2012, so sagte es vor einem Jahr einer der Aktivisten der Bewegung „Echte Demokratie jetzt“, sollte das Jahr der Freidenker werden. Am Ende dieses Jahres können wir froh sein, wenn wenigstens die Freibeuter es überleben.
Bernd Schlömer, der Vorsitzende der Piratenpartei, der kaum eine Meinung äußern darf, dürfte sich derzeit die Haare raufen. Was er und seine Piraten auch anfangen, es läuft verkehrt. Da beweisen sie den Medien, die in letzter Zeit auf die politischen Newcomer eingedroschen haben, als gelte es, eine hamburgische Kogge zu entern und die Besatzung niederzuhauen, dass sie in der Lage sind, politische Sacharbeitt zu leisten und den chronischen Führungsstreit in der Partei zumindest für ein Wochenende vergessen zu machen, schon attestieren dieselben Medien ihnen, sie könnten sich nur auf weichgespülte Inhalte einigen, man erkenne kein inhaltlich knackiges Konzept, das Chaos habe man mit Floskeln vertauscht, und die Piraten lösten ihr einzig wahres Großversprechen nach politischer Mitbestimmung aller Mitglieder nicht ein. So, bescheinigen die Medien den Piraten, kämen sie nicht aus der wahltaktischen Flaute vor den Wind.
Natürlich haben sie recht, vor allem, weil sie es selbst sind, die das Wetter erheblich mitbestimmen und dafür sorgen, dass die Piratenpartei derzeit wie einst Agamemnons Flotte vor Aulis vor Anker liegt. Seit Monaten predigen sie die Notwendigkeit eines Parteiprogramms, durch welches sie die Piraten mit den anderen Parteien vergleichen können. Dabei ist völlig klar, dass mit der Erarbeitung eines ebenso langweiligen wie verfloskelten Parteiprogramms normaler Prägung die Piraten viel von ihrer Einzigartigkeit und Wählbarkeit für die unzufriedenen Bürger neuen Typs verlieren würden. Darum dürften die tatsächlich ausnehmend faden und nichtssagenden Beschlüsse des bochumer Parteitages nicht viel zur Beendigung der Flaute beitragen. Es sind Beschlüsse, mit denen sich fast jeder einverstanden erklären kann. Erwähnenswert ist höchstens der Abschied von der Vollbeschäftigung als Ziel, ein wirtschaftspolitischer Grundsatz, der einigen Realismus erkennen lässt. Doch die daraus unmittelbar resultierende Frage, wie das Verhältnis von Markt und Staat künftig aussehen soll, beantworten die Piraten nicht. Müssen sie vielleicht auch nicht, denn wer könnte von ihnen erwarten, plötzlich und aus heiterem Himmel noch nie gedachte Gedanken zu denken und hieb- und stichfest zu formulieren?
Kaum lösbar ist für die junge Partei sicher auch das Kompetenzproblem. Solange keine Bundestagswahl ansteht, mag man eine chaotische Opposition, die erst einmal durch ihr Auftreten punktet, weil sie die verknöcherten Politstrukturen aufmischt und die Bürger direkt anspricht. Doch je näher die Wahl dann rückt, desto mehr „Kompetenz“ in lebenswichtigen Fragen wird von der Partei verlangt, wenn man sie wählen soll. Und diese „Kompetenz“ bringen vielleicht Fachpolitiker mit, aber keine computerisierten Jungspunde, die fast nie die Sonne sehen. Dabei ist bei den Piraten durchaus Kompetenz zu finden, nur unterwerfen sie sich nicht den üblichen Profilierungsmechanismen, was so manchen kompetenten Kopf zumindest vorübergehend in die zweite Reihe verbannt.
Und schließlich scheitern die Piraten an ihrem ureigensten Kernthema, der Transparenz und der Basisdemokratie. Die nämlich kann nur funktionieren, wenn sie auch genutzt wird. Doch das Onlinesystem „liquid feedback“, mit dem die Piraten ihre Parteitage vorbereiten und online debattieren, wird immer seltener frequentiert, nur wenige Mitglieder beteiligen sich rege an den neuen Mitbestimmungsmöglichkeiten. Vielleicht ist das der Grund, dass es repräsentative Demokratie überhaupt gibt, dass die Bürger sich gar nicht selbst beteiligen wollen, sondern die Position des ewigen Nörglers, der ja von „denen da oben“ nicht beteiligt wird, viel komfortabler finden als eine Position, in der sie wirklich stetig für das funktionieren eines demokratischen Systems arbeiten müssten. Es ist den Piraten also nur unzureichend gelungen, die Bürger zur kontinuierlichen Mitarbeit zu bewegen. Und wenn mangelnde Bürgerbeteiligung nicht die Ursache vieler Übel wie der Politikverdrossenheit von Bürgern ist, dann verlieren die politischen Freibeuter einen Teil ihrer Daseinsberechtigung. Wenn der Standardbürger das Internet zum Chatten und Spielen und zum Einkaufen nutzen will, seine Beteiligungsmöglichkeiten und Informationschancen aber nicht erhöht, dann braucht es die Piraten nicht, dann sind wir alle selbst schuld.
Geben sich die Piraten ein Parteiprogramm, das sich nicht wesentlich von den Grundsätzen anderer Parteien unterscheidet, werden sie vermutlich schnell vergessen sein. Oder sie teilen das Schicksal der Grünen und landen als angepasste Partei im Einheitsbrei unseres politischen Spektrums. Als dauerhaft erneuernde Kraft können sie wohl nur überleben, wenn sie ohne jede Angst die drängenden sozialen und wirtschaftspolitischen Fragen aufgreifen und Antworten geben, die die anderen Parteien nicht im Angebot haben, wie es vor 150 Jahren die SPD tat.