken war als die furchtbare Tragödie für die Menschen in der norwegischen Hauptstadt. Es zeigt aber, wie sehr der Anti-Terror-Wahn nach 10 Jahren unser Denken und Fühlen beherrscht, oder die reflexhafte Ablehnung dieses Wahns in meinem Falle.
Sofort nach der Bombenexplosion in Oslo, und noch bevor Anders Behring Breivik, der mutmaßliche und bereits geständige Attentäter, auf der Insel Utøya 86 Menschen kaltblütig ermordete, meldeten sich die seit 9 Jahren für die Medien ständig verfügbaren Terrorexperten zu Wort. Man müsse die Ermittlungen abwarten, sagten sie, um dann im nächsten Atemzug doch die unvermeidlichen Worte „al qaida“ auszusprechen. Es war das übliche Szenario des Sensationsjournalismus und der eingleisigen Politik.
Dabei sind die grausige Bluttat und der Attentäter selbst ein Schlag ins Gesicht eben jener Terrorexperten, fanatischen Sicherheitspolitiker und Musterdemokraten, die die Demokratie abschaffen wollen, um sie zu schützen. Anders Behring Breivik ist ein rechtsextremer, christlicher Fundamentalist, der sich seit 9 Jahren auf seine Taten vorbereitet hat und seine Weltsicht in einem Manifest von 1516 Seiten Länge im Internet veröffentlicht hat, angefüllt mit dem Tagebuch zur Vorbereitung der Anschläge und mit seinen Hasstiraden gegen Moslems, sogenannte Kulturmarxisten und Linke. Dieser Massenmörder ist praktisch ein Produkt des gesellschaftlichen Klimas nach dem 11. September 2001. Und hier in Deutschland erdreisten sich nun konservative Politiker, die Bluttaten von Oslo dazu zu benutzen, um die Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen und den Bürger mehr und mehr zu überwachen und seine persönliche Freiheit mehr und mehr einzuschränken. Im Klartext heißt das: Anstatt mehr Toleranz und Partizipation zu fördern schaffen diese Anti-Terror-Politiker zunächst ein gesellschaftliches Klima voller Hass und Misstrauen, und wenn es dann zu der von ihnen hervorgerufenen Explosion kommt, rufen sie, als hätten sich ihre Befürchtungen im Bezug auf den islamischen Terror bewahrheitet, nach noch strengeren Gesetzen. Das ist pervers und widersinnig.
Die Wahrheit ist doch: Im letzten Jahr gab es weltweit rund 250 terroristische Anschläge. Nur 3 davon sind eindeutig einem islamischen Hintergrund zuzurechnen. Das ist rund 1 %, nicht mehr. Das bedeutet zwar nicht, dass es den islamischen Terrorismus nicht gibt, und es bedeutet erst recht nicht, dass es keinen Fundamentalismus gibt, aber es zeigt, dass es diesen Fundamentalismus und Terrorismus auch im Christentum gibt, und dass er auch in unseren ach so toleranten Demokratien einen Nährboden findet, wenn Menschenrechte und Toleranz eingeschränkt werden.
Nun möchte ich nicht so verstanden werden, als wären die Politiker und die Anti-Terror-Gesetze die einzigen Schuldigen dieser Bluttaten. Damit macht man es sich zu einfach. Ich stelle lediglich fest, dass auf die seit vielen Jahren bekannte Weise auf politischer Ebene reagiert wird, und ich glaube, dass ein bestimmtes Gesellschaftsklima Verhaltensweisen bei einem Menschen fördern kann, die sonst vielleicht nicht so kräftig zum Ausdruck gekommen wären. Der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg hat denn auch in für mich unerwartet weitsichtiger Art und Weise den ewigen Kreislauf des geistigen Hochrüstens, der auch durch die Medien stark angefacht wird, durchbrochen. Auf die Frage nach den Maßnahmen seiner Regierung antwortete er, dass man sich in Norwegen die Offenheit, Toleranz und Diskussionsbereitschaft nicht kaputt machen lassen werde, und dass seine Antwort die Verstärkung der Bemühungen um Demokratie und Integration sei. Ganz anders deutsche Politiker, die die Morde zum Anlass für die Verschärfung der Sicherheitsgesetze nehmen. Ein durchaus bekannter ehemaliger sozialdemokratischer Medienpolitiker fasste es in einem treffenden Satz zusammen: „Während Norwegen um die Opfer von Rechts trauert, fordern die Rechten in Deutschland den Überwachungsstaat.“
Natürlich ist es ein Unsinn zu glauben, es gäbe ein Allheilmittel gegen politischen Radikalismus oder jene Art von Geistesgestörtheit, die man nicht in psychiatrischen Anstalten behandeln kann. Solange es Menschen gibt, wird es Radikale geben. Noch so viele gesellschaftliche Veränderungen und Anpassungen werden daran nichts ändern. Und nicht nur die Politiker sind schuld, auch die Medien schüren Hass und Gewalt durch ihre Vereinfachungen und die Gier nach Sensationen. Gerade in den letzten Jahren haben sie den Blick für mögliche Gewaltquellen allzusehr auf den islamischen Fundamentalismus verengt und die Gefahr des Fundamentalismus im eigenen Land völlig außer acht gelassen.
Meiner Meinung nach ist jetzt nicht die Zeit, über härtere Gesetze zu spekulieren, auch wenn es bestimmten Kreisen sehr entgegenkommt. Jetzt ist die Zeit, zu Trauern, die Familien zu trösten, inne zu halten und überhaupt erst einmal zu begreifen, was geschehen ist und welche Folgen es hat. Folgen im eigenen Gefühl, in der eigenen Wahrnehmung. Erst dann, wenn man die persönliche Angst überwunden hat, kann man klar darüber nachdenken, wie wenig die Verschärfung von Sicherheitsgesetzen wirklich nützt, dass es selbst und gerade in Polizeistaaten mit sehr scharfen Gesetzen Terroranschläge gibt, und dass nur ein offenes Klima wenigstens die Chance bietet, Tendenzen zum frühest möglichen Zeitpunkt zu erkennen.
Ein paar nützliche Links: