Dieses Jahr soll das große Jahr der weltweiten Protestbewegung sein, „echte Demokratie Jetzt“ und „occupy“ sollen, inzwischen zu Schlagworten aufgestiegen, auch in Deutschland Fuß fassen. Auch und gerade, wenn die derzeitigen Teilnehmerzahlen sinken, sagen ihre Aktivisten.
Auf Twitter habe ich mich mit der Stimme des deutschen Attac-Netzwerkes angelegt, einer der Organisationen, die die Occupy-Bewegung in Deutschland unterstützen und koordinieren. Vehement wehrte man sich dort gegen einen zugegeben sehr kritischen und Schnoddrigen Kommentar in der TAZ, in dem der für den 15. Januar ausgerufene weltweite Protesttag als rein deutsche Angelegenheit demaskiert wurde. Doch auf das Prädikat „internationaler Protesttag“ seien sogar die Medien herein gefallen, schrieb die TAZ, und es fiel der Begriff „Schwarmdummheit“. Ich selbst habe den Kommentar als das gesehen, was er war: Ein durch die Meinungsfreiheit gedeckter Zwischenruf eines Einzelnen. Die Meinung des Kommentators spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung des veröffentlichenden Blattes wieder. Von der „Axt an der Wurzel der Bewegung“ wetterten hingegen die Attac-Koordinatoren und präsentierten sich leider weder gelassen, noch professionell. Zumal man den Fakten des Kommentars nicht einmal widersprach, ja kaum widersprechen konnte. Dieser Protesttag ist und bleibt keine große internationale Demonstration als Startschuss für eine neue weltweite Campagne, sondern eine hauptsächlich deutsche Aktion, um über den Winter zu kommen. Das ist legitim, aber man sollte dann auch die Wahrheit sagen. Schon in Spanien, im Mai 2011, wo alles begann, habe ich festgestellt, dass sich die Demonstranten durch Twitter und Facebook gern etwas größer machten, als sie damals tatsächlich waren. Auch das ist verständlich, wenn man weiß, dass die großen Medien überall auf der Welt die Proteste verschwiegen haben. Doch von einer großen Revolution, die die Regierung und das Königshaus binnen weniger Tage hinweg fegen würde, war entgegen der Schlagworte nichts zu sehen und zu hören. Diese Kritik müssen die Okkupanten aushalten können, ohne gleich die Axt an der Wurzel der Bewegung zu bemühen.
Doch von Gelassenheit war bei der Attac-Stimme nichts zu spüren. Ich bedauerte den Streit zwischen Bewegung und TAZ, wo man doch viel besser an einem Strang ziehen könnte. Daraufhin wurde mir vorgeworfen, ich säße nur auf meinem eigenen Sofa und lasse andere für meine Rechte kämpfen. Die Kritikfähigkeit ist auf den Nullpunkt gesunken. Vielleicht deshalb, weil viel weniger Menschen am Sonntag zu den Protestkundgebungen erschienen, als die Organisatoren erwartet und erhofft hatten? Waren es im Oktober rund 50.000 in Deutschland, so kann man von Glück sagen, wenn am 15. Januar noch 10.000 Menschen tatsächlich auf die Straße gingen. Wie schlimm das ist, wird die Zukunft zeigen, denn möglicherweise bildet die Aktivität während der Demonstrationen selbst keinen Adäquaten Gradmesser für die Schlagkraft der bewegung mehr, die sich in vielen interessanten Basisgruppen organisiert. Vielleicht aber läuft sich der von den Medien inzwischen vorübergehend dankbar aufgegriffene Hype um „Occupy“ auch bald wieder tot, und vielleicht ist das so gewollt.
