Wenn das kleine Finale der Weihnachtszeit, also der Nikolaustag, endlich gekommen ist, freuen sich viele Kinder auf die ersten Geschenke. Ich selbst habe viel länger an den Nikolaus als an das Christkind geglaubt. Der Grund dafür war einfach.
Als ich noch ganz klein war, feierte unsere Dorfgemeinschaft Jahr für Jahr eine Kindernikolausfeier auf unserer Kegelbahn, wo alle Ereignisse von Bedeutung in unserer kleinen Welt stattfanden. Meine Mutter und ich zogen uns nachmittags unsere Jacken an und gingen die kurze Strecke zu dem Versammlungshaus ein wenig den Berg hinunter. Dort waren schon einige andere Kinder mit ihren Müttern oder großen Geschwistern versammelt. Ich weiß nicht mehr, wie diese Feier ablief, ich weiß nur noch, dass ich sie langweilig fand. Ich glaube, es wurden kleine Filme gezeigt, und ganz selten kam wohl auch ein Nikolaus und fragte uns, ob wir denn auch alle artig gewesen waren. Dann gingen wir wieder nach hause. Die eigentliche Bescherung, das wusste ich, kam erst jetzt. Es war schon tief dunkel, in den Fenstern und teilweise vor den Häusern konnte man die Tannenbäume leuchten sehen, der Weg war still.
In unserer Küche angekommen wartete ich mit unendlicher Spannung auf den Nikolaus. Ich muss meiner Mutter ziemlich auf den Nerv gegangen sein. Plötzlich ertönte unsere Klingel. Ich sprang auf, aber meine Mutter war schneller.
„Ah, jetzt kommt der Nikolaus“, sagte sie. Schwere Schritte kamen die wenigen Stufen hinauf, und der heilige Mann blieb in der Tür stehen. Manchmal fragte er mich, ob ich brav war oder ob ich ein Gedicht aufsagen konnte. Die Stimme war immer ganz seltsam, man hörte förmlich, dass der Mund des Mannes von seinem langen Bart verdeckt wurde, jedenfalls klang er immer dumpf. Folgsam sagte ich mein Gedicht auf, und dann schüttete der Nikolaus, immer noch in der Küchentür stehend, Süßigkeiten aus seinem Sack in die Küche auf den Fußboden. Ich sammelte sie auf, so schnell ich konnte. Das war es. Ohne ein weiteres Wort, so glaube ich heute, ging der Nikolaus wieder weg. Aber ich hatte keinen Zweifel, dass er tatsächlich in unserer Tür gestanden hatte. Also musste es ihn doch auch wirklich geben?
Einige Jahre später in der Schule hatte ich eigentlich schon beschlossen, dass es keinen Nikolaus gab. Aber da geschah etwas, was mich ins Wanken brachte. Am Abend des Nikolaustages wurden wir alle von unserer Erzieherin in den Aufenthaltsraum gerufen. Ein Mann saß am Tisch und wartete auf uns. Er sei der heilige Nikolaus, stellte er sich vor, und erzählte, dass er der Bischof von Myra sei, und dass er jedes Jahr ausziehe, um die guten Kinder zu beschenken und denen ins Gewissen zu reden, die den rechten Pfad zu verlassen drohten. Er war ein freundlicher Mann. Jeder von uns wurde einzeln zu ihm gerufen, nachdem wir ein paar Lieder gemeinsam gesungen hatten. Der Nikolaus zeigte jedem von uns sein schweres, in Gold eingefasstes Buch, in dem er unser Verhalten des letzten Jahres aufgeschrieben hatte. Und tatsächlich: Er wusste einiges über uns. Im Großen und Ganzen war er ein freundlicher, manchmal sogar humorvoller Mann. Er wollte auch immer unbedingt von uns hören, was wir zu seinen Vorhaltungen zu sagen hatten, er ermunterte uns, die Sache aus unserer Sicht zu schildern. Ich fand ihn sehr sympathisch, ein heiliger Mann, dessen Wünschen man gern nach kam. Als ich vor ihm stand, fragte ich ihn, was denn genau ein Bischof sei. Er erklärte es mir und reichte mir dann seinen Bischofsstab. „Halt ihn fest, während ich in meinem Buch nachschlage, was ich dir zu sagen habe“, sagte er. Der Stab war größer als ich, und er war schwer. Er sei das Zeichen seines Amtes, erklärte der Nikolaus auf Nachfrage. Ich fand, der Stab sei unhandlich, aber er war schwer, groß und aus Holz, und er verlieh diesem Mann eine gewisse Autorität, zumindest in meinen Augen. Dieser Abend war mit Sicherheit die intensivste Nikolausfeier meines Lebens, abgesehen von der vielleicht, die ich vor 22 Jahren für meinen Freundeskreis selbst als Nikolaus ausrichtete. Die war größtenteils auch sehr lustig, und auch ich hatte ein goldenes Buch, in dem ich die Untaten meiner Freunde vermerkt habe.
Nicht immer ging das Nikolausfest aber so friedlich zu. Im Jahre 1952 zum Beispiel hatte mein Onkel Alfred, der damals 9 Jahre alt war, eine besondere Begegnung mit dem heiligen Bischof. Es war die schwierige Nachkriegszeit, und mein Onkel war ein schwieriges Kind. Er war faul, frech und unverschämt, und es ist seine eigene Selbstdarstellung, die ich hier wiedergebe. Meine Großeltern ließen sich etwas Besonderes einfallen. Auch sie bestellten einen verkleideten Nikolaus, ihren künftigen Schwiegersohn Wolfgang nämlich. Der las dem Jungen Alfred die Leviten. Auch dem Nikolaus gegenüber, so erzählt es die Familienlegende, soll Alfred noch frech gewesen sein. Da packte ihn der heilige Mann und stopfte ihn in seinen Sack, band diesen Zu, packte ihn sich auf den Rücken und verließ das Haus. Mein Onkel muss einen gehörigen Schrecken bekommen haben. Erst soll er noch gemotzt haben, dann soll er etwas kleinlaut geworden sein, als die Beiden sich aus der Siedlung entfernten und an der Hauptstraße ankamen. Schließlich versprach er dem Nikolaus, sich im kommenden Jahr zu bessern. Der heilige Mann entließ den Jungen aus dem Sack, ließ sich das Versprechen in die Hand geben und schickte meinen Onkel dann zurück nach hause. Diese Nikolausfeier hat sich wohl einen bleibenden Platz in den Annalen unserer Familie errungen.