Seit Jahren führen behinderte Menschen und ihre Freunde in Deutschland die „UN-Behindertenrechtskonvention“ mit ihrer Forderung nach „Inklusion“ statt „Integration“ und ihren weitgehenden Vorstellungen zum Schutze behinderter Menschen vor Diskriminierung als geflügelte Worte im Munde. Selbst die Gegner einer modernen Behindertenpolitik und -Gleichstellung versprechen eilfertig, die „Inklusion“ fördern und Menschen mit Behinderung gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben lassen zu wollen. Vorbild für all diese Bestrebungen waren immer die USA, für viele Aktivisten der Behindertenbewegung ein Land, in dem Milch und Honig fließt. – Bis letzten Dienstag.
Am 4. Dezember 2012, einen Tag nach dem internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen, lehnte der US-Senat die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ab. Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe, und in Europa reibt man sich verwundert die Augen. Wie bitte ist das möglich? Seit über 20 Jahren gelten die USA als Vorbild in der Behindertenpolitik. Schon 1990 verabschiedeten sie mit dem „Americans with disabilities Act“, kurz „ADA“, ein Gesetz zum Schutze behinderter Menschen vor Diskriminierung. Seither müssen öffentliche Einrichtungen zugänglich sein, muss der Zugang zu einer Wohnung und einer Jobvermittlung gewährleistet werden, muss für behinderte Reisende in jedem öffentlichen Verkehrsmittel Platz zur Verfügung stehen. Deutsche Aktivistinnen und Aktivisten besuchten und besuchen noch heute scharenweise die USA, um vom großen Bruder auf der anderen Seite des Teichs zu lernen, wie man Menschen mit Behinderungen respektvoll behandelt. Dabei übersehen sie oft, dass die zweifellos positiven Maßnahmen ausschließlich für den öffentlichen Raum gelten, nicht für den privaten Rechtsverkehr, und dass jeder einzelne behinderte Mensch beweisen muss, dass er tatsächlich durch eine Behinderung in einer maßgeblichen Lebensaktivität wie Hygiene, Bewegung oder Lebensführung eingeschränkt ist, bevor er sich über Diskriminierung rechtlich beklagen darf. Das einfache Attest eines Arztes genügt in den USA nicht. Trotzdem will ich nicht bestreiten, dass man dort sehr früh und gegen den erbitterten Widerstand religiöser Gruppen und vieler Unternehmer einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen die Diskriminierung behinderter Menschen leistete. Warum also jetzt die völlig unerwartete Ablehnung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen durch den US-Senat?
Es waren die Republikaner, die mit ihrem merheitlichen „nein“ die Ratifizierung der Konvention verhinderten, die eine Zweidrittelmehrheit erfordert hätte. Sie begründeten ihre Ablehnung mit der Befürchtung, die Behindertenrechtskonvention könnte die Souveränität der vereinigten Staaten einschränken. In den USA ist es unter Anderem das unveräußerliche Recht von Eltern, ihre Kinder daheim zu unterrichten, eine echte Schulpflicht besteht nicht. Die Konvention nun will Kindern mit Behinderung einen Zugang zu qualifizierter Bildung ermöglichen. Die Republikaner glauben offenbar, dieser Grundsatz könnte dazu führen, dass UN-Bürokraten darüber entscheiden könnten, was gut für US-amerikanische Kinder mit Behinderung ist und was nicht. Das Recht auf Unterricht durch die Eltern und zuhause halten sie für eine freiheitliche Errungenschaft, nicht etwa für einen Bildungsmangel. Ganz allgemein enthält ihnen die UN-Behindertenrechtskonvention zu viele Maßnahmen des Staates, zu viele Regeln und Einschränkungen persönlicher Freiheit durch staatliche Vorschriften und Gewährleistungen. Staatliche Hilfen widersprechen dem zunehmend radikaleren konservativ-amerikanischen Ethos, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, und zwar genau so, wie Gott ihn auf diese Welt gestellt hat. „Niemand braucht Hilfe vom Staat, denn Gott hat sich schon was dabei gedacht“, ist das extrem formulierte Glaubensbekenntnis dieser moralisierenden und frömmelnden Unternehmerlobby. Es ist beschämend, dass sie diese gesellschaftliche Ausgrenzung und Unterdrückung der Schwächeren der Mehrheit der borniert eingebildeten Amerikaner als Freiheit verkaufen können, genau wie das Recht auf Waffenbesitz und die Ablehnung einer allgemeinen Krankenversicherung. Sie bringen es sogar fertig, dass die Pflicht zur Mitgliedschaft in einer solchen Versicherung dem Durchschnitts-US-Bürger als Eingriff in seine persönliche Freiheit erscheint. Wenn diese Extremform der neokonservativen Ellenbogengesellschaft sich weiter wie ein Krebsgeschwür in die Mitte der amerikanischen Gesellschaft frisst und Wahl für Wahl mehr an Boden gewinnt, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis neben der Krankenversicherung Obamas auch das Antidiskriminierungsgesetz aus dem Jahre 1990 von einer künftigen republikanischen Regierung wieder abgeschafft werden wird. Wie sehr die Situation sich in den letzten Jahren verschärft hat sieht man daran, dass es auch eine republikanische Administration war, die von George Bush Senior nämlich, die das Gesetz überhaupt erst eingeführt hat.
Der Kampf um die Gleichstellung behinderter Menschen wird weitergehen, auch in den USA. Die Demokraten haben bereits angekündigt, die Behindertenrechtskonvention in der kommenden Legislaturperiode erneut vor den Senat zu bringen. Ihr Argument: Die Konvention entstand nach dem Vorbild des „Americans with disabilities act“, also stimmen wir doch nur zu, dass die Welt sich amerikanischen Standards anpasst.
Auch die Demokraten haben ihre verquere Sichtweise auf die Welt.