Noch einmal Vergewaltigungskultur: Das Urteil von Essen

Vor ein paar Monaten habe ich über die Vergewaltigungskultur geschrieben, in der wir leben. Eine Kultur, die den meist weiblichen Opfern sexueller Gewalt die Verantwortung für ihr Schicksal und die Prävention praktisch allein aufbürdet, und die es nicht schafft, männliche sexualisierte Gewalt zu unterbinden, weil sie im besten Falle als unvermeidlich, im schlimmsten Falle als Ausdruck zupackenden Begehrens angesehen wird. Diese Geringschätzung der Opfer sexueller Gewalt geht, wie ich neulich feststellen musste, bis weit in den Bereich der Gesetze hinein, bis ins Strafrecht, ja bis zur Definition und Auslegung des Straftatbestandes der Vergewaltigung selbst.

Im September 2012 sprach das Landgericht Essen einen Mann frei, der wegen Vergewaltigung angeklagt war. Im Sommer 2009 hatte er mit drei Frauen einen gemeinsamen Abend in seiner Wohnung verbracht: mit seiner Lebensgefährtin, einer Prostituierten und einem 15jährigen Mädchen. Alle nahmen Alkohol zu sich, es wurde auch Hasch geraucht. Kurz vor dem Schlafengehen schickte der Mann seine Lebensgefährtin und die Prostituierte in den Keller, sie gehorchten widerspruchslos, er galt als sehr jähzornig und gewaltbereit. Danach nahm er gegen den Willen des Opfers qualifizierte ssexuelle Handlungen an dem 15jährigen Mädchen vor. Schon die Sprache verlässt mich, zwingt mich zum Juristendeutsch, weil alle üblicherweise genutzten Formulierungen die Verharmlosung in sich tragen. Jedenfalls hat das Mädchen eindeutig seine Ablehnung verbal bekundet, sich aber nicht körperlich gewehrt. Immerhin hat sie später Anzeige gegen den Mann erstattet. Der sitzt übrigens bereits im Gefängnis, weil er am selben Abend die Prostituierte zusammengeschlagen hat. Er wurde wegen schwerer Körperverletzung verurteilt.

Wie gesagt: Der Mann ist freigesprochen worden. Alle Beteiligten, sogar der Anwalt des Mädchens, hielten den Urteilsspruch für richtig. Wie kann so etwas geschehen?

Nach § 177 des Strafgesetzbuches liegt eine Vergewaltigung vor, wenn der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen vornimmt oder vom Opfer an sich oder einem dritten vornehmen lässt. Wichtig dabei ist, dass er das Opfer „mit Gewalt“, „durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ oder „unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist“, zu sexuellen Handlungen nötigt. Die erklärte Ablehnung des Opfers reicht also als Tatbestandsvoraussetzung für eine Vergewaltigung nicht aus. Für unseren Fall ist nur der letzte Punkt wichtig. Das Gericht musste klären, ob sich das Opfer in einer schutzlosen Lage gegenüber dem Täter befand. Nein, sagt das Gericht, die junge Frau hätte um Hilfe rufen oder weglaufen können, die Türen der Wohnung seien nicht verschlossen gewesen, im Haus hätten noch andere Menschen gewohnt. Eine schutzlose Lage konnten die Richterinnen und Richter nicht erkennen.

Mir fehlen die Worte. Der Täter sitzt im Gefängnis, weil er noch am selben Abend eine Frau zusammengeschlagen hat. Er war als gewaltbereit und Aggressiv bekannt. Und das Mädchen befand sich nicht in einer schutzlosen Lage? Hätte sie den Mut aufgebracht, um Hilfe zu rufen, wäre keineswegs sicher gewesen, dass in der heutigen Zeit Nachbarn irgendetwas unternommen hätten. Und wie oft hätte sie rufen können, bevor sie mit Gewalt zum Schweigen gebracht worden wäre? Außerdem: Wie hätte eine 15jährige junge Frau weglaufen sollen, sich wehren gegen einen kräftigen 31jährigen Mann?