„Wir brauchen Occupy-Plus“, sagte ein Teilnehmer der Aktionen am vergangenen Sonntag, und ein anderer trotzig: „2012 wird das Jahr der Freidenker“. Das ist eine gute Nachricht, wenn sie denn zur Wahrheit wird. Denn was bislang die Menschen an der neuen Bewegung faszinierte und anzog, diese herrliche Unbestimmtheit und Beliebigkeit in den Zielen, das könnte nun bald zum Verlust eines Wiedererkennungswertes und Profils führen, den eine politische Bewegung braucht. Meiner Ansicht nach wäre es schon ein großer Fortschritt, wenn die Idee dieser Bewegung das Jahr überleben würde. Wenn es gelingt, eine feste, vielleicht auch relativ kleine Gruppe zusammen zu halten, die in der Lage ist, durch basisdemokratische Arbeit Konzepte für die Zukunft zu entwickeln, dann muss es ja nicht unbedingt die Weltrevolution sein, die hier und heute ausbrechen muss.
Das Beste an „Echte Demokratie Jetzt“ und „Occupy“ sei die neue Form der Kommunikation, des gegenseitigen Umgangs, sagte mir einer ihrer im Internet profiliertesten Akteure vor einigen Wochen. Das hat mich überzeugt und begeistert. Er sprach davon, die Konfrontationsmechanismen bei politischen Auseinandersetzungen zu überwinden und zu einer sachlichen Analyse zu kommen, zu einem stärkeren Miteinander statt eines Gegeneinanders. Das ist sogar noch wichtiger, als ein Programm auszuarbeiten. Allein wegen dieser Ideen, die teilweise auch schon konsequent umgesetzt werden, sollte die Bewegung überleben. Sie ist ja nicht die erste, die nach euphorischem Beginn einen rapiden Schwund zu verzeichnen hat. Im März 2011 gingen allein in meiner Heimatstadt Marburg rund 1000 Menschen gegen Atomkraft auf die Straße, das war wenige Wochen nach der Katastrophe in Fukushima. Am 11. Juli, 4 Monate nach der Atomkatastrophe, waren es noch ganze 6 Menschen. Christian Wulff hat sowohl die Occupy-Bewegung als auch die sogenannte zwickauer Terrorzelle aus dem öffentlichen Gedächtnis vertrieben.
Ob 2012 das Jahr der Freidenker wird, weiß ich nicht, aber ich wage es zu bezweifeln. Natürlich wird dieses Jahr der Freidenker kommen, aber dass es bereits 2012 so weit ist, glaube ich nicht. 2011 war ein Anfang. Ein Anfang, der ein zartes Pflänzchen hervor gebracht hat. Ein Pflänzchen, das mit alten und überkommenen politischen Mechanismen und Zielen brechen will. Nach der Euphorie der ersten Stunde stellen nun alle fest, dass eben das nicht so einfach ist und Zeit braucht. Nicht nur die, die die Proteste organisieren und Koordinieren, müssen sich umgewöhnen, sondern auch die Menschen, die sich dem Protest anschließen und in ihm ein hoffnungsvolles Zeichen für eine bessere Zukunft sehen sollen. Man wird konkrete Forderungen brauchen, denen sich so viele Menschen anschließen, dass die Regierenden und die Macht habenden sie nicht ignorieren können. Das kann man mit revolutionärem Eifer versuchen, doch nachher muss man oft feststellen, dass die politischen Sachzwänge und Verlockungen für die neue Führung gleich geblieben sind. Was hingegen meiner Ansicht nach mehr Erfolg verspricht, aber wesentlich länger braucht, ist eine politisch-soziale Evolution, eine Entwicklung, ein neues Verständnis von Politik, Wirtschaft, Macht und gesellschaftlichen Zusammenhängen und Umgangsformen. Wenn dies das Ziel der neuen Bewegungen ist, die sich in der Ablehnung des Ausverkaufs des Gemeineigentums an eine Bande raffgieriger Finanzspekulanten zusammengefunden haben, dann muss man weder heute, noch morgen Wunder erwarten. Dann kann man sich über den aktuellen Protest hinaus die Zeit nehmen, langsame, aber unumkehrbare und von der kurzfristigen Aufmerksamkeit der Medien unabhängige Veränderungen einzuleiten. Nachhaltige Veränderungen, um ein weiteres Modewort zu gebrauchen. Der Umgang mit Kritik und differierenden Meinungen ist da sicher ein guter Anfang.
„Banken in die Schranken“! und „echte Demokratie jetzt!“, denn „Wir sind die 99 %!“