Juristen im ganzen Land sagen, das Urteil sei rechtlich in Ordnung gewesen. Einige sagen sogar, dass Nichtjuristen das nicht verstehen können. Wenn es zutrifft, dass dieses Urteil gesetzlich korrekt war, dass also mit einer schutzlosen Lage im Sinne des Gesetzes nicht gemeint war, einem aggressiven, gewaltbereiten, starken Mann ausgeliefert zu sein und bei Gegenwehr Angst um Leib und Leben und vor der Ignoranz der Nachbarschaft zu haben, dann ist das Gesetz, oder zumindest seine Auslegung, ein Teil der Kumpanei der Männer, die Frauen immer noch als Freiwild, als Besitz, als Schmuck, als Vergnügungsinstrument betrachten, das sie mit ganzer Kraft und jederzeit begehren dürfen. Soll sie sich doch bitte geschmeichelt fühlen. Dann haben wir also ein Gesetz, dass noch immer, trotz aller Reformen, eine ungleichbehandlung zementiert, zumindest in der Auslegung, wenn auch nicht im Wortlaut. Und warum? Weil diese Ungleichbehandlung verdammt noch mal in unseren Köpfen nicht auszumerrzen ist! Weil sie Teil unseres Lebens, unserer Kultur ist, weil wir sie als normales Hintergrundrauschen gar nicht mehr wahrnehmen! Bis vor 20 Jahren konnte eine Vergewaltigung in der Ehe im schlimmsten Fall in manchen Ländern West- und Mitteleuropas als Ungehorsam der Frau interpretiert werden, weil sie sich wehrte und damit ihren ehelichen Pflichten nicht nachgekommen ist. In den Niederlanden wurde das entsprechende Gesetz beispielsweise erst 1991 geändert. Und strafbar ist die Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland erst seit 1997. Und wir halten uns für eine aufgeklärte und zivilisierte Gesellschaft, die nach Gleichberechtigung der Geschlechter strebt?

Man kann noch so laut nach einer Strafrechtsreform rufen, wie es Frauenverbände verständlicherweise nach dem Urteil getan haben. Doch die Strafrechtsreform allein wird nichts nützen. Und eine Mentalitätsveränderung lässt sich nun einmal nicht einklagen. Ganz offen sprechen sich manche Männer gegen eine rechtliche Veränderung aus, die der Aussage des Opfers mehr Gewicht geben würde. Man könne sich ja dann als Mann überhaupt nicht mehr frei entfalten, sagen sie, man müsse immer mit einer falschen Anschuldigung rechnen, gegen die man sich nicht wehren könne, befürchten sie. Ach wie sehr sie mir leid tun. Die Männer, die Vergewaltigung in all ihren Facetten als Verbrechen betrachten, hätten sicher nichts gegen die Strafrechtsreform. Aber wie gesagt, mit ihr allein ist nichts gewonnen.

Solange wir in einer Kultur leben, die im Widerspruch einer Frau gegen sexuelle Übergriffe häufig einen Ansporn zu sogenannter „gesunder Männlichkeit“ sieht, solange kann uns das Urteil und die Auslegungen von Essen nicht verwundern. Sexuelle Gewalt wird es immer geben, sie ist vermutlich nicht auszurotten. Für mich ist wichtig, wie wir sie betrachten. Sexuelle Gewalt ist ein Verbrechen, ganz gleich ob sie von Frauen oder von Männern, gegen Personen des eigenen oder des anderen Geschlechts, gegen erwachsene oder gegen Kinder ausgeübt wird. Wir müssen sie ächten, sie ist keine Übersprungshandlung im Rausch des Begehrens, sie ist Gewalt, grausam, unmenschlich, zerstörerisch. Das müssen wir verinnerlichen. Dann, wenn alle, Kinder, Frauen und Männer, in unseren Köpfen zu Menschen geworden sind, Menschen wie wir selbst, dann haben wir vielleicht eine Chance, dass solche Urteile wie in Essen nicht mehr vorkommen. Bis dahin bleibt uns nur unser eigenes persönliches Vorbild; Jedem von uns.

 

Eine Kolumne der Taz, die mich auf das Thema aufmerksam machte

Ein ausführlicher Artikel des Spiegel

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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